Welche Rolle spiele das Unheimliche im Werk des norgewischen Malers und Druckgrafikers Edvard Munch? Wie prägte sie sein Verhältnis zu Frauen und vice versa? Die Ausstellung „Edvard Munch und das Unheimliche“ im Leopold Museum präsentiert den norwegischen Künstler in Österreich erstmals im Kontext des Symbolismus. 37 Leihgaben des Munch Museums in Oslo bilden das Rückgrat der Präsentation. Ergänzt werden sie durch etwa 170 Werke des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.
Österreich | Wien: Leopold Museum
16.10.2009 – 18.1.2010
Der Begriff des „Unheimlichen“ ist mit der Forschung Sigmund Freuds aufs Engste verbunden. 1919 publizierte der Wiener Psychoanalytiker einen Artikel, in dem er versuchte, diese Stimmungslage zu definieren und zu beschreiben. Seiner Ansicht nach sei das Unheimliche mannigfaltig und erstrecke sich von der Verdoppelung des Ich (d.h. dem lebenden Toten), dem wiederkehrenden Verdrängten (d.h. alles, was im Verborgenen bleiben hätte sollen), dem Tod selbst (als Feind des Lebenden) bis hin zum Verwischen der Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit. Einige Künstler des 19. Jahrhunderts - wie James Ensor, Odilon Redon - waren fasziniert vom Grotesken und Unheimlichen. Wichtige Vorbilder für die Künstler der Jahrhundertwende waren u.a. Francisco de Goya und Heinrich Füssli. Vor allem der spanische Hofmaler Francisco de Goya (→ Francisco de Goya. Werke) - und aus seinem Œuvre die Druckgrafiken - faszinierte durch seine schonungslose Offenlegung menschlicher Abgründe und Ängste, Aberglaube und Wahn. Vor allem die Autoren Victor Hugo und Edgar Allen Poe fanden in diesen Bildern den Ausdruck ihres Kunstwollens auf visueller Ebene. Das Groteske und Grauenerregende konnte Thema der bildenden Kunst werden. Die folgende Generation, die sich unter dem Begriff des Symbolismus gruppieren lässt, sollte sich dem Sublimen völlig verschreiben.
Für Munch bedeutete Symbolismus, wie er selbst dokumentierte, die „Verwandlung der Natur, entsprechend den Stimmungen des Künstlers“.1 Ähnlich beschrieb auch der polnische Schriftsteller Stanislaws Przybyszewski in dem 1894 in Berlin erschienen Buch Das Werk des Edvard Munch die Beziehung des Malers zu symbolistischen Literatur eines Maeterlinck und Mallarmé:
„Munch hat eine Tradition, freilich eine, von der er kaum etwas wissen wird, nämlich eine litterarische. Es giebt nämlich in Brüssel und Paris eine Anzahl selbstverständlich „ganz verrückter“ Menschen, die auf eine selbstverständlich „ganz hirnverbrannte Idee“ verfallen sind, die feinsten und subtilsten seelischen Associationen, die leisesten und intimsten Gefühlsäußerungen, die wie Schatten durch die Seele huschen, in Worten wiederzugeben.“
Der norwegische Maler Edvard Munch (1863–1944) gehört zweifelsohne zu den sog. Vätern der Moderne und den Hauptvertretern des Symbolismus. Diese ab den 1870er-Jahren in Europa entwickelte Richtung in den bildenden Künsten, der Literatur und der Musik verbindet weniger ein einheitlicher Stil als eine gemeinsame Geisteshaltung. Nach Hans H. Hofstätter wollten die Symbolisten mit Hilfe irrealer Motive ausdrücken, dass „die sichtbare, messbare und damit auch die erforschbare Welt nur den Vordergrund eines nicht fassbaren Weltzusammenhangs darstellt“2. Jean Moréas beschrieb im Symbolistischen Manifest, das am 18. September 1886 veröffentlicht worden war, das Wollen dieser „neuen Schule“ wie folgt:
„Feind allen Wortgepränges, aller falscher Empfindsamkeit, aber auch aller objektiven Beschreibung, sucht die symbolistische Poesie die Idee in eine sensitive Form zu kleiden, die aber nicht sich selbst genügt, sondern der Idee untergeordnet wird; die Form dient der Idee als Medium des Ausdrucks. (…) die wesentlichen Eigenschaften der symbolistischen Kunst besteht darin, die Idee niemals begrifflich zu fixieren oder direkt auszudrücken.“3
In seinen ab den späten 1880ern entwickelten Kompositionen thematisierte Edvard Munch die Ängste seiner Zeit: Krankheit und Tod sowie Weiblichkeit und Geschlechterkampf als Symbole für Werden und Vergehen, für Schmerz und Freude, für das Leben schlechthin. Es gibt kaum einen Künstler des späten 19. Jahrhunderts, bei dem die eigene Biografie eine derart große Rolle für das Entstehen der Werke gehabt hätte. Munch hat diesen Mythos durch eigene Aussagen genährt. So meinte der norwegische Maler über seine Arbeiten4:
„Diese Bilder sind allgemeine Stimmungsmalerei, Eindrücke des Seelenlebens, die zusammengenommen eine Entwicklung im Kampf zwischen Mann und Frau bewirkten, den man Liebe nennt. Von Anfang an, beinahe schon zurückgewiesen, führte sie zu den Bildern „Der Kuss“ und „Liebe und Schmerz“, wo der Kampf als solcher begonnen hat. Das Bild der sich hingebenden Frau, die mit einer gequälten Schönheit einer Madonna versehen ist. Das Geheimnis liegt in einer kollektiven Entwicklung. Die Frau, in all ihrer Vielfalt, ist ein Mysterium für den Mann – die Frau, die zugleich Heilige, Hure und dem Mann unglücklich ergeben ist. Eifersucht, ein unermesslicher, öder Strand. Das Haar der Frau hat ihn umwunden und ist in sein Herz eingedrungen. Der Mann ist verzweifelt vom Kampfe. Eine kränkliche Atmosphäre in der Natur erscheint ihm wie ein unermesslicher Schrei – diese blutroten Wolken wie tropfendes Blut. (Das Mädchen mit den Händen) Lust.“5
In Munchs Werk sind es nicht mehr mythische oder auch historische Frauenfiguren, welche den Künstler – wie etwa noch Franz von Stuck oder auch Gustav Klimt6 – zu neuen Bildwelten inspirierten, sondern die Frauen aus seiner engsten Umgebung: seine älteste Schwester Sophie, seine Mutter, seine „Musen“ wie Tulla Larsen und die britische Geigerin Eva Mudocci.
