Henri-Edmond Cross (1856–1910) gilt als einer der bedeutendsten Vertreter des französischen Neoimpressionismus. Gemeinsam mit seinem Freund und Künstlerkollegen Paul Signac entdeckte er die Côte d’Azur für die Malerei. Zwischen den Impressionisten um Claude Monet und den Vorreitern des Expressionismus um Henri Matisse markiert sein Œuvre eine entscheidende Etappe auf dem Weg zur Wertschätzung der Farbe als einem autonomen Gestaltungsmittel und damit in Richtung der Abstraktion. In Deutschland wurde er früh als ein Vorreiter der Moderne gefeiert. In Zusammenarbeit mit dem Musée des impressionnismes in Giverny zeigt das Museum Barberini die erste Retrospektive, die Cross an einem deutschen Museum gewidmet ist. Neben seiner herausragenden Rolle innerhalb der neoimpressionistischen Bewegung nimmt sie seinen Einfluss auf die spätere Entwicklung der französischen Avantgarde in den Blick und beleuchtet Cross’ Bedeutung als einer der großen Pioniere der Malerei des 20. Jahrhunderts.
Frankreich | Giverny: Musée des impressionnismes Giverny
27.7. – 4.11.2018
Deutschland | Potsdam: Museum Barberini
17.11.2018 – 17.2.2019
Henri-Edmond Delacroix wurde 1856 im nordfranzösischen Douai geboren. Seine künstlerische Ausbildung begann 1866 bei Carolus Duran, gefolgt von Unterricht an den Écoles Académiques de Dessin et d’Architecture in Lille sowie bei den Pariser Malern François Bonvin und Émile Dupont-Zipcy. Ab 1883 stellte er unter dem Pseudonym Cross aus, um Assoziationen mit dem berühmten Maler Eugène Delacroix zu vermeiden. Im Jahr darauf gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des Salon des Indépendants, wo er die Bekanntschaft Paul Signacs machte und mit wenigen Ausnahmen bis 1910 prominent vertreten war. Unter dem Einfluss Georges Seurats experimentierte er ab Beginn der 1890er Jahre mit der neuen Maltechnik des Pointillismus, bei der leuchtende Farben in kurzen Pinselstrichen nebeneinandergesetzt werden (→ Georges Seurat, Erfinder des Pointillismus). Frühe neoimpressionistische Gemälde wie „Stierkampf“ (um 1891/92, Privatbesitz) oder „Das Haar“ (um 1892, Musée d’Orsay, Paris) können als Hommage an den großen Vorreiter des Neoimpressionismus gedeutet werden.
Entscheidend für die Entwicklung von Cross’ Œuvre war sein Umzug an die französische Riviera, deren landschaftliche Schönheit zur zentralen Inspirationsquelle wurde. 1891 bezog er ein Haus am Strand von Cabasson und ließ sich wenig später in dem Küstenstädtchen Saint-Clair nieder. Obwohl Cross die großstädtische Kunstszene im Auge behielt und in Kontakt zum Kreis der Neoimpressionisten stand, änderte sich sein Stil unter den neuen Lebens- und Arbeitsbedingungen: Die dunklen, tonigen Farben seines Frühwerks wichen einer hellen Palette und ausgeprägten Farbkontrasten. Zu einem Markenzeichen von Cross’ Arbeiten dieser Zeit wurden Landschafts- und Genrebilder, die eine romantisch verklärte Sicht auf den rustikalen Alltag an der Küste zeigen (vgl. „Der Bauernhof [Morgen]“, 1893, Musée des Beaux-Arts, Nancy; „Der Bauernhof [Abend]“, 1893, Privatbesitz; „Die Wäscherin“, 1895, Privatbesitz). In späten Werken verband er seine Naturidyllen häufig mit allegorischen und mythologischen Anklängen, die an das Idealbild eines Goldenen Zeitalters erinnern (vgl. „Das Fröhliche Bad“, 1899–1902, Privatbesitz; „Faun“, 1905/06, Privatbesitz → Seurat, Signac, Van Gogh – Wege des Pointillismus).
„Ich möchte das Glück malen, die glücklichen Wesen, die die Menschen in einigen Jahrhunderten (?) sein können, wenn die reine Anarchie verwirklicht ist“, hatte er im Juni 1893 mit einem Fragezeichen hinter der Zeitangabe an Signac geschrieben. In einem Vorwort zu Cross’ Einzelausstellung in der Pariser Galerie Druet 1905 sah der belgische Dichter Émile Verhaeren seine Kunst als eine „Verherrlichung der Natur“ sowie die „Verherrlichung einer inneren Vision“, die von einem „pantheistischen Eifer“ geprägt sei. Solche Anklänge an die Idee eines irdischen Paradieses spiegeln sich in Cross’ Darstellungen der lichtdurchfluteten Riviera wie „Der Strand von Saint-Clair“ (1901, Privatbesitz) oder „Ein Pinienwäldchen“ (1906, Privatbesitz) wieder.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt Cross als einer der wichtigsten Vertreter der französischen Malerei und war Vorbild und Mentor für aufstrebende Avantgardekünstler wie Matisse und die Künstler des Fauvismus wie Albert Marquet, die in regem Austausch mit ihm standen.
