Anfang der 1920er Jahre setzte sich in der deutschen Malerei ein unsentimentaler, nüchterner, kühler Blick durch, der seit 1925 Neue Sachlichkeit genannt wird. Künstler:innen strebten nach gesellschaftskritischen oder objektiven Darstellungen ihrer Umwelt. Meist wird dies als Reaktion auf die Erlebnisse des Ersten Weltkriegs, die Überwindung des (heißen) Expressionismus aber auch auf die gesellschaftliche Neuordnung durch die Frauenbewegung gedeutet. Wirtschaftskrisen und politische Neuordnung, die Suche nach geschlechtlicher Identität (vor allem in Berlin) und die Gier nach einem neuen, selbstbestimmten Leben, Technologiewandel und die Hinwendung zu Romantizismen kamen noch dazu. Kunstschaffende bewegten sich zwischen „Glanz und Elend“, so der Untertitel der Sonderschau im Leopold Museum, und fühlten sich der Figur verpflichtet.
Österreich | Wien:
Leopold Museum
24.5. – 29.9.2024
Rund 150 Werke laden ein, tief in die Avantgarde der Weimarer Republik (1918–1933) einzutauchen. Bedeutende Maler wie Otto Dix und George Grosz, Alexander Kanoldt und Carlo Mense, Karl Hubbuch und Rudolf Schlichter, der umstrittene Franz Radziwill und der lange vergessene Felix Nussbaum stehen im Sommer 2024 neben jüngst wiederentdeckten Malerinnen wie Lotte Laserstein, Kate Dien-Brit und Grethe Jürgens. Als Gustav Friedrich Hartlaub 1925 den Begriff Neue Sachlichkeit in der Städtischen Kunsthalle Mannheim prägte, er nannte seine Ausstellung „Neue Sachlichkeit – Deutsche Malerei seit dem Expressionismus“, stellte er 32 Künstler vor – und nahm keine einzige Frau in die Auswahl auf. Bald jedoch etablierte sich die Bezeichnung für alle Maler:innen, die sich der realistischen Darstellung von Figur und Gegenstand zuwandten. Die so Angesprochenen verwehrten sich vielfach der Zuschreibung (wie beispielsweise Max Beckmann), denn die unter dem Stilbergriff vereinten Kunstschaffenden vertraten höchst unterschiedliche, teils einander widerstrebende Haltungen und Ausdrucksweisen.
Diesem Umstand trägt Direktor und Kurator der Schau, Hans-Peter Wippliniger, Rechnung, indem er die Werke in 13 thematische Kapitel vorstellt. Der Bogen spannt sich von Kriegskrüppeln über den Tanz auf dem Vulkan, von Menschenbildern über Stillleben zu Industrie und Technik, von Clownerien zu magischen Bildwelten. Die Neue Sachlichkeit fand mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten ein abruptes Ende: Mahner wie Karl Hofer wurden aus ihren Lehrposten entlassen oder gar, wie der aus jüdischer Familie stammende Felix Nussbaum, in der Shoa ermordet.
George Grosz‘ „Der graue Tag“ (1921), ein Hauptwerk der Neuen Nationalgalerie Staatliche Museen zu Berlin, konfrontiert das Publikum am Beginn der Ausstellung mit den sozialen Verwerfungen in der Folge des Ersten Weltkriegs. Als der Krieg am 11. November 1918 mit der Unterzeichnung des Waffenstillstands in Compiègne endete, war die blutigste Auseinandersetzung der bisherigen Menschheitsgeschichte nach vier Jahren zu Ende. Der moderne Maschinenkrieg hatte in Deutschland über 2 Millionen Soldaten das Leben gekostet; vor allem die Generation der 19- bis 24-Jährigen war davon betroffen. Dieser Umstand sollte vielen Frauen, die in der Kriegsproduktion bereits in Männerdomänen vorstoßen mussten, auch in den 1920ern Arbeitsplätze sichern. Doch zurück zu den Soldaten: Fast 600.000 Fälle von Kriegsneurosen („Shellschocks“, heute posttraumatische Belastungsstörung) und somit etwa 2,7 Millionen physisch und psychisch versehrte Kriegsteilnehmer wurden gezählt. Ihre Verwundungen konnten durch die moderne Medizin versorgt werden, ihre Verstümmelungen prägten das Straßenbild der Weimarer Republik und führten zur Einführung der staatlichen Sozialfürsorge.
