Paula Modersohn-Becker (1876-1907) und Otto Modersohn (1865-1943) ist das bedeutendste deutsche Künstlerpaar um 1900. Während Paula Modersohn-Becker rasch nach ihrem frühen Tod im November 1907 als eine der avantgardistischsten Künstlerinnen ihrer Generation erkannt wurde, arbeitete Otto Modersohn bis in die 1930er Jahre als Landschaftsmaler durchaus konventionell. Negative Einschätzungen von Zeitgenossen wie Rainer Maria Rilke, Bernhard Hoetger oder Gustav Pauli verdunkelten das Bild dieser Künstlerehe. Obschon Otto Modersohn das Werk seiner Frau wertschätzte, sich damit intensiv intellektuell wie künstlerisch auseinandersetzte und obwohl er die Bilder von Paula Modersohn-Becker publik machte, wird seine Rolle noch immer unterschätzt.
Deutschland | Lindau: Kunstmuseum am Inselbahnhof
15.5. – 27.9.2020
Das Kunstmuseum Lindau präsentiert im Sommer 2020 anhand des Künstlerpaares Modersohn „Liebe und Kunst im Aufbruch zur Moderne“. Indem Kuratorin Sylvia Wölfle der berühmten Paula Modersohn-Becker Bilder ihres Mannes Otto Modersohn gegenüberstellt, zeigt sie einerseits die Modernität Paulas aber auch ihre gegenseitige Beeinflussung. So waren es vor allem auch Otto Modersohns Landschaftsbilder der 1890er, in Lindau vertreten durch „Abend im Moordorf“ (1898) aus dem Otto-Modersohn-Museum in Fischerhude, welche die junge Paula Becker für die Künstlerkolonie Worpswede begeisterten. Ihre erste persönliche Begegnung fand 1897 statt, als sie mit einigen Kolleginnen gemeinsam in die Künstlerkolonie kam. Die Schönheit der Landschaft war ihr schon aus den Bildern Modersohns und seiner Mitstreiter bekannt: Birkenwäldchen und -alleen, atmosphärische Abendstimmungen, alte Bäuerinnen und junge Mädchen mit Hüten, Gräben im Moor, später der gemeinsame Garten mit großer Hexenkugel, das Schützenfest und ab etwa 1905 auch Stillleben bringt die Ausstellung in Lindau zusammen. Skizzenhafte, spontan hingeworfene und monumentale Werke wechseln einander spannungsreich ab. Der künstlerische Dialog des seit 1901 verheirateten Paares verlief nicht immer harmonisch, aber doch über den Zeitraum von knapp zehn Jahren kontinuierlich. Er zeigt, wie intensiv sich Otto Modersohn mit der Modernität von Paulas Malerei und Kunstauffassung auseinandersetzte – auch wenn seine Beibehaltung der Tiefenräumlichkeit noch konventionell wirkt. Die frische Faktur und der Verzicht auf Details lassen sich mit den Errungenschaften von Paula Modersohn-Becker in Verbindung bringen, zumal Otto Modersohn erst 1906/07 nach Paris reiste. Im Fall von Otto Modersohn ging diese Inspiration sogar über den frühen Tod von Paula Modersohn-Becker hinaus, wie einige späte Werke wie „Lampionfahrt auf der Wümme“ (um 1911) belegen.
Otto Modersohn war bereits ein etablierter Landschaftsmaler und Hauptvertreter der Worpsweder Künstlerkolonie, als er 1897 die junge, lebensfrohe und hochtalentierte Paula Becker kennenlernte. Er war damals noch mit seiner ersten Ehefrau Helene verheiratet, doch setzte er sich schon früh mit dem Talent und den Bildern der aufstrebenden Künstlerin auseinander. Paula Becker nahm ab 1898 Zeichenunterricht bei Fritz Mackensen und wandte sich der heimischen Bevölkerung zu. Die erste persönliche Begegnung mit Otto Modersohn ist erst für 1899 verbürgt. Einer ersten Einladung zu einem Künstlerfest folgten intensive Gespräche über Kunst, bei den der ältere Maler Paula kollegial und vorurteilsfrei entgegentrat. Um 1900 bedeutete diese Wertschätzung auch in Künstlerkreisen viel und war nicht selbstverständlich.