„Der Schrei“ ist vermutlich das bekannteste Gemälde von Edvard Munch. Die Komposition geht zurück auf ein Gemälde, das etwa 1892/93 entstand. Munch beschrieb in seinen literarischen Tagebüchern der 1890er Jahre, wie er auf die Idee zu dieser Komposition gekommen war:
„Ich ging mit zwei Freunden einen Weg entlang. / Die Sonne ging gerade unter. / Ich fühlte einen Hauch Melancholie / Plötzlich wurde der Himmel blutrot / Ich blieb stehen und lehnte mich an das Geländer, / totmüde / sah ich auf zu flammenden Wolken, die hingen / wie – Blut und ein Schwert über dem / tiefblauen Fjord und die Stadt. / Meine Freunde gingen weiter – Ich stand da, / Zitternd vor Angst. / Und ich fühlte das große, unendliche Geschrei durch die Natur hallen.“
Für Edvard Munch war diese Erinnerung derart bedeutend, dass er in einigen Drucken die letzte Zeile des Gedichts sogar zitierte. Die Gegenüberstellung von Beschreibung und Bild lassen uns die Arbeitsweise des norwegischen Malers nachvollziehen. Munch malte nie nach der Natur; er malte nie was er mit den Augen sah, sondern was er mit seiner Seele wahrnahm. Für Munch war Kunst daher das Gegenteil zur Natur, da sie aus dem Innersten des Menschen kam. Der französische Vordenker des Symbolismus Joris-Karl Huysmans hatte über diese „schwarze Seite der Romantik“ geschrieben:
„Es geht nicht darum, die Natur zu beobachten, oder in ihr eine göttliche Botschaft zu lesen, sondern in Verbindung zu treten mit dem Ungewöhnlichen, das den Geist von der vertrauten Welt entfernt, der Neurose eine Stimme und der Angst eine Gestalt gibt, und dem tiefsten Traum, und sei er noch so bedrohlich, ein Gesicht verleiht.“
„Der Schrei“ von Edvard Munch wirkt in diesem Kontext gleichsam wie eine wörtliche Umsetzung der symbolistischen Maxime – nicht das Sichtbare wiederzugeben, sondern das Unsichtbare, das Unheimliche des Selbst in Bilder zu fassen.
Der Kritiker Sigbjørn Ostfelder erkannte schon früh, dass Munch Schmerz, Schrei, Melancholie und Verfall mit Hilfe von Farben ausdrückte. In der Lithographie setzte sie der Künstler in schwarze und weiße Kraftlinien um. Obwohl der Künstler von einer persönlichen Erfahrung der Ohnmacht zu diesem Bild inspiriert wurde, steht das Werk für sich allein. Das „Geschrei“ verstört auch durch die eigenartig schlangenförmige Figur im Vordergrund. Welche Kraft in dieser Darstellung liegt, zeigt ein Vergleich mit der realistischen Vorstudie „Verzweiflung“ (1892, Stockholm)
„Angst“ wurde 1894 gemalt und entstand in direkter Abhängigkeit von „Der Schrei“. Munch übernahm die Darstellung von Kristiania (heute: Oslo), dem Fjord und den Schiffen wie auch die räumliche Lösung weitgehend. Während in der Lithographie „Geschrei“ seine eigene Person im Zentrum steht, wählte Munch ein Jahr später die Gesellschaft selbst als Motiv. Nun starren weit aufgerissene Augen aus unzähligen Gesichtern aus dem Bild. Das elektrische Licht taucht ihre Hautfarbe in phosphoreszierendes Gelb und lässt sie wie Gespenster wirken. Die aufgewühlte Natur, vor allem der blutrote Himmel, spiegelt die Gefühle der Menschheit wider. „Ich sah all die Menschen hinter ihren Masken – phlegmatisch lächelnde, zusammengefügte Gesichter. Ich sah durch sie durch und da war Leiden – in ihnen allen bleiche Körper – die, ohne zu verweilen, einen gewundenen Weg umherliefen, am Ende dessen war das Grab.“ (Munch)
Bereits die französischen Impressionisten wie Gustave Caillebotte hatten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Thema des Flaneurs entdeckt. Gut gekleidete, bürgerliche Männer durchstreifen die prächtigen Boulevards von Paris. Die Stadt und das moderne Leben darin wurden zum wichtigen Thema für die Malerei. Auch Munch malte während seiner Paris-Aufenthalte in den 1880er Jahren solche Szenen in postimpressionistischem Stil. Doch kurz nach 1890 gelangte er zu der, für ihn typischen Auffassung, dass sich die Wahrnehmung durch den psychischen Zustand des Betrachters verändere. In diesen Jahren entwickelte er aus persönlichen Erinnerungen jene Bilder von Liebe, Tod und Angst, die zu Ikonen des 20. Jahrhunderts wurden. Die extreme Perspektive, ein nervöser Rhythmus und eine persönlich motivierte Auswahl der Farben sind die wichtigsten Elemente seiner bedrängenden, unheimlichen Kunst.