George Grosz zählte zu diesen nervlich zerrütteten Männern. Während des Ersten Weltkriegs hatte sich Grosz zu einem Ankläger politischer und sozialer Missstände entwickelt. Zeitlebens verband er seine künstlerische Tätigkeit mit politischer Stellungnahme – so auch in diesem Bild. Grosz zeigte dieses Gemälde in Mannheim und nannte es damals noch „Magistratsbeamte für Kriegsbeschädigtenfürsorge“. In diesem Bild vollzog George Grosz den Übergang zum kritischen Verismus der 20er Jahre. Als er es im Juni 1921 vollendete, befand sich die junge Republik im schwierigen Aufbau; ein Monat später wurde Adolf Hitler zum 1. Vorsitzenden der NSDAP ernannt.
Grosz war mit seinen gesellschafts- und obrichkeitskritischen Beobachtungen nicht allein. Kolleg:innen Heinrich Hoerle, Heinrich Maria Davringhausen, Karl Hubbuch, Käthe Kollwitz, Max Beckmann verarbeiteten das Erlebte in aufrüttelnden Bildern. Vor allem der Kölner Autodidakt Heinrich Hoerle setzte sich intensiv mit neuartigen Prothesen auseinander und zeigt noch um 1930 „Drei Invalide“ als mechanische Gliederpuppen. In seinem Werk verband er realistische mit konstruktivistischen Elementen, was ihn stilistisch von Heinrich Maria Davringhausens bläulich schimmernden „Gefangenen“ (1918, Privatsammlung) unterscheidet. Beides gilt als neusachlich, beides ist mit Sicherheit Kunst im Dienste der bürgerlichen Gesellschaft.
Um die Kriegsgräuel vergessen zu können, stürzten sich viele ins Nachtleben. Anfang der 1920er kamen Jazz und Charleston aus den USA nach Europa. Spektakuläre Revuen lockten die Massen in die Glaspaläste. Neue Frauen mit Bubikopf und Neue Männer trafen sich am Tanzparkett und gingen kameradschaftliche Liebesverhältnisse ein. Auch auf dem Feld der Liebe, wo bekanntlich alles erlaubt ist wie im Krieg, sollte die heiße Verliebtheit gegen kühle Beziehungen eingetauscht werden. Umso emotionaler bis zu sadistischer ging es dann wohl in den deutschen Großstadt-Betten zu.
Max Beckmanns eigentümliche „Begegnung in der Nacht“ (1928, Privatsammlung) leitet das Kapitel ein, das von nächtlichen Vergnügungen und Sexualmorden erzählt. Eine durch den Krieg verrohte Männlichkeit traf auf eine durch Hyperinflation befeuerte Prostitution, hier von Beckmann zu einem geheimnisvollen Beziehungsgeflecht voller Abhängigkeiten verarbeitet. Er zeigt einen unbeteiligt wirkenden Mann in einem Smoking vor einer nackten Frau. Sie hängt mit geschlossenen Augen kopfüber im Raum, festgebunden an den Fußgelenken. Erst bei genauer Betrachtung fällt eine weitere Frauenfigur auf, die am rechten Bildrand auftaucht. Mit offener Hand fordert sie Geld. Offenbar eine Bordellszene.
Der Sexarbeit stellt Wipplinger ausgelassen Tanzende zur Seite. Eindrücklich schildert Ernest Neuschul in „Takka-Takka tanzt“ (1926, Privatsammlung) die holländisch-javanischen Tänzerin Lucie Lindermann (1890–1980), die in Berlin aufgewachsen war und später seine Frau wurde. Das Paar bereiste tanzend die Welt und wurde für seine exotischen Aufführungen gefeiert. 1926, als dieses Bild entstand, ließ es sich in Berlin nieder, und Neuschul gelang dort auch der Durchbruch als Maler. Die Exotik der mehrfach im Bild dargestellten Tänzerin ist Hanns Ludwig Katz’ „Miss Mary“ (1926) nicht eigen. Doch verbindet sie das Spiel von Betrachten, Präsentieren und Betrachtetwerden.
