Der österreichische Grafiker Alfred Kubin (1877–1959) ist bekannt für seine düster-skurrilen Fantasien und einfallsreiche Buchillustrationen. Mit „Die Andere Seite“ (1909) verfasste der 1877 in Leitmeritz (heute: Litoměřice) Kubin einen phantastischen Roman, der ihn auch unter den Literaten seiner Zeit berühmt machte.
Kindheit und Jugend von Alfred Kubin waren von traumatischen Erfahrungen wie Tod und Verlustgeprägt. Es starben seine Mutter an Schwindsucht (1887), seine Tante und Stiefmutter im Kindbett (1888) und seine erste Freundin Emy an Typhus (1903). Nach wenig erfolgreicher Schulausbildung sollte er bei seinem Onkel Alois Beer in Klagenfurt eine Fotografenlehre abschließen, was misslang. Nach einem Selbstmordversuch am Grab seiner Mutter wurde Alfred Kubin trotz seiner schwachen Konstitution im Januar 1897 in die Armee aufgenommen. Da er bald darauf eine schwere Nervenkrise durchlebte, musste er im Februar und März wurde er in der Nervenheilabteilung des Garnisonsspitals Graz behandelt werden. Danach kehrte er in das Haus seines Vaters in Zell am See zurück.
Alfred Kubin darf – wie viele seiner Zeitgenossen vom Blauen Reiter – als Autodidakt bezeichnet werden. Er übersiedelte im Frühjahr 1898 zum Studium der Kunst nach München. Dort besuchte er zunächst die private Zeichenschule von Ludwig Schmid-Reutte und ab Mai 1899 die Zeichenklasse von Nikolaus Gysis an der Münchner Akademie der Bildenden Künste. Er besuchte den Unterricht nur unregelmäßig und brach das Studium bald ganz ab. Vermutlich im Herbst dieses Jahres kam es zu der entscheidenden Begegnung mit den Radierungen „Paraphrase über den Fund eines Handschuhs“ des berühmten Malers und Graphikers Max Klinger, die bei Kubin einen „Sturz von Visionen schwarz-weißer Bilder“ auslösten und zur eigenen Ausdruckswelt seines alptraumhaft-phantastischen Frühwerks führten. Der erste Schaffensrausch hielt bis 1903 an.
„Auf dem Grund der Dinge ist alles Phantasie. Der Künstler ist nur eine Ausstrahlung unter unzähligen der göttlichen Einbildungskraft; je phantasievoller sein Werk ist, umso gewaltiger die Stelle, die sein Name in der Welt einnimmt“1 (Alfred Kubin, Bekenntnis, 1924)
1900 entwickelte Alfred Kubin eine spezielle Technik der sorgfältig gespritzten und lavierten, sorgfältig ausgearbeiteten Tuschfederzeichnung. Bis 1904 entstanden hunderte Blätter von Kubins berühmtem Frühwerk. Meist konzentrierte er sich auch wenige, eindrucksvolle Symbolfiguren in einem diffus-leeren Raum. Kubin zeigt Visionen sexueller Angst- und Zwangsvorstellungen, Folter, Qual, Übermacht und Ausgeliefertsein, Selbstmord und Krankheit. Seine Blätter wirken wie Einblicke in die geheimen Triebe und Ängste der modernen Seele, die gleichzeitig von Sigmund Freud entdeckt und analysiert wurden. Die schonungslose Offenheit und sein Arbeiten jenseits traditioneller Ikonografie machten die Bilder bald zu Skandalobjekten, die gleichermaßen Aufmerksamkeit und Empörung erweckten. Vor allem in Münchner Künstlerkreisen zählte Alfred Kubin daher bald zu den bekanntesten Protagonisten.
Zu seinen wichtigsten Bekanntschaften und Freunden zählten die Literaten von München, wie Max Halbe, Frank Wedekind und Eduard Graf von Keyserling. Erster wichtiger Sammler und Unterstützer von Alfred Kubin wurde der Sammler und Bonvivant Hans von Weber, den er im Herbst 1901 kennenlernte. Der Münchner Verleger Weber entschloss sich, eine Mappe mit Faksimiledrucken nach Zeichnungen Kubins herauszugeben, der sogenannten „Weber“-Mappe (1903). Dadurch war Kubins anrüchiger Ruhm im deutschsprachigen Raum etabliert. Seine erste Einzelausstellung hatte Alfred Kubin zwischen Ende Dezember 1901 und Januar 1902 in der renommierten Galerie Paul Cassirer in Berlin. Mit seinen vom Symbolismus beeinflussten Zeichnungen erregte er einiges Aufsehen in der Presse und Öffentlichkeit.
