Jugendstil in Belgien
Seit den frühen 1890er Jahren entwickelten Architekten und Künstler Belgiens jenen Stil, der sich unter den Begriff Jugendstil bzw. Art Nouveau in Frankreich und ins übrige Europa ausbreitete. So findet sich in der berühmten Jugendstil-Architektur Brüssels der neue Einsatz von neuer Materialien wie Eisen und Glas. Dies ermöglichte, größere und hellere Innenräume zu konstruieren. Charakteristisch für den Jugendstil werden die geschwungene Linie, Peitschenlinie oder Schlangenliniendekor genannt, und der Einsatz von pflanzlichen Formen. Möbel, Glaswaren, Teppiche, Kleidung, Schmuckstücke und Plakatkunst gehören zu den wichtigsten Leistungen in diesem Jahrzehnt vom Übergang der Belle Époque zur Moderne.
„Les XX“ und die Entstehung des belgischen Jugendstils
Vor allem die Künstler der freien und unprogrammatischen Gruppe „Société des Vingt“, kurz „Les Vingt“ oder „Les XX“ (gegr. 28. Oktober 1883), etablierte sich als bedeutende Quelle neuer Inspiration. Die zwanzig Gründungsmitglieder kamen übereinander, eine fixe Mitgliederzahl zu haben. Das bedeutete, dass erst bei Ausscheidens einer Person, ein neues Mitglied durch die mehrheitliche Zustimmung der Gruppe gewählt werden kann. Ziel der Gruppe war, hervorragende Künstler aus dem Ausland zu einer Jahresausstellung einzuladen. Dadurch sollte internationaler Austausch gefördert werden. Eine der Besonderheiten war, dass jeder Künstler seine Katalogseite selbst gestaltete. Dadurch entstand eine interessante Zusammenschau individueller Typografie.
Victor Horta, Jugendstil-Architektur in Brüssel
Ab 1893 entwarf Victor Horta (1861–1947) Eigenheime und Geschäfte. Bereits ein Jahr zuvor entstand das Hôtel Tassel mit einem Innenraum aus einer freiliegenden Gusseisenkonstruktion und Glaselementen, zudem einer reichen, aus organischen Formen und weichen Linien bestehenden Ornamentik (1892). Der damals 32-jährige Architekt wurde mit dem Wohnhaus fast über Nacht bekannt. Es folgten die Maison Autrique (1893), die Maison Winssinger (1895/1896), das Hôtel Eetvelde (1895–1900) und das Kaufhaus „À l’innovation“ (1900/1901), die Victor Horta alle als Gesamtkunstwerk im Stile der Art nouveau konzipierte. Von 1896 bis 1899 entwarf Victor Horta die Maison du Peuple, die Zentrale der belgischen sozialistischen Partei, deren Fassade er – als erstes Gebäude in Brüssel – komplett aus Eisen und Glas konstruierte.
Henry van de Velde, Pionier des Jugendstils
Der erste, dem die Synthese von französische und englischen Einflüssen gelang, war Henry van de Velde (1863–1957). Als er 1897 ein Plakat für die Troponwerke entwarf, knüpfte er am die neue englische Typografie an, band den Text in ein ornamentales Rahmenwerk ein und abstrahierte die Darstellung von Eiern zu ornamentalem Muster. Er konnte sich als einflussreicher Künstler etablieren, da sich Van de Velde aller Kunstgattungen von Malerei, Architektur bis Kunstgewerbe bemächtigte und der Kunst eine pädagogische Wirkung zusprach:
„Kunst ist der wundersame Schmuck des Lebens. Sie kann nichts anderes sein, weil das Wesen aller Künste darin besteht. Zu schmücken. Musik und Poesie sind der Schmuck der Sprache, der Tanz ist der Schmuck des Ganges, Malerei und Bildhauerei hinwieder der Schmuck der Gedanken – auf leere Wände übertragen.“1 (Henry van de Velde, Zum neuen Stil)
Van de Veldes bildkünstlerische Strategie gipfelt in einer neuen Auffassung des Ornaments und der freien Liniensprache. Letztere erhob er in den Rang eines Kunstwerks. Er meinte, seine Ornamente seien entstanden, „als die Linien untereinander dieselben logischen und konsequenten Beziehungen haben wie die Zahlen und wie in der Musik die Töne, der mich dazu brachte, nach einer reinen abstrakten Ornamentik zu forschen, welche ihre Schönheit aus sich selbst und aus der Harmonie der Konstruktionen und der Regelmäßigkeit und dem Gleichgewicht der Formen, die ein Ornament zusammensetzten, schöpft […]. Ich hatte die Eindringlichkeit der starken Gefühlstöne empfunden, welche man mit Hilfe von Ornamenten hervorrufen kann, deren Struktur auf beabsichtigten und ausdrucksvollen Äußerungen von Freude, Schlaffheit, Heiterkeit, Schutz, Wiegen, Schlummer beruht.“2
Henry van de Velde wurde weniger in Belgien als in Deutschland wichtig für die Entwicklung des Jugendstils. Er stellte erstmals seine Werke auf der Kunstgewerbeausstellung in Dresden 1897 aus. Kurze Zeit später erhielt er den Auftrag, das Folkwang Museum in Hagen zu bauen (1900); dann berief ihn Karl Ernst Osthaus zum künstlerischen Berater des Großherzogs nach Weimar. Ab 1906 lehrte van de Velde an der neugegründeten Kunstgewerbeschule in Weimar, aus dem 1919 das Bauhaus herausging.
Fernand Khnopffs symbolistische Landschaften
Belgische Künstler erhielten starke Einflüsse aus Frankreich und Großbritannien (v.a. Buchkunst und Typografie). Die Avantgarde suchte eine Verrätselung der Welt und eine Verbindung mystischer Symbole im Symbolismus. Als wichtigster Maler ist hier Fernand Khnopff (1858–1921) zu nennen. Er ist bekannt als Maler von kühlen und grausamen, mythologischen Symbolen des Weiblichen, aber auch von stillen und resignierenden Erinnerung. Wenn Khnopff Landschaften malte, dann sieht er sie als weite Flächen ohne Begrenzung. Er verdichtete einfache Elemente der Natur zu gefühlsschweren Gedankenassoziationen, die ihn zu einem Hauptvertreter des Symbolismus machen.
Internationaler Erfolg
Ab 1895 wurde dem Kunstgewerbe auf dem Pariser Salon einen besonderen Platz zu überlassen. Brüsseler Künstler feierten dort einen Triumph. Kritiker und Publikum waren gleichermaßen fasziniert von den kostbaren Objekten.
Berühmte Künstler des Jugendstils in Belgien und Niederlande
- Theo van Rysselberghe (1862–1926)
- Henry van de Velde (1863–1957)
- Fernand Khnopff (1858–1921)
- Henri Evenpoel (1872–1899)
- Georges Lemmen (1865–1916)
- Victor Mignot (1872–1944)
- Henri Meunier (1873–1922)
- Philippe Wolfers (1858–1929)
- Gustave Serrurier-Bovy (1858–1910)
- Jan Toorop (1858–1928)
- Jan Thorn Prikker (1868–1932)
- Wilhelmus Petrus Hartgring (1874–1940)
