Séraphine Louis

Wer war Séraphine Louis?

Séraphine Louis (auch: Séraphine de Senlis; Arsy (Oise) 2.9.1864–11.12.1942 Clermont-de-1'Oise) war eine französische Malerin der Naiven Kunst und der Klassischen Moderne (→ Klassische Moderne). Neben Henri Rousseau (1844–1910) gilt Seraphine Louis als wichtigste Vertreterin der „Maler des heiligen Herzens“. Ihre mystisch-religiösen Bilder zeigen meistens Pflanzen, üppige, das Bildfeld füllende, pflanzliche Formen und Figurationen in leuchtenden Farben. Eines ihrer bekanntesten Werke ist „Der rote Baum“ (um 1927/1928, Musée National d’Art Moderne, Paris).

Kindheit

Séraphine Louis wurde am 2. September 1864 als jüngste Tochter des Taglöhners und Holzfällers Antoine Frédéric Louis sowie dessen Ehefrau, der Zugehfrau Adeline Julie Mayard (auch Maillard), im ländlichen Arsy geboren. Ihren wohlklingenden Taufnamen Séraphine hatte der Pfarrer vorgeschlagen. Ihr Namensheiliger dürfte die toskanische Heilige Seraphina bzw. Fina (1238–1253) gewesen sein. Séraphine Louis‘ Mutter starb bereits 1865, ein Jahr nach ihrer Geburt. Nach dem Tod ihres Vaters 1871 wurden Séraphine und ihre drei Schwestern zu Vollwaisen.

Über die Kindheit von Séraphine ist wenig bekannt. Man weiß nur, dass sie oft auf nahegelegenen Bauernhöfen spielte, gelegentlich Schafe hütete und Bauern bei verschiedenen Arbeiten half.

Dienstmagd & vielleicht Laienschwester

Auf Vermittlung einer ihrer Schwestern erhielt Séraphine im Alter von 13 Jahren eine Stelle als Dienstmädchen in Paris. Anderthalb Jahre später trat sie in Compiègne bei der Comtesse de Beaumini eine Stelle als Zimmermädchen und Küchenhilfe an. Diese Tätigkeit übte sie drei Jahre lang aus.

1881 wurde Séraphine in die „Kongregation der Schwestern des Convents de la Charité de la Providence“ in Clermont aufgenommen. Welchen Status sie in diesem Kloster hatte, ist nicht bekannte. Vielleicht war sie dort nur Hausmädchen oder zumindest Laienschwester. Sicherlich legte sie jedoch nicht die Gelübde ab.

Séraphine Louis als Malerin

Nach rund 20 Jahren verließ Séraphine Louis vermutlich 1901 und aus unbekannten Gründen das Kloster in Clermont. Danach verdiente sie als Putzfrau bei einem Fräulein Fraissant nahe Just-en-Chaussée ihren Lebensunterhalt. Ein halbes Jahr später kündigte sie aus Unzufriedenheit diese Stelle. Ihre nächste Stelle bei Madame Baudin war mit schwerer körperlicher Arbeit verbunden. Über diese Tätigkeit beklagte sich Séraphine – verbunden mit einem Neujahrsgruß – bei ihrer alten Bekannten Madame Bonnet in Senlis. Diese empfahl sie ihrer Freundin Madame Mony, die dringend Hilfe benötigte. 1903 oder 1904 zog Séraphine Louis in das kleine Städtchen Senlis. Ihr Dienst als Aufwartefrau bei Madame Mony endete, als diese 1904 nach Paris zog, wohin Seraphine nicht folgen wollte.

Ab 1905 arbeitete Séraphine Louis bei dem Advokaten Chambard in Senlis. Während dieser Tätigkeit begann sie, Blumen und Früchte auf Papier, Hutschachteln, Schuhschachteln, Camembertdosen und nutzlos gewordene Holzplatten und Hartfaserplatten, Vasen, Krüge, Flaschen und Teller zu malen. Für viele ihrer Bilder verwendete sie eine Emailfarbe namens Ripolin, die 1889 von dem Holländer Carl Julius Riep erfunden wurde. Diese Farbe haftete auf fast allen Untergründen und ergab eine emailartig leuchtende, sehr wasserbeständige Oberfläche.

