Homo homini lupus est, wussten schon der römische Autor Titus Maccius Plautus und der britische Philosoph Thomas Hobbes zu berichten. Deborah Sengl (* 1974) nahm diese Charakterisierung des Menschen als Bestie bislang durchaus wörtlich, denn oft ging es in ihren tierischen Objekten ums Tarnen und Täuschen, um die hinterlistige Art des sich Verkleidens aus egoistischen Gründen. In ihrer neuesten Arbeit „Die letzten Tage der Menschheit“ (2013), die noch bis zum 25. Mai 2014 im Essl Museum zu sehen ist, wagt sie sich an die gleichnamige, gewaltige Textvorlage von Karl Kraus. In 44 Szenen, kleinen Dioramen, repräsentieren eine Schar von 174 weißen und 2 schwarzen Ratten die Gesellschaft der untergehenden Habsburgermonarchie. Possierliche Tierchen mit wenigen Requisiten spielen das Theaterstück. Doch wo bleibt die Aktualität?
Österreich / Klosterneuburg: Essl Museum
31.1. - 25.5.2014
Dass das Jahr 2014 von der Erinnerung an den 1. Weltkrieg und seine Folgen für das gesamte 20. Jahrhundert dominiert werden würde, war bereits vor einigen Monaten klar, als Verlage und Museen ihre Jahresprogramme vorstellten. Manfried Rauchensteiner hat im Böhlau Verlag mit seiner 1.222 seitigen Analyse „Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918“ eine allumfassende Aufarbeitung der Militärgeschichte vorgelegt. Eine Reihe von Ausstellungen folgen und drängen damit die Jubiläen um die Todestage von Kaiser Augustus (19. August 13 in Nola bei Neapel) und Kaiser Karl dem Großen (28. Jänner 814 in Aachen) im öffentlichen Bewusstsein Österreichs in den Hintergrund.
Erinnern bedarf großer Anstrengungen, wobei dem Sprechen über die Geschehnisse oder gar dem Heraufbeschwören von Bildern mittels sprachgewaltiger Rede eine wichtige Rolle zukommt. Mit Aleida Assmann lässt sich sagen, dass das „politische Gedächtnis zur Vereinheitlichung und Instrumentalisierung tendiert“, diesem widersetzt sich jedoch das „kulturelle Gedächtnis aufgrund seiner medialen und materiellen Beschaffenheit“1. Zu letzterem zählt zweifelsohne Karl Kraus` Theaterstück „Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog“ (1915–1922) als eines der wichtigsten Anti-Kriegs-Dokumente der österreichischen Literaturgeschichte. Während der Kooperationspartner des Essl-Museums, das Wiener Volkstheater, das Stück auf die Bühne bringt, hat sich Deborah Sengl entschlossen, den Text in die ihr eigene bildhafte bzw. skulpturale Sprache zu übersetzen.
Karl Kraus (1874–1936) hat in seinem epochalen Text die Einstellung seiner Zeitgenossen der Welt, den Mitmenschen und dem Krieg gegenüber in vielen noch so unbedeutend scheinenden Dialogen enthüllt. Bereits in der Einleitung der „Tragödie“ verweist der Autor auf die Authentizität der Gespräche, habe er doch nur das niedergeschrieben, was ihm auf den Straßen, in den Cafés, den Wachstuben etc. zu Ohren gekommen sei. Dass er sich der allgemeinen Kriegseuphorie widersetzte, kennzeichnet seine außergewöhnliche Position innerhalb der Intellektuellen Mitteleuropas, die auf eine „Reinigung“ der ihrer Ansicht nach dekadenten Gesellschaft hofften. Da Kraus vom Kriegsdienst befreit war, konnte er seinen Zeitgenossen genau „aufs Maul schauen“, in den Gazetten und Zeitungen nach Material suchen und seine Weltkriegsanklage auf der unmenschlichen Haltung und den entsprechenden Äußerungen seiner Mitmenschen aufbauen. Noch während der Krieg tobte, veröffentlichte Karl Kraus erste Teile seiner Beobachtungen – oder zumindest das, was ihm die österreichische Zensur in seiner Zeitschrift „Die Fackel“ veröffentlichen ließ.
