Das Kunstmuseum Basel zeigt eine Retrospektive des in Mexiko geborenen Künstlers Gabriel Orozco (* 1962), die in Zusammenarbeit mit dem New Yorker MoMA erstellt wurde. Ab September wird die Schau im Pariser Centre Georges Pompidou und ab Jänner 2011 in der Londoner Tate Modern zu sehen sein. Der Katalog, vom Hatje Cantz Verlag betreut, wird auf dem ersten Blick dieser bedeutungsschwangeren Liste von Stationen gerecht – reich bebildert, mit einer Chronologie ausgestattet und durch drei einleitende Aufsätze zu den Themen „Offenes Atelier“, „Anmerkungen zu den Notizbüchern“ und „Skulptur zwischen nationalstaatlicher und globaler Warenproduktion“ ergänzt. Mit Ann Temkin, Brinoy Fer und Benjamin H.D. Buchloh konnten drei ausgewiesene Orozco-Kenner für diese Texte gewonnen werden.
Schweiz / Basel: Kunstmuseum
18.4 - 8.8.2010
Der Umschlagtext führt als wichtigste Fähigkeit des Künstlers an, dass dieser seit Anfang der 1990er Jahre immer wieder mit innovativen künstlerischen Strategien überrasche. Sein vielgestaltiges Werk bewege sich zwischen Zeichnung, Fotografie, Installation und Malerei und entziehe sich dadurch einer festen Kategorisierung. Ziel der Publikation sei es, in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler dessen Werdegang von den späten 1980er Jahren bis heute zu schildern. Die Aufsätze würden Orozcos Werk in der zeitgenössischen Kunstlandschaft situieren und durch aufschlussreiche Kommentare des Künstlers ergänzt.
Gleich vorweg – das Layout, die Papierwahl und der Druck sind derart überlegt eingesetzt, dass dieses Buch mehr einem Künstlerbuch gleicht als einem Ausstellungskatalog. Man meint beim Blättern eines der Notizbücher des Künstlers in Händen zu halten, da sich Textseiten, Abbildungen und Repros einzelner Notizbuchseiten harmonisch ergänzen. Hier spürt man deutlich die Absicht, mehr als „nur“ einen Katalog unter vielen zu gestalten! Diese Lobeshymne schließt auch die Aufarbeitung des Œuvres mit ein, wobei die ersten 10 Jahre als die „Frühen Jahre“ kurz zusammengefasst werden, und dann jedem Jahr ein mehrseitiges Kapitel gewidmet wird.
Von den drei einleitenden Artikeln fand ich jenen von Briony Fer am aufschlussreichsten. Die Autorin, Professorin für moderne und zeitgenössische Kunst am University College London, untersuchte darin die Stellung der Notizbücher im Schaffensprozess von Gabriel Orozco. Sie würden eine zentrale Rolle einnehmen und nicht nur ein Nebenprodukt darstellen. Die große Sorgfalt und Mannigfaltigkeit, die der Künstler seinen Einträgen, Zeichnungen, Diagrammen, gefundenen Bildern, Collagefetzen, Texten, Fotos usw. darin seit 1992 zukommen lässt, würden Jorge Louis Borges Utopie einer „totalen Bibliothek“ entsprechen. Das Visualisieren von Gedanken – mit Hilfe von Zeichnungen oder Worten – helfe Orozco, „sich vor Augen zu führen, was er tut bzw. den Sinn dessen zu gewärtigen, was er getan hat“ (S. 30). So legten diese Notizen nicht nur Zeugnis von der Entstehung eines Werks ab, sondern seien integrativer Teil davon.