Eine erste breite Debatte in der Öffentlichkeit gab es in den 1920ern zum Thema Sexualmord. Diese ließ auch Kunstschaffende nicht kalt. Allen voran Rudolf Schlichter widmete sich dem Thema in schonungslos veristischen Zeichnungen.
Die Künstler:innen der Neuen Sachlichkeit widmeten sich mit großer Begeisterung zwischenmenschlicher Beziehungen, allen voran den Spielarten der Liebe. In diesem Raum lohnt ein genauerer Blick in die Vitrine. Die Zeitschrift „Die Freundin. Wochenschrift für ideale Frauenfreundschaft“ richtete sich an lesbische Frauen, die u.a. darin über Annoncen Ausschau nach Partnerinnen hielten. Selbst im Berlin der 20er Jahre, in dem es durch seine vielfältige homosexuelle Subkultur nicht an Treffpunkten mangelte, konnte Frau offenbar einsam sein. Die Illustratorinnen Jeanne Mammen und Dodo zählten zu den bestbezahlten Künstlerinnen ganz Deutschlands und widmeten sich in ihren Werken der queeren Subkultur Berlins. Die Lithografie „Liebende Knaben“ (1929/1972) von Christian Schad ist eine späte Reminiszenz an Freiheit und Liberalität der „Goldenen 20er“.
„Selbstbildnis mit Modell“ (1927) und „Agosta, der Flügelmensch und Rasha, die schwarze Taube“ (1929) sind zwei der Highlights der Ausstellung im Leopold Museum. Christian Schad zeigt sich mit schwarzhaarigem Modell; die weiße Narzisse darf als Hinweis auf den Narzissmus gelesen werden, der die Liebenden trennt. Erstaunlich perfekt, weil im gleichen Farbakkord gehalten, passt das Doppelbildnis zweier Schausteller dazu. Der Künstler inszeniert die beiden diversen Persönlichkeiten würdevoll, während sie tagtäglich vom Publikum für ihr Anders-sein beäugt wurden.
Otto Dix‘ „Altes Liebespaar“ (1923) und seine „Die Irrsinnige“ (1925, Kunsthalle Mannheim) lassen George Grosz‘ „Mann und Frau“ (1926) fast wie ein altes Ehepaar aussehen. Mit Dix betritt ein Hauptvertreter der Neuen Sachlichkeit die Bühne, dessen schonungslos-karikierende Schilderungen allem bürgerlichen „Schönheitssinn“ trotzen. Er nahm Anfang der 1920er Jahre Motive der deutschen Renaissance-Malerei auf, hier etwa das gealterte Liebespaar als Symbol für die Vergänglichkeit. Kurze Zeit später arbeitete er sogar in altmeisterlicher Lasurtechnik, um seinen Darstellungen eine farbige Tiefe und Leuchtkraft zu verleihen. Mit „Die Irrsinnige“ und einen Raum weiter mit „Sitzende Alte“ (1930, Privatbesitz) stellte er sein Einfühlungsvermögen deutlich unter Beweis. Über seine Porträtauffassung meinte er:
„Wenn man jemanden porträtiert, sollte man ihn möglichst nicht kennen. Ich will nur das sehen, was da ist, das Äußere. Das Innere ergibt sich von selbst; es spiegelt sich im Sichtbaren.“1
Die „Neue Frau“ ist eines der bedeutendsten Motive der neusachlichen Porträtkunst, in Wien von Rudolf Schlichter, Willy Jaeckel, Heinrich Maria Davringhausen, Emil Orlik, Alexander Kanoldt und Christian Schad in Szene gesetzt. Mit dem „Selbstbildnis als Malerin“ (1935) von Kate Diehn-Bitt sowie Lotte Lasersteins „Tennisspielerin“ (1929) werden erstmals auch Malerinnen der Neuen Sachlichkeit in Österreich vorgestellt.
