Das Privatmuseum von Heidi Goëss-Horten eröffnete am 3. Juni 2022 in der Wiener Innenstadt. In nur knapp zwei Jahre Bauzeit verwandelten the next ENTERprise architects das ehemalige erzherzogliche Kanzleigebäude im Hanuschof nebst der Albertina in ein Schmuckkästchen für moderne Kunst. Historische Fassade trifft auf völlig neu gestalteten Innenraum. Schwebende Treppen verbinden drei Ausstellungsebenen. Ein Tearoom lädt zum kunstvollen Verweilen ein. Stilsicher und großzügig wird die hochkarätige Heidi Horten Collection der Öffentlichkeit vorgestellt.
Österreich | Wien: Heidi Horten Collection
3.6. – 3.10.2002
Im Innenhof des Hanuschhofs versteckt sich ein neues Architekturjuwel Wiens, das nunmehrige Palais Horten. Erzherzog Albrecht (1817–1895), ältester Sohn des als „Sieger von Aspern“ in die österreichische Geschichte eingegangenen Erzherzog Carl, ließ das Areal auf der ehemaligen Augustinerbastei in den frühen 1860er Jahren im historistischen Stil bebauen. Architekt des sog. „Unteren Albrechtspalais“, durch das man in den Hof gelangt, war Anton Hefft.
Als 1857 entschieden wurde, die Basteien und Stadtmauern abzureißen, befanden sich dort die Verwaltungsgebäude des Albertina Palais (auf der Stadtmauer-Plattform), die Pferdeställe für über 100 Tiere (etwas tiefer) und eine Reithalle (auf der Bastei). Erzherzog Albrecht verlor durch den Abriss Gebäude, die er durch einen Baublock an der Ringstraße (zwischen Burggarten und Hof- bzw. Staatsoper) kompensieren konnte. Anton Hefft entwarf einen L-förmigen Baukörper mit Blick auf den Burggarten, der als „Unteres Albrechtspalais“ bezeichnet wurde. Eine Reitschule im Innenhof, die später zu einem Kanzleigebäude umfunktioniert wurde, rundete das Ensemble ab.
Obschon Kaiser Franz Joseph I. damit spekuliert hatte, dass die Ringstraße der Prachtboulevard des Adels werden würde, sollte es anders kommen (→ Die Wiener Ringstraße). Neben der Hof- und heutigen Staatsoper und in Nachbarschaft von Erzherzog Albrecht bauten Bürgerliche wie die Bankiers Friedrich Schey von Kormola (Palais von Romano/Schwendenwein) und Adalbert von Zinner (von J. Hlávka), der Besitzer der Schwechater Brauerei Anton Dreher (von F. Ehmann (?), abgerissen) sowie der Gründer der Liesinger Brauerei Moritz Faber (von Romano/Schwendenwein, umgebaut durch Erich Boltenstern 1958) und die Industriellen Franz Mayr von Melnhof (von Anton Hefft) sowie Michael Hainisch (von F. Fellner d. Ä.).1
Erzherzog Friedrich erbte 1895 den Besitz von Erzherzog Albrecht und ließ 1914 die Reithalle in ein „neues Bureauhaus“ umbauen.2 Im Erdgeschoss zogen erstmals Automobile und darüber Mitarbeiter:innen ein. So überstand es nahezu unverändert das 20. Jahrhundert. Heidi Goëss-Horten erwarb das Gebäude 2019, um ihre umfangreiche Kunstsammlung in Wien zu präsentieren. Der große Publikumserfolg der Ausstellung „WOW!“ im Leopold Museum hatte diese Entscheidung maßgeblich vorangetrieben (→ Heidi Horten Collection im Leopold Museum: von Klimt, Chagall, Warhol bis Basquiat).
Aus dem geladenen Wettbewerb gingen the next ENTERprise architects, bestehend aus Marie-Therese Harnoncourt-Fuchs und Ernst J. Fuchs, als Gewinner hervor. Ihnen gelang es, die historische Substanz mit einer modernen, offenen Ausstellungspräsentation in Einklang zu bringen. Sie öffneten das Haus an einer Ecke und im Erdgeschoss zum neugeschaffenen Park hin, um ein großzügiges Entrée zu ermöglichen. Das entkernte Innere behielt sonst seine Eckkabinette, wodurch abgeschlossene, intimere Räume für Präsentationen etwa von Videoarbeiten genutzt werden können. Die Fenster sind mit Gaze abgedeckt, was das Innere in ein weiches, wechselndes Licht taucht. Zusätzliche Beleuchtung bieten die Decken. Weithin Beachtung finden jedoch die schwebenden Ausstellungsebenen und die Treppen, mit wahrhaft skulpturalem Charakter.