Die Ehefrau des Advokaten Chambard fand die künstlerischen Aktivitäten ihrer Aufwartefrau lächerlich. Deren Sohn dagegen meinte, Séraphine hätte Talent und sollte weitermachen. Der größte Teil der frühen Werke von Seraphine ging verloren oder wurde, weil man sich deren Wertes nicht bewusst war, bei Entrümpelungen zerstört.

Nach ihrer Aussage griff Séraphine nicht aus eigenem Antrieb zu Zeichenstift und zum Pinsel. Über ihre Anfänge als Künstlerin berichtete sie jedoch Unterschiedliches. Sie erklärte, ihr Schutzengel habe ihr in der Kirche aufgetragen, mit dem Zeichnen zu beginnen. Gelegentlich behauptete sie aber, die Jungfrau Maria habe ihr den Befehl zum Malen erteilt. Diese Erscheinung der Muttergottes lokalisierte sie mal in der Kathedrale von Senlis, mal in ihrer Wohnung.

Um 1906 beschloss Séraphine, künftig nicht mehr bei ihrer jeweiligen Herrschaft zu wohnen. Sie mietete in der Rue du Puits Tiphaine im Haus Nr. 1 eine kleine Dachkammer, in der sie rund 25 Jahre wohnte. In ihrer Dachkammer malte Séraphine nur nachts und niemand durfte ihr dabei zusehen. Weil sie in der warmen Jahreszeit beim Malen ihr Fenster offenstehen ließ, hörte man in der Nachbarschaft und auf der Straße, dass sie schrill und falsch religiöse Lieder sang. Für Séraphine Louis war Malen ein Akt, ihre Bilder entstanden gleichsam in Trance.

Um 1910 trat Séraphine eine Stelle bei der Familie Duflos in Senlis an. Irma Duflos war Schneiderin und betrieb ein Modegeschäft. Sie erhielt von ihrer Aufwartefrau zahlreiche Gemälde, die sie meistens verschenkte. Manche ihrer Bilder malte Séraphine mit Farben aus dem Farbkasten von Pierre Duflos, dem Sohn von Madame Duflos.

In Senlis galt Séraphine als Sonderling. Stets trug sie einen flachen, schwarzlackierten Strohhut, über der Schulter abgeschnittene Haare, einen weiten und kurzen Schulterumhang (Pelerine), einen langen, schwarzen oder weißen Schal, einen knöchellangen, bauschigen, schwarzen Rock, und dicke Männerschuhe. Zu ihren belächelten Eigenheiten gehörte auch, dass sie mit Bäumen sprach.

Séraphine war in Senlis keineswegs einsam oder etwa gar von allen Einwohnern verachtet, wie manchmal in der Literatur fälschlicherweise behauptet wird. Sie hatte in der Gemüsefrau Mandine eine gute Freundin. Allabendlich bereitete Mandine aus unverkauften Resten eine Gemüsesuppe zu, die sie zusammen mit Séraphine aß. Die dankbare Séraphine Louis schenkte Mandine gelegentlich Bilder, die auf dem Speicher landeten. Diese Gemälde wurden nach dem Tod von Mandine und deren Schwester von deren Erben vernichtet.

Einer Entrümpelung des Speichers fielen auch drei große Gemälde zum Opfer, die Séraphine dem Lebensmittelhändler Esnaux in Senlis für ihren täglichen Rotwein überlassen hatte. Dessen beide Töchter warfen die Bilder während einer Reise des Vaters und der Mutter bei einer Aufräumaktion weg.