Der Harvard-Professor Benjamin H.D. Buchloh, der bereits seit den frühen 90er Jahren über das Werk des Künstlers schreibt, stellt sich die Frage nach Orozcos „Skulptur zwischen nationalstaatlicher und globaler Warenproduktion“. Er sieht Orozcos Skulpturenbegriff zwischen einem „Rückgriff auf primitivisierende Praktiken und mythische Quellen und den fortschrittlichsten technologischen Möglichkeiten unserer Zeit. Es hält sich in der unaufhörlichen globalen Bewegung, Vergänglichkeit und Flüchtigkeit und beharrt auf einer fast paradoxen regionalistischen Spezifität von Materialien, Morphologien und Ikonografien“ (S. 35). Ausgehend von der Beobachtung, dass „Mexiko nicht unbedingt für seine Beiträge zur skulpturalen Modernität“ bekannt sei, wäre es doch Orozco gewesen, der die Skulptur „von den Zwängen ihrer maßgeblichen Konventionen“ befreit hätte (S. 35). Dafür hätte der Mexikaner von Marcel Duchamp, John Cage und Piero Manzoni gelernt. Orozco habe die Materialien und Prozesse der Skulptur in die „Sphäre der gewöhnlichsten Orte und Strukturen übertragen“ (S. 36). Wie lässt sich nun die Identität eines Werkes beschreiben, dessen Schöpfer zwischen Mexiko, New York und Paris pendelt? Nach Buchloh spielt die Rückkehr zum „Mythischen“ dabei eine herausragende Rolle. Durch den Einsatz von handwerklichen Praktiken, dem Kugelförmigen als aztekisches Erbe, von Skeletten als „Material“ würde der Künstler sein westeuropäisches und amerikanisches Publikum „verführen“, sich mit dem Verlust des eigenen „Natürlichen“ und einem „Handgemachten“ des skulpturalen Objekts auseinanderzusetzen. Gleichzeitig negiert Orozco aber auch eine mythische globale Universalität, indem er sich beständig auf „mexikanische“ Ikonografien – wie den Schädel als „Grundelement der mexikanischen Kultur“ – bezieht.
Anne Temkin, Chefkuratorin für Malerei und Skulptur am Museum of Modern Art (MoMA), charakterisiert das skulpturale Arbeiten Gabriel Orozocos als Interesse am Sammeln, am Beobachten, am Ephemeren. Daraus resultiert eine Haltung, die weder ein Atelier noch eine Galerie „braucht“. Während eines Studienaufenthalts in Madrid fertigte Orozco seine ersten Skulpturen im Außenraum (1986/87). Er sammelte Abfall, um ihn zu temporären Bildwerken zu arrangieren. Mit Hilfe der Fotografie dokumentierte der experimentierende Student diese Setzungen im öffentlichen Raum. Die Arbeiten entstanden daher immer aus der Situation heraus. Auch die Vielfalt der Medien erklärt sich auf diese Weise. Seit 2004 ist Gabriel Orozco zur Malerei (seinem ursprünglichen Studienfach) zurückgekehrt. Er entwirft die Kompositionen der „Trees“ am Computer, lässt sich sämtliche Veränderungen anzeigen, interessiert sich aber dann nicht für die handwerkliche Ausführung sondern lässt malen (Abb. 6). Wenn diese Hinwendung zur Malerei für viele überraschend kam, so zeigt die Methode doch erneut den aufmerksamen Beobachter.
Die Chronologie bietet einen guten Überblick über die letzten 20 Schaffensjahres eines Umtriebigen, und die einführenden Texte von Fer und Buchloh vertiefen das Wissen auf anspruchsvolle Weise. Einziger kleiner Schönheitsfehler: Es fehlen hier die Verweise von den Bildtiteln auf die Abbildungen der jeweiligen Werke im hinteren Chronologie-Teil. Aber: Sorgfalt der Verarbeitung und Gestaltung des „Ausstellungskatalogs“ überzeugen restlos.
Für weitere Fotos und Videos: MoMA Gabriel Orozco
Kunstmuseum Basel (Hg.)
mit Beiträgen von B. H. D. Buchloh
A. Byrd, B. Mendes Bürgi
B. Fer, P. Pobocha, A. Temkin
2010, 256 Seiten mit 478 farbigen Abb.
24 x 30 cm, gebunden, € 49,80 (D) / € 51,20 (A) / CHF 88,-
ISBN 978-3-7757-2510-1 (dt.)
HATJE CANTZ VERLAG
Bernhard Mendes Bürgi: Vorwort (S. 8-9)
Ann Temkin: Offenes Atelier (S. 11-31)
Briony Fer: Konstellationen im Staub. Anmerkungen zu den Notizbüchern (S. 23-33)
Benjamin H. D. Buchloh: Die Skulptur zwischen nationalstaatlicher und globaler Warenproduktion (S. 34-43)
Paulina Pobocha und Anne Byrd: Chronologie (S. 45-241)