Die im begleitenden Buch veröffentlichte Baudokumentation von Stefan Oláh gibt beredt Einblick in die Transformation des Gebäudes. Der Eingriff war durchaus massiv, wurde doch das gesamte Dach abgetragen. Vom entkernten Bau blieben fast nur noch die Außenmauern stehen. Moderne Technik und neues Raumkonzept – Atrium mit Auditorium und zwei Plateaus mit vier Kabinetten – zogen ein. Das Farbkonzept verbindet Schönbrunner Gelb an der Fassade mit rotem Terrazzo, roséfarbenen Unisex-Waschräumen, gebürstetem Aluminium und pastellgelber Treppe. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Das Palais Horten ist ein Schmuckstück mit rund 1.500 m² Ausstellungsfläche und einem Museumsvorplatz samt Skulpturengarten von 352 m².
Für die erste Sammlungspräsentation entschied sich Direktorin Agnes Husslein-Arco für eine schlanke und doch inhaltlich dichte Hängung, wunderbar orchestriert von Christiane Kuhlmann (Sammlungsleitung & Kuratorin) und Rolf H. Johannsen (Chefkurator). Die Heidi Horten Collection eröffnet mit der Ausstellung „OPEN“ und rückt dabei die außergewöhnliche Architektur des Hauses in den Fokus, lässt Besucher:innen die neuen Räumlichkeiten erleben und setzt das Gebäude mit 33 ausgewählten Skulpturen, Lichtarbeiten und Installationen wirkungsvoll in Szene. Die gezeigten Werke demonstrieren die Weiterentwicklung der Sammlung mit Blick nach vorne, der in der Erweiterung um neue mediale Formate und junge, zeitgenössische Positionen Ausdruck findet.
Die Ausstellung gliedert sich in drei Kapitel. Das erste fokussiert auf die Lichtarbeiten der Sammlung – ein kleines, aber hochkarätiges Konvolut, das 2001 mit dem Ankauf eines Objekts aus Neonröhren von Dan Flavin seinen Anfang nahm. Ein weiterer Bereich befasst sich mit Schrift als Phänomen, das sowohl in klassischen Gemälden wie auch in Leuchtarbeiten der Sammlung originärer Bestandteil des Kunstwerkes ist. Ein drittes Kapitel schließlich widmet sich Arbeiten der Sammlung, die von der existenziellen Auseinandersetzung des Menschen im Spannungsfeld von physischer Außenwelt und seelischem Innenleben erzählen sowie seinem Verhältnis zu Tier und Natur nachspüren.
Bereits im Skulpturengarten und dann erst recht im Atrium wird das Tier zum Hauptakteur zeitgenössischer Kunst: Barry Flanagans Hasen, einer davon als Vaclav Nijinskij vielleicht eine humorvolle Anspielung auf die in der Nachbarschaft beheimatete Ballettschule der Staatsoper, François-Xavier Lalannes sehr großer Menschenaffe und Claude Lalannes goldglänzender Hase agieren wie Menschen. Die Tierfreundin Heidi Goëss -Horten ließ sich von Constantin Luser eine „Vibrosauria“ (2022) ein weibliches Dinosaurier-Musikinstrument erschaffen, das bis zu 24 Musiker*innen bespielen können. Mit seinem 6,22 Meter hohen „Hals“ scheint es über die Brüstung in das erste Plateau zu schauen.
Tierisch geht es dort mit Lena Henkes „UR Mutter“ von 2019 weiter. Nun ist es der Umgang des Menschen mit dem produzierenden Tier, das Leid und die artgerechte Haltung, welche die Künstlerin zu dieser ikonischen Darstellung antrieb. Ob George Condos wurstähnliches Objekt gleich daneben eine ironische Anspielung auf das Schicksal der Sau ist, bleibt offen. Ihr gegenüber verleiht Philipp Timischl in „Drip/Drop“ (2020) einem kleinen Hund einen großen Auftritt! Die tanzende Attraktion erhält ob seines artistischen Talents viel Beifall – und gleichzeitig wird das Werk als Hommage an die TikTok-Kultur und als medienkritische Analyse zu verstehen sein. „The World of Desire“ (2010) von Marc Quinn überträgt die seit einigen Jahren omnipräsente Orchidee mit einem weiß bemalten Bronzeguss ins Monumentale. Hier ist es die Blume, die millionenfach gezüchtet und häufig nach dem Erblühen entsorgt wird. Dass Damien Hirst für „Love, Love, Love“ (1994/95) Schmetterlingen eine klebrige Falle stellte, führt immer wieder zu heftigen Debatten über Moral in und Grenzen der Kunst. Konservierte Schönheit (der Schmetterlingsflügel) und Tod bilden seither zwei Eckpfeiler seiner Kunst. Das Tier als der bessere Mensch ist die Grundannahme in Erich Kästners „Die Konferenz der Tiere“ (1949) – und Ausgangspunkt für Ulrike Müllers Wandteppich „Rug (las criaturas)“ (2021).
