Jean Fautrier setzte sich zeitlebens mit einer höchst überschaubaren Motivik auseinander: weiblicher Akt, Stillleben, Landschaft. Diese Trias deklinierte er nahezu fünfzig Jahre lang durch, wobei er in den 1930ern und 1950ern aus finanziellen Gründen mehrjährige Malpausen einlegen musste. Das Kunstmuseum Winterthur und das Pariser Musée d’Art moderne de la Ville de Paris widmen dem Pionier des Informel eine beeindruckende Ausstellung, welche die Bedeutung des wenig bekannten Malers aufzeigt (→ Jean Fautrier: Biografie).
Schweiz | Winterthur: Kunstmuseum
26.8. – 12.11.2017
Frankreich | Paris: Musée d’Art moderne de la Ville de Paris
29.1. – 20.5.2018
Der in Paris als unehelicher Sohn eines Kunsthändlers geborene Fautrier galt als Wunderkind und wurde mit 14 Jahren an der Royal Academy of Arts aufgenommen (1912). Nur drei Jahre später zeigt er sich von der traditionsreichen wie traditionellen Ausbildung in London enttäuscht und wechselte an die Slade School of Fine Arts, die als avantgardistischer eingestuft wurde. Doch auch hier fühlte er sich nicht verstanden und bildete sich daher vor Werken der Tate Britain selbständig weiter. Vor allem die Gemälde von J. M. William Turner (1775–1851) begeisterten den angehenden Maler.
Seine Einberufung in die französische Armee 1917 führte zur Rückkehr Fautriers nach Frankreich. Bei einem Gasangriff wurde er schwer verletzt und trug ein chronisches Lungenleiden davon. Erst im Jahr 1922 ließ er sich in Paris nieder und begann auszustellen. Die frühesten Werke zeigen bereits jene Themen, die Fautrier zeitlebens beschäftigen wird. Dem weiblichen Akt widmete er sich mit einer gewissen Obsession: anfangs noch fast neusachlich, sehr dreidimensional modelliert, dann immer fragmentarischer und im Schwarz versinkend. Innerhalb weniger Jahre gestaltete er alles mittels pastoser Farbe als haptische Strukturen. Innerhalb der Avantgardegruppen der Zeit (vor allem wären hier die Künstler des Surrealismus zu nennen) suchte Jean Fautrier keinen Anschluss. Stattdessen stellten ihn die Galeristen gemeinsam mit den anderen „Solisten“ wie Amedeo Modigliani, Chaim Soutine, André Derain aus. Die Bekanntschaft mit André Malraux brachte Fautrier nicht nur einen mächtigen Fürsprecher, sondern auch einen ersten Illustrationsauftrag: Er wählte Dantes „Inferno“, das der Verlag Gallimard drucken sollte.
Erste wirtschaftliche Erfolge konnte Jean Fautrier mit einer Reihe von „schwarzen Bildern“ verbuchen. Diese 1927 entstandenen Gemälde überraschen durch ihren fast monochromen Farbeinsatz: Auf schwarzem Grund zeigt Fautrier kaum erkennbare, weil aufgelöste Jagdstillleben. Die barocke Praxis des Prunkstilllebens wird dabei zugunsten des Vanitas-Aspekts deutlich in den Hintergrund gedrängt. Hängende Enten, liegender Fisch oder auch Blumenstillleben: Der Maler zeigt die Tiere und Pflanzen so, als ob sie im nächsten Moment im ewigen Dunkel verschwinden würden. Ihre Darstellungen sind auf eingeritzte, helle Umrisslinien und wenige Notationen für Details reduziert. Es handelt sich mehr um Symbole der jeweiligen Gattung denn um Schilderungen von erlegtem Wild respektive Blumenbouquets.
Weltwirtschaftskrise und Gesundheitszustand führten während der 1930er Jahre zu einer fast zehnjährigen Malpause, die Fautrier als Hotelier und Skilehrer in den Alpen verbrachte. 1939 kehrte er zur Malerei zurück und knüpfte an die „schwarzen Bilder“ der Zwanziger Jahre an: Zunehmend modellierte er die Stillleben, Landschaften und Akte aus der Farbmaterie. Meist widmete er sich auch nun einem einzigen (kaum) erkennbaren Gegenstand, womit er zu einem Pionier des Informel wurde (→ Abstrakter Expressionismus | Informel). In Stillleben stehen Objekte, die nur als Zeichnungen ihrer Umrisslinien beschrieben werden, neben Dingen, die zusätzlich auch noch Farbwerte erhalten. Dies lässt an zeitgleiche Werke von Henri Matisse und Pablo Picasso denken, in denen sich Figur und Farbe ebenfalls voneinander getrennt haben. Im Gegensatz zu den Werken dieser beiden sind die Farben in Fautriers Werken aber nicht rein und leuchtend, sondern gedeckt und gestisch aufgetragen.
In Bildern wie „L'homme qui est malheureux“ (1947), „Végétaux“ (1957) oder „Tourbes“ (1959) zeigt sich Jean Fautriers zunehmend gestisches Arbeiten, das mit einer maximalen Reduktion nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzt. Mit der Ausstellung der Serie „Les Otages [Die Geiseln]“ (1945) in der Galerie René Drouion erregte er großes Aufsehen und erzielte einmal mehr seinen künstlerischen Durchbruch. Er stellte in 20 Blättern auf wenige Striche reduzierte Köpfe von Kriegsgeiseln dar. Die Arbeit hatte hohe Aktualität und schockierten auch aufgrund der Auslassungen, der Schönheit der rhythmisch gesetzten „Notationen“.
Neben diesen nahezu ganz aufgelösten Abstraktionen arbeite Jean Fautrier an Materialbildern, die er in den letzten Kriegsjahren entwickelte. Er war nach kurzer Inhaftierung durch die Gestapo im Januar 1943 mit Hilfe von Jean Paulhan nach Chátenay geflohen. In der Abgeschiedenheit veränderte er seine Malweise völlig: Er legte die Blätter vor sich auf den Tisch und trug mit der Spachtel weiße Putzmasse auf, darauf streute er Farbpigmente und zeichnete mit dem Pinsel Konturlinien. Die Formen seiner Motive – eigentlich nur Vegetation (Landschaften), Akte, Stillleben – lösen sich gänzlich auf. Damit „erfand“ Jean Fautrier das Informel. Wirtschaftliche Not zwang ihn bis 1954 erneut zu einer Malpause, stattdessen beschäftigte er sich mit Reproduktionsverfahren. Mit diesen „Originaux Multiplex“ hatte er jedoch nicht den erhofften finanziellen Erfolg, weshalb er wieder zu malen begann. Mit den in den letzten zehn Lebensjahren entstandenen Gemälde bewegte sich Fautrier konsequent an der Grenze zwischen Abstraktion und Ungegenständlicher Kunst (→ Abstrakte Kunst). Die rhythmisch strukturierten Oberflächen mit der duftigen Farbigkeit über das dominante Weiß wurden noch zu seinen Lebzeiten als bedeutender Beitrag zur „Erfindung“ des Informel [Tachismus] gedeutet: 1959 nahm Fautrier an der documenta II in Kassel teil; 1960 erhielt er gemeinsam mit Hans Hartung des Großen Preis der Biennale von Venedig; 1961 gewann er den Großen Preis der Tokyo Biennale.