Bisher war Edmund de Waal (* 1964) bekannt für strahlendweiße Installationen, in denen er seine handgefertigten, teilweise versilberten Porzellanbehälter („vessels“) auf reinweißen Regalen arrangierte. Als Autor wird de Waal seit 2010 für sein Erinnerungsbuch „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ weltweit gefeiert. Sein subtiler Umgang mit Sprache und dem Unsagbaren, seine Liebe zur Poesie wurde in Wien bereits in seiner Installation „Lichtzwang“ im Theseustempel (2014 → Edmund de Waal. Lichtzwang) vorgestellt.
Österreich / Wien: Kunsthistorisches Museum
11.10.2016 – 29.1.2017
Als der Brite im Rahmen der Vorbereitungen von Jasper Sharp und dem Kunsthistorischen Museum eingeladen wurde, eine Ausstellung zu kuratieren, entschied er sich sein Interesse an den Dingen auf ihr Potenzial, Angst zu bannen, Unheimliches zu zeigen, den Kontrollverlust zu sublimieren und Einsamkeit zu füllen, auszuweiten. Das inzwischen erschienene zweite Buch des Keramikers, „The White Road: Journey into an Obsession“ (November 2016), schildert die Begeisterung vieler machhungriger Herrscher und Despoten am weißen Porzellan. So als ob sie sich von ihren Taten reinwaschen wollten, der von ihnen ausgehenden Dunkelheit Perfektion und Reinheit entgegensetzen wollten.
„Im 1525 Jor nach dem pfinxstag zwischen dem Mitwoch und pfintzdag in der nacht im schlaff hab ich dis gesicht gesehen wy fill großer wassern vom himmell fillen Und das erst traff das erthrich ungefer 4 meill fan mir mit einer solchen grausamkeitt mit einem uber großem raüschn und zersprützn und ertrenckett das gannz lant In solchem erschrack ich so gar schwerlich das ich doran erwachett edan dy andern wasser filn Und dy wasser dy do filn dy waren fast gros und der fill ettliche weit etliche neher und sy kamen so hoch herab das sy im gedancken gleich langsam filn. aber do das erst wasser das das ertrich traff schir herbey kam do fill es mit einer solchen geschwindigkeit wynt und braüsen das ich also erschrack do ich erwacht das mir all mein leichnam zitrett und lang nit recht zu mir selbs kam Aber do ich am morgn auff stund molet ich hy oben wy ichs gesehen hett. Got wende alle ding zu besten“1 (Albert Dürer, Traumgesicht, 8. Juni 1525)
„Du wachst auf und weißt nicht, wo du bist. Eine Ebene, flache Hügel, Felder. Irgendwo aus der Kindheit. Und die Himmel haben sich aufgetan, und die Fluten strömen hernieder, die Fluten kommen auf dich zu. Es ist die Apokalypse. Die Welt ist auf den Kopf gestellt. Du kannst kaum atmen. In der Nacht bist du ausgesetzt. Im Kunsthistorischen Museum fühle ich mich ausgesetzt. Dies sind die letzten Tage der Menschheit.“2 (Edmund de Waal über Dürers Aquarell „Traumgesicht“, 2016)
Das „Kunstbuch Albrecht Dürers“ aus dem Bestand des Kunsthistorischen Museums ist erstmals wieder seit 1994 ausgestellt. Es enthält 215 Druckgrafiken von Albrecht Dürer sowie 13 Zeichnungen, von denen acht dem Nürnberger Meister zugeschrieben werden können. Das spektakulärste Blatt ist das „Traumgesicht“, das Dürer am Morgen des 8. Juni 1525 auf Papier bannte. In der Nacht vom 7. auf den 8. Juni schreckte er in Nürnberg mitten in der Nacht hoch. Er hatte geträumt, dass Wassermassen vom Himmel stürzen und alles sintflutartig unter sich begraben würden. Er hatte Tod und Verzweiflung gesehen, die Vision einer Apokalypse. Das so entstandene Bild zeigt eine karge Landschaft. Am Horizont türmt sich ein blauer Wasserstrahl wie ein Wirbelsturm auf, links und rechts beginnen Wassermassen vom Himmel zu fallen. Das gemalte „Traumgesicht“ hält dieses Erlebnis fest und ermöglichte dem Maler gleichzeitig, wieder Kontrolle und Macht über seinen Geist zurückzuerlangen. Beschreibung und Signatur markieren die Autorschaft Dürers. Als Edmund de Waal vor drei Jahren erstmals das Aquarell sah, hatte auch er eine explosionsartig eine Vision von der Ausstellung „During the Night“: Seither erarbeitete de Waal für das Kunsthistorische Museum eine Ausstellung zum Themenkreis Angst, das Unheimliche, Kontrollverlust, Einsamkeit und die Macht von Dingen, für die er sieben verschiedene Sammlungen durchforstete und rund um das Aquarell von Albrecht Dürer „Dinge“ in Vitrinen arrangierte.