Der persönliche Zugang Edvard Munchs zum so traditionsreichen Thema „Landschaft“ zeigt sich im Vergleich zu Karl Wilhelm Diefenbach. In Diefenbachs Werk ist es nicht der Mensch, der seine Seelenqual hinausschreit, sondern die verlebendigte Natur. Als Vegetarier und Lebensreformer war Diefenbach der Überzeugung, dass die Ausbeutung der Natur durch Industrie und Wissenschaft dereinst in der Revolution ersterer enden würde.
Zu den eindringlichsten Darstellungen der Frau im Werk von Edvard Munch zählt zweifelsohne „Madonna“ (1894). Das 1895 entstandene Gemälde, das zwischen 1896 und 1902 in mindestens sechs Lithografien wiederholt wurde,7 kann als Hauptwerk des Künstlers aber auch als eine der einprägsamsten Konstruktionen des Weiblichen Ende des 19. Jahrhunderts angesehen werden. „Madonna“ zeigt den Dreiviertelakt einer Frau. Ihr Kopf ist leicht nach hinten gelegt, ihre Augen sind geschlossen und das schwarze Haar mit dem rostrot eingefärbten „Heiligenschein“ umspielt ihr bleiches Antlitz. Wellen umgeben die Dargestellte, so dass sich Körper und Umraum harmonisch ineinander fügen. Dadurch entsteht ein Wechselspiel von Entblößen und Verdecken. Die Madonna wirkt gelöst und fragil – und posiert doch erotisch. Munch schrieb selbst in seinem literarischen Tagebuch über das Bild:
„Die Ruhe, als die ganze Welt in ihrem Lauf innehielt. Dein Gesicht schließt die Schönheit der ganzen Welt in sich ein. Deine Lippen, karmesinrot wie die heranreifende Frucht, öffnen sich im Schmerz. Das Lächeln gleicht einer Toten. Jetzt reicht das Leben dem Tod die Hand. Die Kette wird geschlossen. Sie bindet die tausend Generationen, die gestorben sind, an die tausend Geschlechter, die kommen.“8
Zwischen 1893 und 1902 beschäftigte sich Edvard Munch in Gemälden (1894–1895) und Drucken mit dem Motiv der nackten Frau als Symbol für Sexualität und Fortpflanzung. Direktor Jens Thiis erst taufte die Komposition listig „Madonna“, um eines der Gemälde für die Nationalgalerie in Oslo ankaufen zu können.9 Munch sah es gern, wie der Bankier und Schriftsteller Rolf Stenersen in seiner Biografie schrieb, wenn Kritiker seine Bilder mit poetischen Titeln ausgedeutet haben.10 So hatte dieses Werk auch von ihm selbst die Bezeichnungen „Die Frau, die liebt“ und „Empfängnis“, letztere wurde von August Strindberg geprägt, getragen.11 Strindberg hatte in der für ihn typischen misogynen Art über das Bild gemeint:
„Empfängnis – Unbefleckt oder nicht, es kommt auf dasselbe raus: der rote oder goldene Heiligenschein krönt die Vollendung eines Aktes, der einzige Grund für die Existenz dieses Wesens, ohne Existenz seiner selbst.“12
Wichtig für unsere Fragestellung um die Darstellung der Frau im Symbolismus ist, dass das Bild eines erotischen, vulgo in der Diktion der Zeit unsittlichen Frauenaktes mit der Ehrenbezeichnung der Muttergottes in enge Verbindung gebracht wird. Hier zeigen sich bereits die beiden wichtigsten „Frauentypen“ des Symbolismus in einer Person: die Unberührbare und Entrückte aber auch die aktive Verführerin.
Für die Lithografie steigerte Munch diese Ausdeutung m.E. noch, indem er das „Madonnenbild“ rahmte und die nun entstandene Fläche mit Spermien und einem Embryo füllte.13 Beide Symbole müssen als Verweise auf Empfängnis und Geburt gedeutet werden. Vor allem durch die Gegenüberstellung des ekstatischen Frauenkörpers und des fremdartigen, scheinbar körperlich missgestalteten Embryos entsteht der Eindruck des Unheimlichen. Der kauernde Fötus wird nicht als Hoffnung verheißendes Symbol des Lebens präsentiert, sondern sein riesiger Kopf und die dünnen Gliedmaßen lassen ihn kränklich wirken. Hier darf die Frage gestellt werden, ob Munch damit nicht auf eine der gefährlichsten Krankheiten der Jahrhundertwende – die Syphilis – anspielen wollte. Das zwischen 1897 und 1899 entstandene Gemälde „Erbe“ oder „Das Syphiliskind“ zeigt in erschreckender Weise ein wohl krank geborenes Kind und die Trauer seiner Mutter. Das schonungslose Zusammenführen von Sexualität und Tod, oder wie Freud es ausdrückte, von Eros und Thanatos, hatte mit der Ansteckungsgefahr einen zeitgenössischen Hintergrund, und Munch fand dafür mit dem Bild „Erbe“ eine realistische und mit der erweiterten Lithographie „Madonna“ eine allegorische Umsetzung.