Das Werk entfaltet eine ungeheure Anziehungskraft, die nicht nur auf dem ungläubigen Staunen über die Kriegseuphorie, die den Kriegsgewinnlern und den Kriegstreibern geschuldet ist, sondern vielfach auf dem Sprachwitz und den mit wenigen Worten gemeißelten Charakterstudien basiert. Anne D. Peiter analysierte vor wenigen Jahren das Theaterstück treffend unter dem Aspekt der Satire und nahm den Autor mit seiner Aussage, Wien wäre ein „tragischer Karneval“ ernst.2 Kraus` Einsatz von Dialekt und Wortwahl entlarvt die geheimen Gedanken und die Schamlosigkeit jener, die aus dem Krieg Kapital schlagen. Die tödliche Gefahr für die Soldaten und ihr Sterben werden im Text konsequent ausgeblendet, stattdessen verwandeln sich die Straßen von Wien in Bühnen, auf denen persönlichen Egoismen und der Unterhaltungslust gefrönt wird, obwohl die Kriegsrhetorik den einheitlichen „Volkskörper“ beschwört. Dessen Merkmal sei ein „Zusammenstehen wie ein Mann“. Der nationale Charakter des Krieges zeigt sich auch in der Überwindung von sozialen Schranken und in der Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen. Die Ironie der Geschichte ist jedoch, dass allen Personen – mit Ausnahme des Autors – die Tragik ihrer Situation völlig entgeht. Dialoge in verschiedensten Dialekten ballen sich zu Situationskomik, das Unsagbare blitzt nur kurz im betretenen Schweigen auf und plötzliche, aus der Luft gegriffene Anschuldigungen können schon mal zu gefährlichen Massenszenen führen. Das Lachen des Publikums reagiert auf die scheinbaren Überzeichnungen der sprachanalysierten Protagonisten, bei denen nach Sigmund Freuds Einschätzung aus dem Jahr 1915 „nur die primitivsten, ältesten und rohesten seelischen Einstellungen übrigblieben“3. Betrachtet man das ganze Werk wird klar: Alle tragen gleichermaßen Schuld am Krieg! Egal ob es die Offiziere im Kino sind, die Filmreportagen über die Auswirkung von Mörsern mit dem Ausruf „Bumsti!“ kommentieren (II, 6), oder der alternde Monarch Franz Joseph I., der „Mir bleibt doch nichts erspart“ im Traum vor sich hin murmelt (IV, 31). Der Herrscher mit unbegrenzter Gewalt und „erster Diener des Staates“ stilisiert sich selbst zum Märtyrer der Geschichte, folgt man Karl Kraus.
Nahezu zwei Jahre arbeitete Deborah Sengl daran, den Text von Karl Kraus in ihre eigene Bildsprache zu übertragen. Anstelle von Worten, die im vergleichsweise handlungsarmen Stück die Hauptrolle spielen, stehen ihr Linien und Formen zur Verfügung. Sie besetzte, einer Dramaturgin gleich, alle Rollen mit Ratten. Alle sind weiß, nur der nörgelnde Autor ist schwarz. Karl Kraus wird in Sengls Installation zum „schwarzen Schaf“, nimmt nicht an der Kriegseuphorie und Kriegstreiberei teil und ist dennoch selbst eine Ratte.
Die Tiere sind in Gruppen und Paaren, also Rattengesellschaften, unterwegs. Zeichnungen hinter den kleinen Objekten machen auch für die Besucher_innen, die Kraus nicht aus dem Stehgreif kennen, die Szenen identifizierbar. Der Wunsch der Künstlerin, die Bühnendichtung von Karl Kraus nicht zu illustrieren, wird hier auf eine harte Probe gestellt.
Wie Karl Kraus zeigt auch Sengl in ihren 44 Szenen wenig Blut und Zerstörung von Rattenkörpern. Je nachdem von welcher Seite man den Saal betritt, kommt es zu einer Steigerung am Ende oder einem paukenschlagartigen Beginn der Inszenierung, indem sie drei Dioramen mit schwarz grundierten Gouachen hinterfängt. Hier wird gesoffen, gemordet und zerfleischt. Und auch die für Sengls Werk so charakteristischen Tarnungen und Täuschungen tauchen wieder auf.
Einerseits bedient sich Sengl der Symbolkraft der Ratte, die als Versuchstier öfter denn als Haustier gehalten wird, und deren Bekämpfung in freier Wildbahn als Hygienemaßnahme gilt. Das Nagetier gilt als Verkörperung von Gier und Verschlagenheit. Im deutschen Sprachgebrauch ist jemand, der als Ratte bezeichnet wird, zumindest ein Ziel von abgrundtiefem Abscheu. Geringschätzung wird jenen zuteil, die als erste Ratten das sinkende Schiff verlassen. Ratten, so kann man resümieren, sind keine Sympathieträger.
Anna Jermolaewa (*1970) hat 2008 in einer bekannten Videoskulptur mit dem Titel „Der Weg nach oben“ ein überfülltes Terrarium mit Mäusen und Ratten gefilmt. Darin deutet sie das sich Abstrampeln der Tiere in Richtung Ausgang als Metapher für menschliches Verhalten um. Die Nager treten aufeinander und übereinander, um eine möglichst gute Fluchtposition zu erreichen, ohne je auch nur in die Nähe der Freiheit zu kommen. Ratten werden auch hier als scheinbar egoistische Tiere gezeigt, die ihre kleinen Münder auch auf Kosten ihrer Mitgefangenen nicht voll genug bekommen können.