Modersohns Austritt aus der Künstlerkolonie Worpswede, Paulas erster Aufenthalt in Paris (1899/1900) und der Tod von Otto Frau Helene folgten im ereignisreichen Jahr zwischen Sommer 1899 und Sommer 1900. Doch schon kurz darauf verliebten sich Paula und Otto ineinander. Ihre ganz auf die Kunst ausgerichtete Beziehung war von tiefer Zuneigung, großem gegenseitigen Respekt und einem intensiven Austausch über künstlerische Themen geprägt. Sie teilten eine Vorliebe für die fortschrittliche Malerei der Franzosen und setzten diese jeweils unterschiedlich in ihren eigenen Bildern um.
Am 25. Mai 1901 heirateten Paula und Otto in aller Stille. Aus Paula Becker wurde Paula Modersohn-Becker. Dem wirtschaftlichen Erfolg ihres Mannes und seiner Unterstützung verdankte sie, dass sie nicht das Schicksal vieler Künstlerinnen ihrer Generation teilen und zur Haushälterin mutieren musste. Denn: Otto Modersohn stellte ein Hausmädchen ein, das sich sowohl um die Tochter Elsbeth aus erster Ehe wie auch den Haushalt kümmerte. Paula Modersohn-Becker konnte sich weiterhin ihrer Kunst widmen, was Otto Modersohn im Bild „Paula Modersohn-Becker, im Garten malend“ (1901) festhielt. Auch ihre Paris-Aufenthalte unterstützte Modersohn großzügig – sogar jenen 1906/07, als ihre Beziehung auf der Kippe stand. Otto Modersohn fand es „wundervoll […] dies wechselseitige Geben und Nehmen“.1 Zahlreiche Zitate aus seinen Tagebüchern offenbaren eine intensive, wenn auch nicht immer friktionsfreie Auseinandersetzung mit Paula Modersohn-Beckers Kunst. Er konnte sich (im Stillen) eingestehen, dass einige ihrer Bilder „größer“ wirken würden als seine eigenen. Er freute sich über ihre Fortschritte im Geheimen und war überzeugt, dass sie eines Tages alle überraschen würde. Daher wollte Paula Modersohn-Becker auch, dass ihr Mann 1907 nach Paris kam, um Werke von Auguste Rodin und Paul Cézanne im Original zu studieren, um „zu sehen, wie weit man gehen kann, ohne sich um das Publikum zu kümmern“.2 Und so sollte es auch kommen! Erst nach Paulas frühem Tod 1907 sichteten Otto Modersohn und Heinrich Vogeler ihre Werke und entdeckten vieles, das ihnen unbekannt war.
Paula Modersohn-Beckers Wahrnehmung ihrer Beziehung war hingegen durchaus von Rollenerwartungen (Mutter und Hausfrau) geprägt, die sie als konfliktreich empfand. So brach sie nach zwei Monaten einen Kochkurs in Berlin ab, den ihre Mutter kurz vor ihrer Hochzeit noch für sinnvoll gehalten hatte. Paulas Freiheitsdrang und ihre Hingabe zur Kunst ließen sie „ultramodern“ erscheinen. Sie war Anhängerin der Freikörperkultur und reiste selbständig insgesamt vier Mal nach Paris, wo sie sich an der zeitgenössischen wie an der antiken Kunst schulte. 1903, so arbeitet Kuratorin Sylvia Wölfle in ihrem Beitrag gekonnt heraus, veränderte sich Paulas Selbstwahrnehmung. Sie wurde bestimmter, sie hatte in der Einfachheit antiker Köpfe jene Einfachheit und Monumentalität gefunden, die sie zunehmend zu einer Pionierin der Moderne werden ließen (→ Paula Modersohn-Becker. Zwischen Worpswede und Paris). Hatte Paula Modersohn-Becker schon zuvor ihr Augenmerk auf die kleinen Mädchen, Mutter und Kind Szenen und alten Frauen in Worpswede gelegt, so verstärkte sie nun dieses Interesse, begleitet von Stillleben. In Lindau sind „Mädchenbildnis mit gespreizter Hand vor der Brust“ (1905) und „Stillleben mit Goldfischglas“ (Mai/Juni 1906) sowie „Mutter mit Kind an der Brust, Halbakt“ (Mai/Juni 1906) aus dem Von der Heydt-Museum, Wuppertal, sowie „Otto Modersohn schlafend“ (1906/07) der Paula-Modersohn-Becker-Stiftung in Bremen besonders hervorzuheben.