Mit „Madonna“ fügte sich Edvard Munch nahtlos in die Weiblichkeitsauffassung der Symbolisten ein und ergänzt damit eine Reihe von Werken, die die Frau als Zuständige für den Lebenskreislauf und daher Verkörperung des Natürlichen, als Personifikation der Ursünde aber auch als Heilige oder Madonna inszenierten. Ein besonders wichtiges Beispiel im Werk Edvard Munchs hierfür ist die Darstellung „Die Frau (Sphinx)“, oder auch „Die drei Alter der Frau“ (1893–1894) genannt. Die Frau wird in dieser Komposition als eine Dreiheit aufgefasst. In einem Gespräch mit Hendrik Ibsen deutete der Maler das Bild als Darstellung der linken Frau als Träumerin, als liebende und Leben spendende Frau in Mitte und der Frau als Nonne.14 Die weiß Gekleidete wendet sich dem Meer zu, was Munch bereits seit seinem Frühwerk als Metapher für Melancholie und Träumerei einsetzte („Melancholie“, 1891, „Abend“, 1888) bzw. in Bildern von Trennung für die sich vom Mann abwendende Frau in „Loslösung“. Die Liebende in „Die Frau“ erinnert in ihrer Körperhaltung an die „Madonna“, während sich die Nonne von beiden abwendet und mit fahlem Gesicht sich in einigen Fassungen dem Wald zuwendet. Gleichzeitig soll das Gemälde aber auch den „Lebenszyklus“ einer Frau, ihrer Entwicklung vom Mädchen zur Geliebten und der Alten, darstellen. Manchmal stellt sich Edvard Munch selbst neben diese Dreiheit von Weiblichkeit dar, ohne innerbildlichen Kontakt zu dieser Imagination aufzunehmen.
Diese Auffassung und Konstruktion von Weiblichkeit im Symbolismus lässt sich nicht ohne die Kenntnis der idealistischen Philosophie des beginnenden 19. Jahrhunderts – in diesem Kontext sind vor allem Schopenhauer und Hegel zu nennen – und die darauf aufbauende Literatur Baudelaires, d`Aurevillys oder Ibsens verstehen.
Munchs Meinung von Frauen als Gegenteil der Männer, als Verkörperung der Natur wird in der Philosophie des deutschen Idealismus begründet und theoretisch ausformuliert. Arthur Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung von 1819 ist hier als Schlüsselwerk zu nennen. Darin definierte der Philosoph den Geschlechtstrieb nicht als bedeutend für die Arterhaltung, wobei er den Mann „von Natur zu Unbeständigkeit in der Liebe, das Weib zu Beständigkeit“ geneigt sieht.15
„Jenes lebhafte, oder gar innbrünstige, auf ein bestimmtes Weib gerichtete Verlangen ist sonach ein unmittelbares Unterpfand der Unzerstörbarkeit des Kerns unseres Wesens und seines Fortbestandes in der Gattung.“16
Seine grundsätzliche Ablehnung der Frau findet der Philosoph in der griechischen Antike bestätigt und führt an, dass nach Plutarch und Laktanz „Plato der Natur [gedankt hätte], dass er ein Mensch und kein Thier, ein Mann und kein Weib, ein Grieche und kein Barbar geworden sei.“17 Die Frau, so Schopenhauer, wäre aufgrund ihres Wesens nicht zur abstrakten Vernunft begabt, sondern verfüge über eine intuitive Erkenntnis.18 „Weiber können bedeutendes Talent, aber kein Genie haben: denn sie bleiben stets subjektiv.“19
Diese Auffassung, dass die Frau intuitiv ihren Natur gegebenen Instinkten folge, dass sie reines (d.h. ungefiltertes) Gefühl darstelle, wurde am Beginn des 19. Jahrhunderts nicht nur von Schopenhauer vertreten, sondern findet sich ebenso in der 1807 erstmals publizierten Phänomenologie des Geistes von Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Diese deutlich stärker von christlichen Sitten- und Moralvorstellungen geprägte Schrift zelebriert die Schwester als „die höchste Ahndung des sittlichen Wesens“:
„Das unvermischte Verhältnis aber findet zwischen Bruder und Schwester statt. Sie sind dasselbe Blut, das aber in ihnen in seine Ruhe und Gleichgewicht gekommen ist. Sie begehren daher einander nicht, noch haben sie dies Für-sich-Sein eins dem anderen gegeben, noch empfangen, sondern sie sind freie Individualität gegeneinander. Das Weibliche hat daher als Schwester die höchste Ahndung des sittlichen Wesens; zum Bewusstsein und der Wirklichkeit desselben kommt es nicht, weil das Gesetz der Familie an-sich-seiende, innerliche Wesen ist, das nicht am Tage des Bewusstseins liegt, sondern innerliches Gefühl und das der Wirklichkeit enthob‘ne Göttliche bleibt.“20
Durch die Blutsverwandtschaft hätte der Mann kein erotisches Interesse an dieser Frau, weshalb sie ihm nicht zur Gefahr werden kann. Wie noch zu zeigen sein wird, hat Edvard Munch neben seinen Darstellungen der erotischen femme fatale noch Bilder seiner kranken Schwester Sophie gemalt („Das kranke Kind“), in denen der Aspekt des Häuslichen, der Unentrinnbarkeit von Krankheit und Tod wie auch das „Eingefangensein in dem Innenraum des Ichs“21 thematisiert werden.