Zugleich war Cross’ Werk in diesen Jahren auf nationalen und internationalen Ausstellungen präsent. In Deutschland wurde er früh als ein Vorreiter der Moderne anerkannt, seine Werke häufig ausgestellt und intensiv besprochen. Der Sammler Harry Graf Kessler gehörte zu seinen eifrigsten Bewunderern und erwarb zahlreiche Werke des Künstlers, darunter „Landschaft bei Bormes“ (1907, Privatbesitz), „Pardigon, Küste in der Provence, Abend“ (1907, The Kasser Mochary Foundation, Montclair, New Jersey) und „Rosafarbener Frühling“ (1909, Privatbesitz). Lange vor ihren französischen Kollegen kauften deutsche Museumsgründer und Direktoren wie Karl Ernst Osthaus oder Georg Swarzenski Werke des Malers an, darunter das großformatige Hauptwerk „Nachmittag im Garten“ (1904, Städel Museum, Frankfurt am Main). Die wegweisende Ausstellung des Kölner Sonderbundes 1912 feierte Cross neben Paul Cézanne, Pablo Picasso und Vincent van Gogh als eine der großen Leitfiguren der französischen Avantgarde.
Bei der Schau im Museum Barberini handelt es sich um die erste Retrospektive, die dem Künstler an einem Museum in Deutschland gewidmet ist. Rund 20 Jahre nach der letzten Einzelausstellung zu Henri-Edmond Cross (Musée de la Chartreuse, Douai, 1998/99) nimmt sie die gesamte Entwicklung seines künstlerischen Schaffens in den Blick und präsentiert seinen innovativen Umgang mit Farbe und Licht im erweiterten Kontext der Avantgarde seiner Zeit. Darüber hinaus beleuchtet die Ausstellung Cross’ Interesse an anarchistischem Gedankengut und erörtert die sozialpolitische Dimension seiner gemalten Utopien. „Cross’ frühe Rezeption in Deutschland war für uns ein entscheidender Aspekt bei der Umsetzung dieses Projekts. Viele Werke, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in deutschem Besitz befanden oder auf Ausstellungen in Deutschland gezeigt wurden, kehren im Rahmen der Retrospektive hierher zurück“, erklärt Ortrud Westheider, Direktorin des Museums Barberini.
„Zahlreiche Gemälde, die im Werkverzeichnis zu Cross von 1964 aufgeführt werden, gelten heute als verschollen oder befinden sich in Privatbesitz. Es freut uns daher ganz besonders, dass es uns gelungen ist, so viele Privateigentümer für dieses Ausstellungsprojekt zu begeistern. Gerade dadurch können wir unserem Publikum Cross mit einem repräsentativen Querschnitt durch sein gesamtes Schaffen näherbringen, darunter viele seiner bedeutendsten neoimpressionistischen Werke“, ergänzt Daniel Zamani, Kurator der Ausstellung am Museum Barberini.
Die Retrospektive umfasst insgesamt rund 100 Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen aus sämtlichen Werkphasen des Künstlers, darunter Leihgaben aus dem Musée d’Orsay in Paris, dem Museo Nacional Thyssen-Bornemisza in Madrid, der Ny Carlsberg Glyptotek in Kopenhagen, dem Museum of Fine Arts in Houston, dem Toledo Museum of Art in Ohio, dem Chrysler Museum of Art in Norfolk, sowie zahlreiche Werke aus internationalen Privatsammlungen. Zu den Highlights der Retrospektive gehören zwei von Cross’ frühesten neoimpressionistischen Strandbildern, „Calanque des Antibois“ (1891/92) und „Plage de la Vignasse“ (um 1891/92), die von der National Gallery of Art in Washington und dem Musée d’art moderne André Malraux in Le Havre zur Verfügung gestellt werden. Ein weiterer Höhepunkt sind Cross’ bislang weitgehend unbekannte Schwarz-Weiß-Zeichnungen, die mit Kohle oder Crayon Conté ausgeführt wurden und die seinen engen Dialog mit den Papierarbeiten Georges Seurats eindringlich vor Augen führen.
Kuratiert von Daniel Zamani.
Quelle: Pressetext