Das Bild von Paula und Otto wird bis heute von ihrem „Ausbruchsversuch“ 1906 geprägt. Am 23. Februar 1906 verließ sich Worpswede in Richtung Paris und ließ Rainer Maria Rilke wissen, dass sie weder Paula Becker noch Paula Modersohn wäre. Auf der Suche nach einer neuen künstlerischen wie privaten Identität hielt sich die aufstrebende Künstlerin in Frankreich auf – immer unterstützt von ihrem Ehemann (→ Bremen | Paula Modersohn-Becker Museum: Paula Modersohn-Becker. Selbstbildnisse) und gefördert vom deutschen Bildhauer Bernhard Hoetger. Im Oktober des Jahres lud Paula Modersohn-Becker ihren Mann ein, nach Paris zu kommen, wo sie sich ein weiteres halbes Jahr gemeinsam aufhielten. Die Begeisterung für die französische Malerei und die Anerkennung des dort Erreichten verband das Künstlerpaar über sein frühes und tragisches Ende hinaus. Im Fall von Paula Modersohn-Becker führte diese Offenheit zu einer außergewöhnlichen Bildsprache und ihrer Pionierstellung in der deutschen Malerei kurz nach 1900. Im Fall von Otto Modersohn führte seine Wertschätzung der Kunst von Vincent van Gogh dazu, dass er als einziger Worpsweder Künstler gegen Carl Vinnens Streitschrift zu „Überfremdung“ der deutschen Museen nicht unterzeichnete.
Sechs Gemälde Otto Modersohns datieren nach 1908 und zeigen Otto Modersohn als gemäßigten Modernen zwischen dekorativen Anklängen (Nabis und Jugendstil), einer rohen Malerei mit Anklängen an Paul Cézannes Frühwerk (um 1911) und wieder feiner gemalten, atmosphärischen Landschaften der 1930er Jahre. Am 20. November 1907 starb Paula Modersohn-Becker an einer Embolie. Otto Modersohn verließ daraufhin Worpswede und zog nach Fischerhude, wo sich heute auch das Otto Modersohn Museum befindet.
Paula Modersohn-Beckers Bilder wurde erstmals im Mai 1909 in der Galerie Cassirer in Berlin öffentlich ausgestellt. Otto Modersohn und Heinrich Vogeler ordneten den Nachlass und bereiteten die Ausstellung vor. Freunde Paulas und Interpreten ihrer Texte und Bilder – wie Rainer Maria Rilke und der Bildhauer Bernhard Hoetger aber auch die Herausgabe von Tagebuchaufzeichnungen und Briefen der Künstlerin durch Sophie Dorothee Gallwitz und Paula Modersohn-Beckers erster Monograph Gustav Pauli – prägten das Bild der unverstandenen Künstlerin – auch auf Kosten von Otto Modersohn. Der Landschaftsmaler hätte seine Frau nie verstanden; die Schwangerschaft hätte ihr schlussendlich das Leben gekostet. Die Unvereinbarkeit von Kunst und (konventionellem) Eheleben wurde vielfach beschworen, ohne jedoch die Stimme des Ehemanns zu hören. Eine Auseinandersetzung zwischen Hoetger und Modersohn um die Frage der Bepreisung von Paula Modersohn-Beckers Werken lässt den Schluss zu, dass auch gewichtige ökonomische Interessen bei der Diffamierung von Paulas Ehemann eine nicht geringe Rolle spielten. Kurzum: Spätestens mit Gustav Paulis Monografie zu Paula Modersohn-Becker von 1919 ist die Künstlerin nicht nur eine künstlerische Avantgardistin, sondern auch eine am goldenen Käfig des Ehelebens leidende Frau. Wenn auch einige Publikationen der letzten Jahre auf diesen Umstand bereits hinweisen, so tut es dem „Mythos Paula“ gut, immer wieder angekratzt zu werden.3
Sylvia Wölfle, Kulturamt Lindau (Hg.)
mit Beiträgen von Sylvia Wölfle, Marina Bohlmann-Modersohn, Pia Mayer, Bettina Kaufmann
162 Seiten
erhältlich im Kunstmuseum Lindau