Kennzeichen des Symbolismus ist seine enge Verbindung von Literatur und bildender Kunst.22 Vorbilder wie der französische Autor Charles Baudelaire (1821–1867) postulierten bereits zur Jahrhundertmitte in der Nachfolge Schopenhauerscher Theorien, dass die Frau das Gegenteil des hochstilisierten Künstler-Dandy sei. Seiner Ansicht nach sei „die Frau (…) natürlich, das heißt, das Gegenteil des Dandy.“23 Während der Dandy mit seinem zur Schau gestellten Gleichmut, seinem heroischen Stoizismus und seiner Kälte der Reflexion das Künstlerideal des französischen Dichters darstellte, würde die Frau durch ihr naturverwandtes Wesen bestimmt werden. Diese Auffassung setzte voraus, dass nur dem Mann Kultur, höhere Bildung und Bewusstsein gegeben sei und die Frau die Natur, die es zu bändigen galt, repräsentierte.
Das Werk Baudelaires ist weithin durchsetzt mit seiner Vorstellung einer zweifachen Typisierung der Frau, die zuvor in Munchs „Madonna“ nachzuweisen war: die anbetungswürdige Jungfrau und die diabolische, den Mann verführende „Maîtresse“. Wer die berühmten 100 Gedichte der Fleurs du Mal (Die Blumen des Bösen), die erstmals 1867 publiziert worden sind, aufmerksam nach Frauenbildern durchkämmt, wird schnell fündig werden. So fleht der Ich-Erzähler, der mit dem Autor wie auch dem Leser gleichzusetzen ist, in Gedicht XXIV eine kalt Schweigende an: „Dich bet ich an wie nächtiger Wölbung Schauer, / O mächtige Schweigerin, o Kelch der Trauer, / Und lieb dich, Schöne mehr noch, weil du fliehst…“24
Im darauffolgenden Vers XXV drückte er hingegen sein Gefühl des Ausgeliefertseins an die Weiblichkeit der femme fatale mit folgenden Worten aus: „Du stecktest in dein Bette gern die ganze Welt, / Unreines Weib! Verdrossenheit dich grausam hält. / Dass deine Zähne bei dem Spiele nie versagen, / Musst jeden Tag du übend in ein Herz sie schlagen.“25 Die verführerische Frau wird darüber hinaus bei Baudelaire mit dem Satan in Verbindung gebracht, wenn er schrieb, dass der Höllenfürst ihn oft in der Gestalt einer schönen Frau verführen wollte.
Der Kulturkritiker Jules Amédée Barbey d`Aurevilly (1808–1889) veröffentlichte als überzeugter Katholik 1874 in Paris ein Werk mit dem Titel „Les Diaboliques“ („Die Teuflischen“), das in sechs Novellen die brutalen, menschlichen Leidenschaften beschreibt. Der Autor bringt – wie Baudelaire – die Weiblichkeit mit dem Teuflischen „in geradezu intime Verbindung“26. Die Frau handelt hierbei im Auftrag des Teufels, um die Gesellschaft im Allgemeinen und die Männer im Besonderen zu korrumpieren; sie ist die Dienerin des Bösen.
Die zweite Ausgabe der Publikation wurde von Félicien Rops 1885 im symbolistischen Stil illustriert. Der belgische Grafiker illustrierte nicht einzelne Szenen aus den Texten, sondern ließ sich von der Atmosphäre der Worte inspirieren. So zeigt das Titelblatt „Die Sphinx“, ein an sich bereits lebensbedrohliches Wesen des griechischen Mythos. Das geflügelte Ungeheuer, ein Mischwesen aus Frau und Löwe, soll der Sage nach auf einem Felsen vor den Toren der Stadt Theben gehockt und allen Vorbeikommenden ein Rätsel gestellt haben. Wer es nicht beantworten konnte, wurde von ihr zerfleischt. Nur Orpheus konnte die richtige Antwort finden, worauf sich die Bestie in den Tod stürzte.27 Félicien Rops zeigt nun nicht nur die Sphinx, als Symbol der enigmatischen, lebensbedrohlichen Weiblichkeit, sondern auf ihr eine nackte, sich erotisch auf dem Löwenkörper räkelnde Frau sowie Satan höchstpersönlich. Die Frau, Nacktheit und Sexualität nehmen eine zentrale Stellung im Werk von Rops ein. Immer wieder zeigt er wie in dem Blatt „Der rote Vorhang“ oder „Essen mit Atheisten“ die Verführende nicht nur in einer eindeutigen Pose, sondern auch aus einem voyeuristischen Blickwinkel. Im „Roten Vorhang“ liegt das Objekt der Begierde nackt und nur spärlich von einem durchsichtigen Vorhang verdeckt. Von unten nähern sich zwei männliche Hände – und sind als Symbole der Begierde zu deuten.