Auf der Frühjahrsausstellung der Wiener Secession 1903 war Kubin mit zwölf Werken vertreten. Die Secessionisten nahmen den in München sozialisierten Zeichner freundlich in ihren Reihen auf, besonders aber Fritz von Herzmanovsky-Orlando erwies sich in den folgenden Jahrzehnten als lebenslanger Freund. Im September reisten Kubin und Herzmanovsky-Orlando erstmals nach Dalmatien (heute: Serbien). Im gleichen Jahr machte Kubin die Bekanntschaft des Schriftstellers Oscar A. H. Schmitz, seinem späteren Schwager. Durch Schmitz bekam er Kontakt mit dem Schwabinger Kreis um Karl Wolfskehl, Stefan George, Ludwig Klages, Alfred Schuler und Franziska von Reventlow. 1904 lernte Kubin Schmitz‘ Schwester kennen. Die drei Jahre ältere Witwe war erst kurz zuvor mit ihrem kleinen Sohn von Frankfurt nach München übergesiedelt. Innerhalb weniger Wochen beschlossen Kubin und sie zu heiraten, er zog in ihre geräumige Wohnung am Englischen Garten. Das junge Glück hielt allerdings nicht lange an, denn Hedwig erkrankte im Dezember an einer schmerzhaften Gesichtsneurose (Trigeminus-Neuralgie), die der Beginn einer fast ununterbrochenen Folge von Krankheiten und einer über 20-jährigen Morphium-Abhängigkeit wurde.
Ab 1905 erlebte Alfred Kubin eine längere Schaffenskrise, die erst mit den Kleisterbildern und der Niederschrift seines Romans „Die Andere Seite“ abgeschlossen war. Auslöser für die fehlende Inspiration sah Kubin selbst rückblickend in dem geregelten Leben in „geschlechtlicher Hinsicht“. Das Ausbleiben seiner bisherigen bildnerischen Antriebe stürzten ihn in eine tiefe Krise.
Kubin fuhr im Frühjahr 1905 nach Wien, um auf neue Ideen zu kommen. Hier traf er mit Künstlern der Wiener Secession zusammen und erhielt insbesondere durch Koloman "Kolo" Moser Anregungen, als dieser ihn in die Technik der Kleistermalerei einführte. Im Juni 1905 stellte Alfred Kubin bereits neue Kleisterfarbenbilder in München aus, die, stilistisch und motivisch völlig anders als seine bisherigen Zeichnungen, nur mäßigen Erfolg hatten. Bis 1908 malte Alfred Kubin mit gedämpften, matten Temperafarben exotisch wirkende Kompositionen, denen die Auseinandersetzung mit der Schule von Gauguin und der Nabis deutlich anzusehen ist. Vermittelt wurden ihm deren Technik und Konzepte über den „Malermönch“ Willibrod Verkade, den Kubin bei seinen Besuchen in München traf.
Nachdem Alfred Kubin im Januar 1904 den greisen Odilon Redon in seinem Pariser Atelier besucht hatte, kauften er und Hedwig das kleine Landgut Zwickledt, genannt Schloss Zwickledt in Oberösterreich. Das Paar übersiedelte im Oktober 1904 in die ländliche Region, weshalb Alfred Kubin mit seinen Kollegen und Freunden in Briefkontakt bleiben musste.
Die Hinwendung Alfred Kubins zur Literatur ist spätestens 1907 zu beobachten, als er sich mit ersten Projekten zu Buchillustrationen, darunter mit Illustrationen zu Gustav Meyrinks Roman „Der Golem“ und zu einem ersten Novellenband von Edgar Allan Poe, beschäftigte. Der Tod seines Vaters in Schärding (2.11.1907) traf Kubin zutiefst und löste eine weitere schwere Depression aus. Diese Krise überwand er erst 1908, als es innerhalb von acht Wochen seinen Roman „Die Andere Seite“ niederschrieb, in weiteren vier Wochen schuf er dazu Illustrationen. Im Mai 1909 erschien das Buch im Georg Müller Verlag in München und wurde begeistert – von Thomas Mann, Stefan Zweig bis zu Wasily Kandinsky – aufgenommen. Seit dem Erscheinen seines illustrierten Romans „Die Andere Seite“ erhielt Kubin zahlreiche Illustrationsaufträge, für die restlichen Jahrzehnte seines Schaffens bildete seine Tätigkeit als Buchillustrator einen Schwerpunkt.
Die neue Richtung in Kubins Kunst ist von feinlinigen Federzeichnungen charakterisiert. Er gab die Arbeit mit dem Spritzgitter auf und zog flüssige Linien, die in dichten Überlagerungen Figuren ausbilden. Die Motive findet er nun in „traumhaft“-realistischen Szenen. 40 dieser Blätter reproduzierte der Verleger Georg Müller in der sogenannten „Sansara“-Mappe (1911). Eingeleitet werden sie von der ersten umfangreichen Selbstbilgrafie des nunmehr 33-jährigen Künstlers.