Nicht vergessen werden sollte Andreas Duschas Tripel „Tulpenmanie“, „Revolution“ und „Invasion“ (alle 2022). Der österreichische Künstler war eingeladen worden, Spiegel für die Waschräume zu gestalten. In Anlehnung an abundante Blumensträuße, die sich an solchen Orten (manchmal) finden, schuf Duscha Arrangements mit politisch-historischem Hintergrund. Die Blume als Symbol für den ersten Börsen-Crash der Geschichte, für Revolutionen aber auch das Phänomen der invasiven Ausbreitung nichtheimischer Pflanzen und deren Folge für das Ökosystem.
Zu den Überraschungen der Ausstellung zählt zweifellos das Konvolut an Lichtarbeiten: John M Armleders „Ohne Titel (Target)“ (2001) ist im Jahr von 9/11 entstanden. Das britische Künstlerpaar Tim Noble & Sue Webster ist mit zwei Arbeiten vertreten: „Fucking Beautiful (Hot Pink Version)“ (2000) und „Forever“ (1996) lassen die Neon- und Lichtästhetik des 20. Jahrhunderts wieder auferstehen. Die 2022 verstorbene Brigitte Kowanz ist mit „Light up“ von 2010 vertreten und der Großmeister der Lichtkunst, Dan Flavin, mit „Untitled (Fondly, to Helen), 1976. Flavin erweist der Kunsthistorikerin Helen Winkler, die als „Schirmherrin“ der Minimal Art und Konzeptkunst im New York der 1960er Jahre für Flavins Werdegang von großer Bedeutung war, seine Reverenz.
Mit Joseph Kosuths „No Number #3 (Not On Color Red)” von 1990 gelingt im Kabinett IV auch der Übergang zu den Text-Bild-Arbeiten. Das Wittgenstein-Zitat „Language must speak for itself“ [Sprache muss für sich selbst sprechen]“ stellt das Kommunikationsmittel ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Während man noch über die Bedeutung dieses Satzes nachdenkt, schweift der Blick über Jean-Michel Basquiats späte Zeichnung „Untitled“ (1986), in der er Text und Bildelemente miteinander verbindet, Robert Rauschenbergs „Dry Run“ (1963), Nick Oberthalers „O. T. (OS-OS-OS-OS-SO-S)“ (2019) und Alighiero Boettis „Primo giorno di agosto“ (1988). Auf höchst individuelle Weise thematisieren alle Künstler/Werke Schrift zwischen Bedeutung und Form-Ästhetik.
Über diese Themenschwerpunkte hinausgehend, ergänzen noch Werke von Lucio Fontana, Margherita Spiluttini (Fotografien u.a. aus Schloss Schönbrunn, Berglzimmer), Skulpturen von Franz West, Erwin Wurm, Robert Rauschenberg und Stephan Balkenhol, Philippe Bradshaw, eine Kollaboration von Jean-Michel Basquiat und Andy Warhol die Auswahl. Markus Schinwald konnte gewonnen werden, den Tea Room zu gestalten, dessen Decke mit einer skulpturalen Arbeit von Hans Kupelwieser ausgestattet wurde. Einladend und bequem ist er, und erinnert nicht von ungefähr an die Logen der benachbarten Staatsoper.
Mit Werken von John M Armleder, Stephan Balkenhol, Jean-Michel Basquiat, Alighiero Boetti, Philippe Bradshaw, Andreas Duscha, Barry Flanagan, Dan Flavin, Lucio Fontana, Lena Henke, Damien Hirst, Joseph Kosuth, Brigitte Kowanz, Hans Kupelwieser, Claude und François-Xavier Lalanne, Constantin Luser (→ Constantin Luser: Musik zähmt die Bestie), Ulrike Müller, Tim Noble & Sue Webster, Nick Oberthaler, Stefan Oláh, Marc Quinn, Robert Rauschenberg, Lili Reynaud-Dewar, Margherita Spiluttini, Philipp Timischl, Andy Warhol, Franz West, Erwin Wurm.