Im Werk von Edvard Munch, und das zeigt ein Vergleich von „Madonna“ und „Die kalten Teufel“ (1860) deutlich, wird Sexdualität niemals mit der gleichen Freude an der Darstellung des Fleischlichen bloßgelegt und Weiblichkeit nicht mit dem Teufel verbunden wie im Werk von Félicien Rops. Trotzdem darf die Nähe von Rops und Munchs Frauenbildern nicht unterbewertet werden! Grafiken wie „Lust (oder: Die Hände)“ und „Die Allee (oder: Carmen)“, beide von 1895, machen deutlich, dass Edvard Munchs Frauenbild vor allem von der erotischen, verführerischen und von vielen begehrten Frau geprägt ist. Die Hände fungieren in „Lust“ als Symbole der männlichen Begierde, die scheinbar nur durch die Frau befriedigt werden kann. In diesem Sinne wäre sie die (lebensbedrohliche) Verführerin, die in der zeitgenössischen Literatur vornehmlich als Carmen Berühmtheit erlangt hatte. Die Masse und die fordernden Gesten der Hände hingegen drängen die Frau nahezu in die Mitte der Komposition, so dass aus der aktiven Verführerin leicht ein Opfer des Ansturms werden kann.28 Die Frau stellt sich hiermit als kollektive Fiktion männlicher Begierde dar; sie ist nur über das männliche Interesse an ihr definierbar - oder wie Strindberg es für die „Madonna“, die in der Absicht sowohl der „Lust“ als der „Allee“ vorausging, formulierte, wenn er meinte, dass der Sexualakt „der einzige Grund für die Existenz dieses Wesens (sei), ohne Existenz seiner selbst.“
Der schwedische Dramatiker August Strindberg (1849–1912), den Edvard Munch während seiner Berliner Jahre zwischen 1892 und 1895 kennengelernt und oft im Café Zum schwarzen Ferkel getroffen hatte, brachte die Vorstellung vieler Zeitgenossen auf den Punkt, wenn er das Verhältnis von Frau und Mann folgendermaßen beschrieb: „Wenn eine Frau von ihrem Manne schlecht behandelt wird, so weiß man, was für eine Sorte sie ist. Die scheinbar untergeordnete Stellung, die das Weib einnimmt, ist unmittelbar abhängig von der Stellung, welche die Natur dieser unausgereiften Zwischenform zwischen Kind und Mann gegeben hat.“29
Die Frau als ungebildetes Naturwesen und unmündig wie ein Kind wurde vom norwegischen Autor Henrik Ibsen in Nora oder ein Puppenheim eindringlich und einfühlsam auf die Bühne gebracht und 1879 skandalumwittert uraufgeführt. In dem Stück befindet sich die Protagonistin Nora in einer schwierigen Lage, da sie für ihren einst kranken Mann eine Reise in den Süden finanzieren musste. Die Unterschrift für den Kredit, den sie als Frau nicht hatte aufnehmen dürfen, hatte sie gefälscht; nun wird sie vom Kreditgeber erpresst. Als die Geschichte auffliegt und ihr Mann sich dem unverständigen Urteil der Gesellschaft ausgesetzt sieht, erkennt Nora die Wahrheit über ihre Beziehung zu Männern:
„Vater nannte mich sein Puppenkind und spielte mit mir, wie ich mit meinen Puppen spielte. (…) Dann ging ich aus meines Vaters Händen in deine über. (…) Ich lebte davon, dass ich dir Kunststücke vormachte, Thorvald. Du wolltest es ja so haben. Du und Papa, ihre habt euch schwer an mir versündigt. Ihr seid schuld daran, dass nichts aus mir geworden ist.“ (Ibsen)
Im Gegensatz zu Baudelaire, d`Aurevilly und Strindberg nahm Ibsen für seine Zeit eine unglaublich aufgeklärte, frauenfreundliche Position ein. Wiederum sind es die Hände, die für die Entwicklung der Frau eine wesentliche Rolle spielen. Sie wird weitergereicht von einer Hand zur nächsten, vom Vater an den Ehemann, ohne selbst je eigenverantwortlich und selbständig geworden zu sein. Nora möchte sich mit ihrem Zustand nicht mehr abfinden und verlässt ihren Mann und ihre drei Kinder, um, wie sie am Ende des Stückes meint, „zum Mensch“ zu werden. Edvard Munch hatte Ibsen, den er zutiefst verehrte, spätestens im Herbst 1895 getroffen, porträtiert und im selben Jahr das Theaterprogramm zu dessen Dramen Die Geister und Peer Gynt illustriert.30
Die erotische Frau in Munchs Werk steht deutlich in der philosophischen und literarischen Tradition des 19. Jahrhunderts, da er sie als meist rothaarige Verführerin und Personifikation der Schönheit gleichermaßen preist – nie jedoch als eine intellektuelle Herausforderung für den Mann. In der eingangs zitierten Textpassage aus seinem literarischen Tagebuch sagte Munch über seine Darstellung der Madonna, ihr Gesicht schlösse die Schönheit der ganzen Welt in sich ein und ihr Lächeln gleiche dem einer Toten. Schönheit, Schmerz und Tod der Frau werden genauso parallel geführt, wie es Baudelaire bereits Jahrzehnte davor in seinen Aufzeichnungen formulierte:
„Ich habe die Definition des Schönen gefunden – meinen Schönheitsbegriff. Etwas zugleich voller Trauer und voll verhaltener Glut, etwas schwebend Ungenaues, das der Vernunft Spielraum lässt. Ich werde, wenn man will, diese meine Vorstellung an einem sinnlichen Gegenstand erläutern, zum Beispiel an dem interessantesten Gegenstand, den die menschliche Gesellschaft bietet, an einem Frauenantlitz. Ein schönes, verführerisches Haupt, will sagen das Haupt einer Frau, ist ein Haupt, das gleichzeitig – aber auf eine eigentümlich vermischte Art – Träume von Wollust und Trauer erregt; Vorstellungen von Melancholie, Mattigkeit, ja Übersättigung weckt – oder auch entgegengesetzte Vorstellungen von innbrünstiger Lebensgier, untermischt mit Fluten der Bitternis, die Entbehrung oder Hoffnungslosigkeit zurückgelassen haben. Das Rätselhafte und die Wehmut des Bedauerns gehören gleichfalls zu den wesentlichen Merkmalen des Schönen.“31
Edvard Munch und seine Zeitgenossen, wie der Münchener Malerfürst Franz von Stuck (→ Franz von Stuck. Sünde und Secession), die Belgier Fernand Khnopff und Félicien Rops wie etwa auch Gustav Klimt, zeigen sich in ihren Werken als Anhänger dieser einander widerstrebenden Auffassungen von Weiblichkeit. Der Konflikt zwischen Reinheit und Perversion, der sich in den männlichen Künstlern wohl als persönlicher Konflikt zwischen Faszination und Abstoßung äußerte, gehört zu den Grundsätzen symbolistischer Frauendarstellungen.