Das neusachliche Porträt ist fotografisch genau in der Ausführung und, je nach Künstler:innenpersönlichkeit, voller Anspielungen und Symbole. So setzt Rudolf Schlichter „Margot“ (1924) einer stadtbekannten Prostituierten ein Denkmal. Der Schriftzug „Quo vadis“ im Grau der tristen Großstadt darf man gerne auf sich selbst (und die Gesellschaft) beziehen. Einmal mehr fallen Christian Schads Bildnisse durch ihre hohe malerische Qualität auf. An einer Wand sind „Lola (Lola Pless)” (1928), „Maika“ (1929) und „Marcella“ (1926) nebeneinander aufgereiht. Die stuppende Maltechnik des Künstlers ist beispielsweise an der Tätowierung von Maika auszumachen: Der Name „SCHAD“ prangt an ihrem linken Arm, was gleichzeitig als Signatur des Bildes und Liebesbeweis gedeutet werden kann.
Dass Lotte Laserstein erst in den letzten Jahren wiederentdeckt wurde, erstaun ob ihrer „Tennisspielerin“ (1929). Hierbei handelt es sich um ein sportives Bildnis ihre Freundin Traute Rose, die in der „Porträtstudie (Traute Rose, Profil nach rechts)“ (um 1935) ebenfalls zu entdecken ist. Im kurzen Rock und bei einem angesagten Freizeitsport zeigt sich Traute als Vertreterin der selbstbewussten Weiblichkeit, wie sie in den Illustrationen von Dodo und Jeanne Mammen medial omnipräsent waren.
Im Vergleich zur den Porträts Neuer Frauen wirken die Bildnisse der Neuen Männer konventioneller. Carlo Mense zeigt im „Bildnis Underberg“ (um 1925) den Großindustriellen vor einem Fensterausblick, während Christian Schad („Porträt eines Engländers“, 1926, und „Der Freimaurer“, 1929) und Wilhelm Schnarrenberger („Porträt eines Architekten“, 1923) ihren teils puppenhaft wirkenden Männern Attribute ihrer Berufe und Symbole zur Seite stellen. Einzig Rudolf Schlichters Bildnis „Der Dichter Oskar Maria Graf“ (1927) stellt die Persönlichkeit des Autors zum bildfüllender Wucht zur Diskussion. So stellt man sich einen Schreiber vor, der wenige Jahre später von den Nazis fordern wird, seine Bücher zu verbrennen. Was sie auch umgehend taten.
„Es handelt sich um die Ding-Entdeckung nach der Ich-Krise. Es handelt sich um eine Weltergreifung nach jener wichtigen Wandlung, die das schroff idealistische Zwischenspiel des letzten Jahrzehnts herbeigeführt hat.“ (Wilhelm Michel, 1925)
Was der Kunstkritiker Wilhelm Michel in der Geburtsstunde der Neuen Sachlichkeit als „Weltergreifung“ beschrieb, sollte durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten mit parlamentarischen Mitteln 1933 beendet werden. Hatten einige neusachliche Künstler:innen anfangs noch gehofft, als Realisten anerkannt zu blieben, so wurde spätestens 1937 diese Vorstellung zerstört. Wenn ihnen nicht ihre expressionistischen Frühwerke vorgehalten wurden, so malten sie angeblich die falschen Themen. Manche opponierten als sozialkritische Linke. Emigration ins Ausland oder innere Emigration in Deutschland waren die einzigen Möglichkeiten auf die neuen Machthaber zu antworten. George Grosz konnte enttäuscht das Land in Richtung New York verlassen, während Karl Hofer einen einsamen „Rufer“ für sich und Eingeweihte schuf.
Jüdische Künstler:innen hatten häufig nicht so viel Glück. Mit Felix Nussbaum endet die Ausstellung tragisch, wurde er doch mit seiner Frau mit dem letzten Zug aus dem besetzten Belgien nach Ausschwitz gebracht und ermordet. Mit dem „Orgelmann“ setzte der im Untergrund lebende Nussbaum ein deutliches Zeichen zur Vernichtung allen jüdischen Lebens im sog. „Dritten Reich“.
Kuratiert von Hans‑Peter Wipplinger.