Werke

Inspiriert von ihren religiösen Überzeugungen malte Séraphine Louis ekstatische Visionen von Früchten, Blumen und Blättern auf einfarbigen oder horizontal geteilten Farbfeldern, die sie in Öl oder Ripolin ausführte. Die Kompositionen sind mit glänzenden, juwelenartigen Blumen besetzt, die aus grob definierten Zentren, darunter Baumstämmen oder Vasen, zum Bildrand hin erblühen. In späteren Arbeiten verschmelzen Figur und Grund zu einem dichten Geflecht, das die gesamte Leinwand in einem pulsierenden, sich windenden Rhythmus vereint. Aufzeichnungen von Louis' Halluzinationen und ihre Fixierung auf apokalyptische Zeiten, die während ihrer Einweisung dokumentiert wurden, bilden den Rahmen für die Deutung ihrer paradiesischen Flora und Darstellungen des Lebensbaums.

Während die meisten der in Louis' Werk dargestellten Blüten fantasievolle Hybriden sind, malte sie vergleichsweise häufig Gänseblümchen. In dem Bild „Marguerites“ reduzierte sie die weißen Blüten zu Wirbeln aus dünnen Pinselstrichen, die von leuchtenden, kugelförmigen Zentren nach außen strahlen. Eine Reihe stilisierter Blätter umrahmt die Blüten vor einem mysteriösen, dunklen Feld. Das Bild „Feuilles“ zeichnet sich durch ein spezifischeres Raumgefühl aus, auch wenn die schwärmende Blattmasse ausdrucksstark in die Pinselführung des gelben Hintergrunds übergeht. Wie in vielen ihrer späteren Arbeiten gruppieren sich winzige Farbkleckse und Farbtupfer dekorativ über die Oberfläche und verleihen dem Gemälde einen visionären Charakter.

Entdeckung durch Wilhelm Uhde

Entdecker und Förderer der Malerin in Senlis war der deutsche Kunstsammler und Kunstkritiker Wilhelm Uhde (1874–1947). Als er 1912 Urlaub in Senlis machte, sah eines ihrer Bilder und wurde durch Zufall auf die zurückgezogen und in Armut lebende Frau aufmerksam. Séraphine Louis war seine Zugehfrau. Dorfbewohnerinnen erzählten dem Kunsthändler, dass sie auch malte. Ein Stillleben mit Äpfeln erregte seine Aufmerksamkeit, und er merkte an: „Cezanne wäre glücklich gewesen, sie zu sehen.“ Séraphine lehnte alle Angebote Uhdes ab, ihre Bilder auszustellen oder zu verkaufen. Die ersten Werke, die Uhde von Séraphine Louis erworben hat, wurden während des Ersten Weltkriegs beschlagnahmt und verkauft. Ihr aktuelle Aufbewahrungsort ist unbekannt.

Auch als Wilhelm Uhde die Autodidaktin nach Kriegsende (1924) nochmals besuchte, stellte er der Malerin große Leinwände für Gemälde zur Verfügung. Obwohl er ihr Kontakte nach Paris anbot, weigerte sie sich, Senlis zu verlassen.

Psychische Erkrankung und Einweisung

Ab 1930 begann Séraphine Louis zunehmend unter Symptomen einer vermutlich bereits länger bestehenden psychischen Erkrankung zu leiden und verkündete den Weltuntergang. Sie verschleuderte ihr Geld, und ihre Wahnvorstellungen nahmen solche Ausmaße an, dass sie am 15. Februar 1932 in die Nervenheilanstalt von Clermont-sur-l’Oise eingewiesen wurde.

Der Kulturhistoriker Harald Keller stellte 2008 einen Zusammenhang her zwischen den von Séraphine Louis benutzten Farben und ihren intensiven, „psychedelisch“ anmutenden Bilderwelten. Louis arbeitete nachweislich mit hoch toxischen Materialien, für die heutzutage strenge Schutzregeln gelten. Als Atelier diente ihr winziger Wohnraum, in dem sie auch aß und schlief. Von entsprechenden Vergiftungserscheinungen, die Trugbilder und Wahnvorstellungen hervorrufen können, darf demnach ausgegangen werden.

Tod

In den zehn Jahren in der Nervenheilanstalt malte Séraphine Louis keine Bilder mehr.

Während der deutschen Besetzung für „Irrenanstalten“ angeordneten Versorgungsnotstands, verhungerte Séraphine Louis im Jahr 1942 im Alter von 78 Jahren. Sie wurde auf dem örtlichen Friedhof in einem Massengrab bestattet.