Das Gefühl der vollkommenen Selbstaufgabe des Mannes und seine Überantwortung in den Machtbereich der Frau setzte Edvard Munch 1894 scheinbar im Gemälde „Vampir“ (1892) um. Hier thematisierte er erneut die enge Verbindung von Liebe und Schmerz. Eigentlich zeigt das Bild „nur“ eine Frau, die den Nacken eines Mannes küsst. Ihre roten, langen Haare fallen in Strähnen über sein vertrauensvoll in ihren Armen geborgenes Gesicht. Die Deutung der Frau als Vampir stammt vom polnischen Dichter und Anarchisten Stanisław Przybyszewski, den Edvard Munch 1892 in Berlin kennengelernt hatte. Er beschrieb im darauffolgenden Jahr (1893) dieses Gemälde mit folgenden Worten:
„Ein gebrochener Mann und auf seinem Nacken ein beißendes Vampyrgesicht. (…) Es ist etwas furchtbar Ruhiges, Leidenschaftsloses in diesem Bilde; eine unermessliche Fatalität der Resignation. Der Mann da rollt und rollt in abgründige Tiefen, willenlos, ohnmächtig (…). Den Vampyr wird er doch nicht los, den Schmerz wird er auch nicht loswerden, und das Weib wird immer da sitzen, und ewig beißen mit tausend Natternzungen, mit tausend Giftzähnen.“32
Frauenfeindlichkeit war, wie bereits gezeigt werden konnte, in den literarischen Kreisen rund um Edvard Munch weit verbreitet. Vor allem in Berlin, wo sich Munch zwischen 1892 und 1895 in den Wintermonaten aufhielt und an Sezessionsausstellungen teilnahm, war die Angst vor der sexuell aktiven Frau allgegenwärtig. Wie ein gewissenloses Raubtier sauge sie, dem polnischen Autor zufolge, daher ihrem Opfer das Blut aus. Gleichzeitig umfängt die Frau aber in diesem Bild ihren Geliebten und birgt ihn schützend in ihren Armen. Für den Mann ist sie daher gleichermaßen unwiderstehlich wie lebensgefährlich. Edvard Munch dürfte an dieser Komposition bereits seit Mitte der 1880er Jahre gearbeitet haben, bevor er sie in den frühen 1890ern realisierte und ab 1895 in Drucken vervielfältigte.33
1918 verwendete Munch diese Bildidee für seinen „Fries des Lebens“, einer Konzeption, an der der Bildende Künstler bereits seit den frühen 1890ern arbeitete und die er 1902 erstmals ausstellte34: Darin wollte Munch Menschen zeigen, die atmen, fühlen, leiden und lieben. Aus diesem Anlass distanzierte sich der Maler von der Interpretation der 1890er Jahre und meinte: „Es ist in Wirklichkeit nur eine Frau, die den Nacken eines Mannes küsst.“35 In einer weiteren Tagebuchnotiz resümierte er 1929 über die Beziehung von Frau und Mann zur Jahrhundertwende: „Ich habe in einer Übergangszeit gelebt – mitten in der Frauenemanzipation – Da war es die Frau, die verführt und lockt und den Mann betrügt – Die Zeit von Carmen – In der Übergangszeit wurde der Mann der Schwächere.“36
Dieser Zurücknahme sollen einige zeitgleich entstandene Kuss-Darstellungen von Munch entgegengehalten werden. Daraus lässt sich m. E. schließen, dass Munch in der ikonographischen wie formalen Lösung an Vorbildern mitverarbeitet hatte, welche die Interpretation seiner Zeitgenossen geprägt haben. Erstmals tritt der Kuss als Thema in den späten 1880ern im Werk von Edvard Munch auf.37 Es wurde zu einem der am häufigsten wiederaufgenommenen und überarbeiteten Motive durch den norwegischen Künstler.38 Der Beginn der Beschäftigung mit diesem Thema dürfte in einer Skizze aus dem Jahr 1889 anzusetzen sein, das eine Atelierszene mit einem Abschiedskuss zeigt. In den folgenden Jahren malte Munch verschiedene Versionen der Szene in Öl (1891 ließ 1892 und um 1896-1897) und produzierte Drucke (1897), wobei die Verschmelzung der Küssenden zu einer homogenen Masse vorwärtsgetrieben wird. August Strindberg schrieb darüber in einer berühmten Besprechung zu Munchs Pariser Ausstellung in La Revue blanche. Der Kuss sei „die Fusion von zwei Wesen, der kleinere, geformt wie ein Karpfen, scheint im Begriff zu sein, den größeren aufzufressen, wie es die Gepflogenheit von Gift, Mikroben, Vampiren und Frauen ist. Wechselweise: Der Mann gibt, und es entsteht die Illusion, dass die Frau zurückgibt. Der Mann bittet um die Gunst, seine Seele hinzugeben, in Tausch für was? In Austausch für das Hingeben seiner Seele, seines Blutes, seiner Freiheit, seiner Ruhe, seiner ewigen Rettung.“39
Auch wenn die Interpretation wohl mehr über den Interpretierenden als das Konzept Munchs verrät, so zeigt sie uns doch, in welch ideologischem, misogynen Umfeld sich der Künstler bewegte, und zu welche frauenfeindlichen Aussagen sich dieses in Veröffentlichungen hinreißen ließ. Thematisch ist das symbolistische Werk Munchs „untrennbar mit dem intellektuellen Klima seines Berliner Umfeldes verbunden“.40 Bereits der literarische Kreis von Kristiania, dem der Lebensreformer Hans Jæger vorstand, hatte Munch in den 1880ern nicht nur zum Festhalten persönlicher Notizen und Erinnerungen in seinen sog. Literarischen Tagebüchern inspiriert, sondern auch programmatisch postuliert: „Du sollst dein eigenes Leben schreiben.“41 In der Folge sollte Munch – etwa ab 1891 – ein entsprechendes Konzept in seiner Malerei einsetzen: Ausgehend von persönlichen Erfahrungen entwickelte er Darstellungen von allgemeingültigen Ideen.