Deborah Sengl stattet ihre Artefakte mit Requisiten aus und stellt sie auf ihre Hinterläufe. So werden 176 Nagetiere zu kleinen Stellvertretern der Menschheit. Das Karnevaleske in Kraus` Dichtung verwandelt Sengl in eine Fabel, in der Tiere menschliches Verhalten nachahmen. Das Animalische geht dabei aber leider völlig verloren.
Eine weitere Entscheidung war, die Skulpturengruppen in den White Cube des Essl Museums zu positionieren. Hier fällt der Vergleich zu den Abbildungen im Katalog besonders deutlich auf: Während Mischa Nawrata die einzelnen Dioramen für die Publikation suggestiv vor schwarzem Hintergrund fotografierte, und Detailaufnahmen die Inszenierung in ihren Aussagen noch unterstützen (v.a. Schärfe-Unschärfe-Verteilung, Detailreichtum bis zu einzelnen Haaren!), erscheinen die Ratten vor den weißen Ausstellungswänden unangenehm schwefelgelb und wenig kontrastiert. Auch sämtliche Requisiten sind in Weiß gehalten, sogar die rot-weiß-rote Fahne der k & k Monarchie hat Deborah Sengl übermalt. Damit verbindet Sengl die Aussage, dass nur das Schwarz des Dichterfells, ein wenig Urin und das Rot des Blutes herausleuchten.
Hinter den Figurengruppen hängt immer die dazugehörigen (?) Zeichnungen. Diese sind meisterhaft aufs Papier gebracht und so manches Gesichtchen und manche Körperhaltung leichter und deutlicher zu interpretieren als in den Tierpräparaten. Obwohl der Präparator sein ganzes Können hineingelegt hat, sind die Gesichter der Ratten offenbar nicht so leicht zu überzeichnen gewesen, wie es in Sengls Zeichnungen oder allgemein in Zeichentrickfilmen üblich ist. Auf den Zeichnungen schlussendlich finden sich auch Verweise auf die Textstellen, denen Deborah Sengl die Inspiration für die jeweilige Szene entnommen hat. Und das führt sogleich zur Frage, ob man diese skulpturale und zeichnerische Arbeit wirklich unabhängig vom Text „lesen“ kann?
Das schwierige Verhältnis von Text und Bild ist nicht nur seit der Antike ein Gegenstand anhaltender Diskussion, sondern erfährt im jüngsten Werk von Deborah Sengl eine neuerliche Aktualisierung. Die Künstlerin liest den Text oder hört die Aufnahme von Helmuth Qualtinger, setzt die in ihrem Kopf auftauchenden Bilder szenisch auf Papier um und fügt noch die Referenzstellen sowie die beteiligten Personen an. Die so entstandenen Szenen brauchten zusätzlich noch ihre Worte, Erinnerungen und Gefühle, um dem Tierpräparator Anhaltspunkte für die Interpretation jeder einzelnen Rattengestalt zu geben. Hier agiert die Künstlerin wie eine Bühnen- und Kostümbildnerin in Personalunion mit einer Regisseurin, die ihren Schauspielern erklärt, wie sie die Rollen angelegt haben möchte.
Nichtsdestotrotz stellt sich schnell der Wunsch ein, diese Textstellen bei Karl Kraus nachschlagen zu können, um die Handlungsabläufe sowohl in den Zeichnungen als auch den Objekten über ein empathisches Maß hinaus zu verstehen. Dem wird vorausschauend in der Präsentation Platz auf einem runden Tisch gegeben, auf dem das Buch, die CD und die Textstellen aufliegen. Obwohl es sich laut Sengl um eigenständige Arbeiten handelt, ist der Bezug zur Textquelle ein enger. Die Figurenkonstellationen lassen sich kaum in einen anderen, größeren Zusammenhang bringen. In der bildnerischen Umsetzung der „Letzten Tage der Menschheit“ erfolgen zwar wenige Raumangaben, so als würden die Ratten in einer Art White Cube operieren, dennoch binden einige historisch präzise geschilderte Requisiten die Ratten-Schauspieler wieder in die Zeit der 1910er Jahre zurück.
Die von der Künstlerin für ihre Arbeit gewünschte Autonomie stellt sich nur aus großer Distanz ein. Der Schlussfolgerung von Karl Kraus, dass die Nachkriegszeit nur eine Fortsetzung der anti-humanen Haltung mit anderen Mitteln wäre, folgt die Künstlerin im Pressegespräch ohne zu zögern. Die Menschheit ändere sich nicht, jedenfalls nicht zum Besseren. Jede_r ist jeder_m eine Ratte.
1974 in Wien geboren, beide Eltern sind Künstler
Biologiestudium (eineinhalb Jahre)
1992–1997 Studium an der Angewandten bei Mario Terzic (Abteilung für visuelle Mediengestaltung), 1995 ein Gastsemester an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee (Modeabteilung) und Diplom in der Meisterklasse von Christian Ludwig Attersee (Abteilung für bildende Kunst)
lebt und arbeitet in Wien