Edmund de Waal arrangierte in „During the Night“ Sammlungsobjekte in Vitrinen, die er assoziativ mit den Themenkreisen Nacht, Angst, Schutz verband. Kein Interesse, so gibt de Waal freimütig zu, hätte er an einem Schaulaufen der Meisterwerke, wo eine künstlerische Hochleistung auf die andere folgt, ein berühmter Maler neben einem vielleicht noch bekannteren Meister präsentiert würde. Genauso wenig interessiert es ihn, einen Unterschied zwischen Malerei und Kunsthandwerk zu machen, wie es die traditionsreiche Aufstellung im Kunsthistorischen Museum in Kunstkammer im Erdgeschoss und Gemäldegalerie im ersten Stockwerk vornimmt. Aus der Fülle der Bestände wählte Edmund de Waal, der sich selbst als Handwerker und Keramiker definiert, vor allem Objekte der Kunstkammer. Der Gattungshierarchie begegnet er, indem er Gemälde und Objekte nebeneinander in Vitrinen aufstellt. Einzig sein eigenes Werk – eine Installation mit dem Titel „During the Night“ (2016) – hängt dunkel und düster an einer schwarz gestrichenen Wand gleich neben dem Eingang. Und es wäre nicht der Keramiker aus England, wenn sich sein eigenes Werk nicht der Ausstellung unterordnen würde.
So könnte der Untertitel von Edmund de Waals Wiener Ausstellung sein. Die 61 von ihm erwählten Objekte haben allesamt ihren Ursprung in furchteinflößenden Umweltbedingungen und verwandeln diese kreativ in Schönheit. Albrecht Dürer gab seinem Albtraum Form, indem er ihn in Bild und Wort aufzeichnete. Viele Objekte haben solch Unheil abwehrende Funktion: Ein Bezoar oder eine Natternzungen-Kredenz sollten vor Gift schützen und wurden genauso wie christliche Reliquien in Monstranzen und Behältern in Edelmetall und Edelsteinen gehüllt. Augenförmige Prunkfibeln der römischen Zeit, ein schlangenförmiges Blasinstrument und zu blutroten Korallen versteinertes Feuer (so zumindest die mittelalterliche Lesart) werden vom leibhaftigen Teufel im Glas übertrumpft (deutsch, 1. Hälfte 17. Jh.). Vordergründig schöne Gemälde überraschen mit unheimlichen Details, wie das repräsentative Porträt einer unbekannten Dame von Lucas Cranach d. J. (datiert 1564), die einen bedrohlichen bildimmanenten Schatten wirft. Die mit allerlei Tieren gefüllte Paradiesszene (um 1618) von Roelant Savery entpuppt sich im Mittelgrund als ein Bild vom gewaltsamen Tod des Orpheus. Gleiches lässt sich über Joachim Patiniers Weltlandschaft mit dem Radwunder der hl. Katharina behaupten.
Zu den Wunderwerken an Naturimitation und Technik zählt zweifellos der so genannte „Schüttelkasten“ aus Schloss Ambras (Süddeutsch (Tirol?), nach 1550), dessen Innenleben auf Bewegung hin angelegt ist. Ein Video zeigt die täuschend echt gestalteten Insekten und Reptilien auf einem Waldboden in Aktion. Angst zu haben, kann stimulieren, und Angstbewältigung viele Formen annehmen. Die Kontrolle über die Furcht aber, so ist de Waal überzeugt, ist nur dann zurückzugewinnen, wenn man sich „der Welt aussetzt“. Tag für Tag, Nacht für Nacht.