Bezogen auf die Darstellung des Kusses, wird – erneut aufgrund einer halb-fantastischen Beschreibung in den literarischen Tagebüchern – vermutet, dass die erste Fassung der Bleistiftzeichnung von 1889 mit persönlich Erlebtem zusammenhängt.42 Edvard Munch beschreibt darin als Ich-Erzähler eine Kuss-Szene in einem Atelier: „Ich presste sie an meinem Körper. Ihr Kopf ruhte auf mir. Wir standen so eine lange Zeit. Eine wunderbare Wärme durchströmte mich. Sanft drückte ich sie an mich. So sah auf… Wir küssten einander eine lange Zeit. Totale Stille regierte in dem großen Atelier.“43
Die Entstehungszeit wie auch der literarische Text könnten Hinweise darauf sein, dass Munch in diesem ersten Blatt seine Beziehung zur verheirateten Frau Oda Lassen Krohg (1860–1935) verarbeitet haben könnte. Die Schwägerin seines ersten Gönners und Förderers, Christian Krohg (1852–1925), hatte eine Affäre mit dem jungen, aufstrebenden Künstler, die etwa 1889 in die Brüche ging. Während der 1890er Jahre überarbeitete Munch die Komposition mehrere Male sowohl in Malerei als auch Druckgrafik. Dabei wird deutlich, wie die Angaben zu Raum und Zeit immer mehr in den Hintergrund treten und wie die innige Umarmung, das Verschmelzen der beiden Körper im Zuge dessen deutlicher heraustritt. Die Frau wird im „Kuss“ zwar nicht als lebensbedrohliches Ungeheuer geschildert, wie es in der „Harpye“ von 1896 bzw. als Verführerin à la Carmen in der „Lust“ von 1900 festzuhalten ist, jedoch erfordert diese Liebesbeziehung die Aufgabe des Selbst, ein Verschmelzen mit dem Gegenüber. Diese Selbstaufgabe wurde von Autoren wie August Strindberg, wie bereits referiert, als die männliche Integrität zerstörend empfunden.
Um 1900 scheinen die Beziehungen von Edvard Munch zum anderen Geschlecht immer wieder von dramatischen Situationen und Enttäuschen geprägt gewesen zu sein. Vor allem seine Beziehung zu Tulla Larsen (1899–1902), verarbeitete der Künstler ab 1905 in der Serie von klaustrophobischen, grünen Zimmern, in der er Hass, Eifersucht, Begierde, Tulla als Mörderin und Prostitution thematisierte. Im Jahr 1902 hatte sich während eines Streits ein Schuss gelöst und Munch sich am Mittelfinger verletzt. Ein Jahr später heiratete Larsen einen jüngeren Künstlerkollegen, was Munch mit zunehmenden Nervenproblemen und Alkoholmissbrauch zu verdrängen suchte. Immer wieder beschäftigte er sich mit den Skizzen zu einem autobiographischen Roman über sein Verhältnis mit Tulla. In dieser Phase brach er mit der Flächengestaltung und ging zu einer dichten Schraffur von horizontalen und vertikalen Linien über. Auch sein Aufenthalt im Sommer 1907 im Seebad in Warnemünde half nicht, seine psychischen Probleme zu klären. Nach einem leichten Schlaganfall und einem Nervenzusammenbruch im Herbst 1908, wies sich Munch selbst in die Klinik von Prof. Jacobson in Kopenhagen ein. Nach einem halben Jahr wurde er als geheilt entlassen.
Etwa zur gleichen Zeit etabliert sich in Österreich Egon Schiele als große Zukunftshoffnung. In der Serie „Die tote Stadt“ widmete er sich dem „Porträt“ von Krumau – und borgte dafür den Titel einer der berühmtesten Publikationen des belgischen Symbolismus: Brüge – la morte von Georges Rodenbach. Die Stille der Stadt, ihre Schwärze beschreiben nach Schiele deren Trostlosigkeit und Todesnähe. Damit führten die Hauptempfindungen des Symbolismus nun direkt in die dramatischen Todes-Erfahrungen des Ersten Weltkriegs.
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