Anfang des Jahres 1911 war es auf Kubins Initiative zum ersten persönlichen Kontakt zu Paul Klee gekommen – damit begann ein besonders für Kubin bedeutsamer künstlerischer Austausch, der bis zum Ersten Weltkrieg anhielt. Klee lud Kubin im Frühjahr 1912 ein, sich an einer Mappe der neu gegründeten Münchner Künstlergruppe Sema zu beteiligen (auch: Egon Schiele). Er schuf dafür seine erste Lithographie, die der Beginn von Kubins lithographischem Schaffen wurde. Im Juni besuchte ihn Paul Klee in Zwickledt und zeigte ihm hier seine Illustrationen zu Voltaires „Candide“, die für einige Jahre auf Kubin einen starken Einfluss ausübten.
Im September 1913 war Alfred Kubin mit der beachtlichen Anzahl von 19 Zeichnungen am Ersten Deutschen Herbstsalon in Herwarth Waldens Sturm-Galerie beteiligt, der wichtigsten Galeristenausstellung der internationalen Avantgarde in Europa vor dem Ersten Weltkrieg. Das belegt, dass auch der reife Kubin vor dem Ersten Weltkrieg an seine frühen Erfolge anschließen konnte.
Bereits im Januar 1904 war Alfred Kubin als Gast auf der neunten Ausstellung der Phalanx vertreten. Die von Wassily Kandinsky geleitete Künstlervereinigung präsentierte über 30 Blättern, daneben wurde unter anderem ein größeres Konvolut des Zeichners John Jack Vrieslander gezeigt.
Ende des Jahres 1909 trat Kubin auf Drängen Alexej von Jawlenskys in die von diesem und Kandinsky neu gegründete Neue Künstlervereinigung München (NKVM) ein. Im Dezember stellte er auf der ersten Ausstellung der Vereinigung in der Galerie Thannhauser in München acht Temperablätter und acht Zeichnungen aus, gefolgt von der zweiten Ausstellung der Neuen Künstlervereinigung München im September 1910. Hier waren neben Kubin bereits die wichtigsten Protagonisten des zukünftigen Blauen Reiter vertreten: Wassily Kandinsky, Gabriele Münter, Alexej von Jawlensky, Marianne von Werefkin, Erbslöh, Alexander Kanoldt, Bossi, Bechtejeff, Kahler.
Am 2. Dezember 1911 forderten Kandinsky, Franz Marc und Münter nach ihrem Bruch mit der Neuen Künstlervereinigung München Kubin auf, mit ihnen gemeinsam auszutreten und sich dem Blauen Reiter anzuschließen. Kubin folgte dieser Bitte als externes Mitglied von Zwickledt aus. Drei Reproduktionen Kubins sind im Almanach des Blauen Reiter zu finden.
Auf der ersten Ausstellung des Blauen Reiter in der Münchner Galerie Thannhauser (18.12.1911–3.1.1912) war er jedoch nicht vertreten, weil fast ausschließlich Gemälde gezeigt wurden. Dafür stellte Alfred Kubin auf der zweiten Ausstellung des Blauen Reiter „Schwarz-Weiß“ die recht hohe Anzahl von 17 Zeichnungen aus (Februar 1912), darunter Orizinalzeichnungen der Sansara-Mappe. Sie fand in der Münchner Kunsthandlung Hans Goltz statt.
Im Frühjahr 1913 hatte Kubin eine große Einzelausstellung in der Galerie Thannhauser in München. Franz Marc machte ihm den Vorschlag, sich gemeinsam mit ihm, Kandinsky, Klee, Erich Heckel und Oskar Kokoschka an einer illustrierten Bibelausgabe zu beteiligen. Kubin übernahm das Buch Daniel und stellte als Einziger seinen Teil vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 fertig; 1918 gab er seine Illustrationen in einem eigenen Band, „Der Prophet Daniel“, heraus.