„Nicht alle Dinge spenden Trost. Sie wandeln sich im Fortgang der Nacht, haben Ängste im Gefolge. In dieser Vitrine sind Porzellanscherben, Behälter aus silberfarbenem Aluminium, Bleischrot, Stücke von Bleiblech und schwarze, mit Oxiden glasierte Gefäße. Dies ist meine eigene Art Kunstkammer, meine Stätte von Wunder, Schönheit und Gefahr.“3 (Edmund de Waal über „During the Night“)
Verwandlung, Verpuppung, Metamorphose sind Begriffe, die Edmund de Waal häufig angesichts der Objekte und Gemälde gebraucht. So wie er als Keramiker Erde mit Wasser und Feuer in feste Gefäße verwandelt, so verwandel(te)n die ausgestellten Objekte ihre Besitzerinnen und Besitzer. Sie schützen sie, bewahrten sie, verwahrten mächtige Reliquien oder bargen gar den Teufel im Glas. „During the Night“ (2016), also mitten in der Nacht, wenn alles verschwimmt, die Grenzen beweglich werden, so der Künstler, ist der Titel seines eigenen Werks. Es entstand, nachdem Edmund de Waal ein neues Atelier gekauft hatte, das zuvor als Waffenfabrik genutzt worden war. Überall standen Büchsen mit Patronen und Gewehrteilen herum. Es muss eigentümlich gewesen sein, diesen Ort in Besitz zu nehmen, der so sehr an Tod und Bedrohung Teil hatte. Edmund de Waal bannte diese Gefühle in jenes Material, das ihm am vertrautesten ist: Porzellan. Doch das „weiße Gold“ erscheint unter seinen Händen dunkelgrau, hat er es doch mit all den giftigen Werkstoffen glasiert, die sein neues Atelier ausmachten: Blei, Kupfer u.v.m. miteinander zu einer giftigen Brühe vermengt, färben sie die sonst nahezu überirdisch hellen Stücke in nächtlichem Dunkel. Bleiern, unberührbar, weil totbringend, sind die 55 Gefäße, denen der Künstler Fundstücke aus der Waffen-Werkstatt zur Seite stellt. Fein säuberlich aufgereiht stehen Fundstücke und Porzellangefäße in der Vitrine auf regelmäßig angeordneten nebeneinander. Subtil ist ihre Aufstellung zu nennen. Nuancierte Positionen der „Dinge“, wie de Waal die einzelnen Porzellanobjekte nennt. „Ich arrangiere und finde Plätze für sie, stelle sie in Regale oder Vitrinen, in Häuser, Galerien und Museen, hierhin oder dorthin, mal ins Licht, mal in den Schatten. Installationen oder Arrangements, oder man könnte auch sagen: Gedichte.“4 Ein Rhythmus wie ein Gedicht, ein Musikstück, durchsetzt von Synkopen und Pausen, linear lesbar oder als Gesamtklang hörbar. „Ich höre meine Stücke“, gesteht der Keramiker. „Erstarrte schwarze Milch“5, nennt er die düstere Vision angesichts seiner Installation „Irrkunst“, die derzeit in Graz zu sehen ist, und erinnert einmal mehr an Paul Celans „Todesfuge“.
„Im Kunsthistorischen Museum fühle ich mich ausgesetzt […]“6, lässt Edmund de Waal einen der beiden Alten aus Thomas Bernhards Stück „Alte Meister“ am Beginn seines Essays im Katalog sagen. Während der Ausstellungsdauer trennt er sich von seinem Hasen mit den Bernsteinaugen. Wie ein Totem sitzt das Tier aus Elfenbein in einer Vitrine vor dem Ausstellungsraum, unter den Gemälden von Michael Munkaczy, Hans Makart, Gustav Klimt und dem Splendor der marmornen Prunkstiege. Der Angst begegnen und der Furcht in die Augen sehen zu können, verlangt einen sicheren Hafen. Während der langen Reise auf der Suche nach seiner Familiengeschichte hat das japanische Netsuke den Künstler-Poeten immer begleitet. In diesem Sinne ist es Edmund de Waals persönliche Natternzungen-Kredenz, sein authentischer Bezoar. Ob als Autor oder als Künstler-Kurator Edmund de Waal verdichtet Alltagserfahrung, lustvolle Vorstellungskraft mit kritischer Reflexion und poetischer Kraft.
1941 in Nottingham, England, geboren
1983 Studienabschluss an der Universität von Cambridge (Bachelor of Arts)
1991 Erhielt ein zweijähriges Stipendium einer japanischen Stiftung, um Japanisch an einer englischen Universität zu lernen und im darauffolgenden Jahr nach Tokio zu kommen.
1992 Abschluss seines Postgraduate-Studiums an der Universität von Sheffield
2001 Hielt sich in Tokio auf und arbeitete zum ersten Mal in Porzellan; Ausstellung im Geffrye Museum in London
bis 2002 arbeitete Edmund de Waal an der Universität von Westminster in London als Senoir Research Fellow für Keramik
2004 Ausstellung im New Art Centre
2005 Ausstellung in den National Museums and Galleries of Wales in Cardiff
2006 Ausstellung im Millgate Museum, England
2007 Ausstellungen in Kettle’s Yard in Cambridge und am Middlesbrough Institute of Modern Art, England
2009 Ausstellung im Victoria and Albert Museum
2010 „The Hare with Amber Eyes. A Hidden Inheritance [Der Hase mit den Bernsteinaugen]“; Ausstellung in Roche Court
2012 Ausstellung in Waddesdon Manor, Buckinghamshire, England
2013 Ausstellung an der Universität Cambridge und im Fitzwilliam Museum
2014 Ausstellung in der Southwark Cathedral sowie im Turner Contemporary (beide London) und „Lichtzwang“ im Theseustempel, Wien
2015 Erhielt den Windham Campbell Prize der Universität Yale für Sachliteratur (September).
2016 „The White Road: Journey into an Obsession“ (November). Ausstellungsprojekt „During the Night“ im Kunsthistorischen Museum, Wien; und Ausstellung in Salisbury, England.
Edmund de Waal lebt und arbeitet in London.
Für das Buch „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ erhielt de Waal den Costa Prize der Royal Society of Literature sowie den Windham Campbell Prize (Spetember 2015)
Erstpublikation des Textes (in leicht veränderter Form) in: PARNASS 4/2016, S. 84–88.
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