Ausstellungen und internationaler Ruhm – posthum

Nach ihrem Tode wurde Séraphine Louis vom internationalen Kunstpublikum gefeiert. Ihr Werk wurde erstmals umfassend als französischer Beitrag auf der zweiten Biennale in São Paulo (1951) gezeigt und auf der documenta I in Kassel (1955).

  • 1929: Les peintres du cœur sacré, Paris, eine Initiative von Wilhelm Uhde, mit André Bauchant, Camille Bombois, Henri Rousseau und Louis Vivin
  • 1932: Les primitifs modernes, Paris
  • 1937/1938: Les maîtres populaires de la réalité / Masters of Popular Painting, organisiert vom Musée de Grenoble, Paris, Zürich, MoMA New York
  • 1942: Les primitifs du XXe siècle, Paris
  • 1945: Séraphine Louis, Paris, Galerie de France: erste Einzelausstellung auf Initiative von Wilhelm Uhde
  • 1955: documenta 1, Kassel
  • 2008/2009: Séraphine de Senlis, Fondation Dina Vierny, Musée Maillol, Paris (1.10.2008–15.5.2009)

Séraphine Louis‘ Werke sind in folgenden Museen vertreten:

  • Museum Charlotte Zander in Bönnigheim (größte Sammlung an Arbeiten von ihr)
  • Clemens Sels Museum Neuss,
  • Musée National d’Art Moderne in Paris (Der rote Baum, 1927/1928),
  • Musée Maillol in Paris,
  • Musée International d’Art Naif Anatole Jakovsky in Nizza,
  • Musée du vieux-château in Laval,
  • Musée d’art in Senlis,
  • Musée d’art naïf in Béraut,
  • Musée d’art naïf in Vicq

Filme über Séraphine Louis (Séraphine de Senlins)

  • 2008: „Séraphine“. Filmbiografie. Regisseur: Martin Provost (Erstaufführung 1. Oktober 2008), Drehbuch von Martin Provost gemeinsam mit Marc Abdelnour. Yolande Moreau (Séraphine), Ulrich Tukur (Wihlem Uhde), Anne Bennent (Anne Marie Uhde), Geneviève Mnich (Madame Duphot), Nico Rogner (Helmut Kolle), Adélaide Leroux (Minouche), Serge Larivière (Duval), Francoise Lebrun (Ordensvorsteherin). Der Spielfilm gewann im Jahr 2009 sieben Césars, darunter in den Kategorien Bester Films und Beste Hauptdarstellerin (Yolande Moreau).
  • 1992: „Die Bilder einer Aufwartefrau – Séraphine Louis (1864–1942)“. Dokumentarfilm. Regisseurin: Lucie Herrmann. Deutschland, 1992, 14:40 Min., Produktion: WDR, Erstsendung: 9. Dezember 1992 bei West 3.

Literatur zu Séraphine Louis

  • The Shadow of the Avant-Garde: Rousseau and the Forgotten Masters, hg. v. Falk Wolf und Kasper König, Berlin 2016.
  • Hans Körner, Manja Wilkens, Séraphine Louis, 1864–1942: Biographie, Werkverzeichnis-biographie, Catalogue raisonné, Berlin 2009.
  • Séraphine de Senlis, hg. v. Lorquin Bertrand (Ausst.-Kat. Paris, Musée Maillol-Fondation Dina Vierny, Paris, 1.10.2008–5.1.2009), Paris 2008.
  • Wilhelm Uhde, Five Primitive Masters, New York 1949.
  • Wilhelm Uhde, Cinq maîtres primitifs, Paris 1949.

Bilder

  • Séraphine Louis, L'Arbre de vie [Lebensbaum], 1928, Öl/Lw, 114 x 112 cm (Musée d'Art et d'Archéologie, Senlis)
  • Séraphine Louis, Pommes aux feuilles, 1928–1930, Öl/Lw, 116 x 90 cm (Collection Dina Vierny)
  • Séraphine Louis, Feulles diaprees sur fond bleu (Privatsammlung)