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs (1914–1918) zerstreute Kubins großen Münchner Freundeskreis, darunter auch die Künstler des Blauen Reiter, in alle Winde. Kubin wurde mehrfach gemustert, doch jedes Mal wieder zurückgestellt. IM Frühjahr 1915 nahm Alfred Kubin Kontakt mit dem Philosophen Salomo Friedlaender (Mynona) auf. Dessen Philosophie der Schöpferischen Indifferenz wurde für Kubin zu einer Leitlinie seiner weiteren Entwicklung und Hilfe bei der Stabilisierung seiner seit frühen Jahren empfundenen inneren Zerrissenheit. Ausgelöst durch die Nachricht des Kriegstods von Franz Marc, kam es zu einer Entladung der lang aufgestauten Spannungen in Kubins sogenannter buddhistischen Krise (März 1916). Der Ausgleich der Gegensätze wurde für den österreichischen Künstler zum bestimmenden Thema des nächsten Jahrzehnts. Das Kriegsende und den Zerfall der österreichischen Donau-Monarchie erlebte Kubin allein in Zwickledt, seine Frau Hedwig war zur Behandlung ihres Nervenleidens und ihrer Opium-Sucht in einem deutschen Sanatorium.
Nach Ende des Ersten Weltkriegs knüpfte Alfred Kubin 1919 wieder Kontakte zur Münchner Kunstszene und widmete sich intensiv Aufträgen zu Buchillustrationen. Daneben begann er zunehmend autobiographische Texte oder Artikel zu schreiben, die teilweise in seinem Sammelband „Von verschiedenen Ebenen“ (1922) wieder abgedruckt wurden. Er beschäftigte sich mit der Sammlung des Leiters der Psychiatrischen Klinik in Heidelberg, Hans Prinzhorn, zur Kunst der „Geisteskranken“ (1922).
In großen Retrospektiven wurde Kubins Werk präsentiert, mit jenem von Paul Klee verglichen und geehrt (Galerie Goltz, München, Februar 1921; Bildband „Dämonen und Nachtgesichte“, 1926; Neue Pinakothek, München, 1927; Galerie Günther Francke, München, Dezember 1930; Neue Galerie von Otto Kallir-Nirenstein, Wien, Frühjahr 1931; Hamburg, 1931; Bauhaus, Dessau, Juni 1932; Graphische Sammlung Albertina, Wien, 1937). Auf Mappenwerke wie „Traumland I und II“ (1922) oder „Filigrane und Rauhnacht“ (1923–1926) folgten noch weitere. Zunehmend nahm er Motive aus der regionalen Märchen- und Sagenwelt des Böhmerwaldes in seine Arbeiten auf.
Die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten im benachbarten Deutschland 1933 erfuhr Kubin zunächst als praktische Einschränkung – Auftragseinbußen, Grenz- und Geldschwierigkeiten, Sorge um seine halbjüdische Frau Hedwig. Er verhielt sich dem Regime gegenüber distanziert. Er beschäftigte sich weiter mit Illustrationsentwürfen und Mappenwerken, vieles fand durch die Verfolgungen der Nationalsozialisten allerdings keinen Verleger mehr und wurde vorerst nicht publiziert.
Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 befand sich Alfred Kubin im Böhmerwald, aus dem er überstürzt nach Zwickledt zurückkehrte. 1941 erschien trotz Schwierigkeiten sein reich illustrierter Band „Abenteuer einer Zeichenfeder“ in einem deutschen Verlag. Die Kriegsjahre verbrachte Kubin zurückgezogen in Zwickledt, mit der Außenwelt durch eine umfangreiche Korrespondenz verbunden. Das Kriegsende erlebte der Grafiker in seinem Haus, während sich in der Umgebung die amerikanischen Truppen mit den besiegten Deutschen noch einige Scharmützel lieferten, seine Frau Hedwig lag erneut im Krankenhaus in Schärding. Sie starb im Sommer 1948.
Zwischen 1946 und 1957 wurde Alfred Kubin mit neuen Buchillustrationsaufträgen bedacht, unter anderem zu Werken von Ernst Jünger und Georg Trakl. Vermehrt begannen sich Galeristen wie Friedrich Welz aus Salzburg oder Wolfgang Gurlitt aus Linz für Kubin zu interessieren.
Zu den wichtigsten Ehrungen zählten, dass Alfred Kubin 1950 und 1952 auf der Biennale in Venedig vertreten war. 1951 wurde ihm in Wien der Große österreichische Staatspreis für Literatur, Musik, bildende Kunst und Architektur verliehen. Zu seinem 80. Geburtstag fanden 1957 eine Reihe von Ausstellungen statt, unter anderem im Lenbachhaus München und in der Galerie St. Etienne in New York.
Bis zu seinem Tod beschäftigte sich Alfred Kubin mit Handzeichnungen. Am 20. August 1959 starb der Künstler nach achtmonatigem Krankenlager in seinem Haus in Zwickledt. Kubin vermachte seinen künstlerischen Nachlass zu gleichen Teilen der Albertina in Wien und dem Oberösterreichischen Landesmuseum in Linz. Wohnhaus und Bibliothek in Zwickledt gingen ebenfalls an den österreichischen Staat und wurden 1962 in die Gedenkstätte Kubin-Haus Zwickledt umgewandelt.