Alfred Kubin schrieb die erste Phantasiegeschichte der österreichischen Literaturgeschichte, entwarf in seinen Zeichnungen düstere Welten und illustrierte Weltliteratur. Radek Knapp ist einer der bekanntesten österreichischen Autoren mit Warschauer Background. Stefan Kutzenberger lud den Autor von „Franio“ oder „Der Mann, der Luft zum Frühstück aß“ zu einem Cross-over-Projekt ins Museum und zwischen zwei Buchdeckeln rund um die Fragen: „Wer war ich, wie bin ich der geworden, der ich bin - und was erwartet mich noch?“
Das Gespräch für ARTinWORDS führte Alexandra Matzner.
Österreich / Wien: Leopold Museum
7.7.–4.9.2017
ARTinWORDS: Stefan, das Leopold Museum hat dich gebeten, eine Ausstellung zu den Sammlungsbeständen von Alfred Kubin zu kuratieren. Wie bist du dieses Projekt angegangen, und wie kam Radek Knapp ins Spiel?
Stefan Kutzenberger: Das Leopold Museum besitzt die drittgrößte Kubin-Sammlung der Welt, so an die 200 Blätter. Prof. Rudolf Leopold hat immer betont, dass die beiden anderen großen Sammlungen, nämlich die Albertina und das Oberösterreichische Landesmuseum in Linz, Konvolute geschenkt bekommen hätten, während er einzelne Blätter gezielt erworben hat. Radek Knapp ist einer der führenden österreichischen Autoren und prädestiniert für eine Auseinandersetzung mit Kubins Welt!
ARTinWORDS: Soweit ich mich erinnern kann, hat Prof. Leopold das dunkle Frühwerk von Kubin besonders geschätzt.
Stefan Kutzenberger: Das Frühwerk von Kubin ist sicher das stärkste und bekannteste. Die für ihn so charakteristische Bildwelt schuf er sich bereits in seinen frühesten Blättern: den Pferden, den Zirkusgauklern, den dunklen Gassen. Außerdem zehrte Kubin sein Leben lang aus diesem Frühwerk. Er hat sich immer wieder mit den hier anklingenden Themen auseinandergesetzt und sie neu interpretiert, variiert.
ARTinWORDS: Alfred Kubin ist nicht nur Zeichner und Illustrator von Büchern, sondern selbst auch Autor.
Stefan Kutzenberger: Genau. Dieses Buch war sicher ein Auslöser für meine Idee, Radek Knapp einzuladen. Kubin hat einen Roman geschrieben: „Die andere Seite“ im Jahr 1909. Der tschechische Autor Gustav Meyrinck hatte begonnen, den Roman „Der Golem“ zu verfassen und bei Kubin angefragt, ob er interessiert wäre, den „Golem“ zu illustrieren. Kubin fand diese Idee interessant und hat mit der Arbeit begonnen. Leider hatte Meyrinck in den folgenden Jahren eine Schreibblockade und konnte sein Werk nicht vollenden. Kubin fand es bedauerlich, dass seine Illustrationen keinen Text zur Seite gestellt bekommen. Es gibt sogar Theorien, die besagen, dass Kubin daraufhin seinen eigenen Roman „Die andere Seite“ geschrieben hätte, um seine Buchillustrationen schlussendlich für ein Buch verwenden zu können.
ARTinWORDS: Daraus ergibt sich die spannende Frage, ob Illustrationen überhaupt einen Text brauchen?
Stefan Kutzenberger: Das ist ein interessanter Punkt, denn Kubin verwendet seine Grafiken nicht autonom, sondern bindet sie in ein Buchprojekt ein. Ich glaube zwar, dass diese Geschichte eine Legend ist und nicht stimmt, aber die Reihenfolge der Ereignisse ist korrekt: Alfred Kubin arbeitete zuerst an den Illustrationen und dann am Text, auch wenn dieser nicht als Ersatz für den fehlenden Meyrinck-Text verfasst wurde. Das zeigt, dass für ihn Illustration und Text nicht ganz so enge Beziehung eingehen und durchaus austauschbar sind. Aus dieser Beobachtung ist das Projekt mit Radek Knapp entstanden.
ARTinWORDS: Wie bist du dann auf Radek Knapp gekommen?
Stefan Kutzenberger: Radek Knapp ist einer der ganz großen österreichischen Autoren. Mir ist aber aufgefallen, dass die Literatur- und die Kunstszene so voneinander getrennt sind, dass sie voneinander kaum Notiz nehmen. Mein Anspruch ist es, mit diesem Projekt – der Ausstellung und dem Buch – beide Welten zu vereinen. Wichtig war auch, dass Hans-Peter Wipplinger, Direktor des Leopold Museums, diese Idee unterstützte.
Radek Knapp: Ich habe Hans-Peter Wipplinger vor einigen Jahren auf einer Veranstaltung in Oberösterreich kennengelernt.
Stefan Kutzenberger: Ich wollte es dem Zufall überlassen, wie Früh- und Spätwerk vertreten sind. Radek hat nicht auf die Entstehungszeit geachtet, sondern auf die Inhalte der Bilder geschaut. Seine Frage war, wie kann man Bilder auswählen und dann eine Geschichte daraus entwickeln. Das ist unendlich schwer. Wie beginnt man eine solche Aufgabe, wenn man 200 Blätter zu Auswahl hat, davon ca. 40 Arbeiten auswählen soll und schlussendlich eine Geschichte erzählt. Radek Knapp hat seiner Erzählung einen märchenhaften Charakter mit verschiedenen Stationen gegeben, was ich wunderbar finde.
ARTinWORDS: Ich möchte die Frage gerne an Radek Knapp selbst weitergeben: Wie funktioniert Dein Gehirn? Stefan Kutzenberger überreicht dir ein Konvolut an Blättern. Wie gehst du so eine Arbeit an?
Radek Knapp: (lacht) Erstens war die Idee von Stefan so einfach und doch so originell, dass ich lange überlegt habe, ob er das nicht irgendwo geklaut hat. Ich weiß nicht, wie ich es gemacht habe. Ich erinnere mich nur an die Probleme, die sich auftun. Bei Kubin ist das nicht einfach, noch dazu ist er nicht gerade ein lustiger Grafiker. Schlussendlich ging es nur so, indem ich den Bildern eine Geschichte aufzwinge, eine Reihenfolge, sie ein bisschen benutze. Das war das Schwierige. Ich musste das Bild sein lassen und es gleichzeitig ein bisschen benutzen. Es sollte auch eine gute Verbindung zwischen den Bildern hergestellt werden, weil sonst die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung nur auf die Bilder schauen. Das ist mir klar! Ein Text hat es enorm schwierig, weil das menschliche Hirn zu 80% auf den Sehsinn abgestellt ist. Die restlichen 20% bedienen die übrigen vier Sinne.
ARTinWORDS: Daraus kann man auch eine gewisse Konkurrenzsituation zwischen Bild und Text ableiten?
Radek Knapp: Ja, aber man sollte sich als Autor nicht in Konkurrenz zum Bild stellten, weil diese Auseinandersetzung verliert man eindeutig. Daher muss man sich ein bisschen in den Dienst stellen und dennoch einen eigenen Ton behalten.
ARTinWORDS: Du hast schlussendlich die Idee gewählt, einen Protagonisten auftreten zu lassen.
Stefan Kutzenberger: Wie bist du auf das erste Bild und den ersten Satz gekommen?
ARTinWORDS: Hast du ihn überhaupt als erstes geschrieben?
Radek Knapp: Na klar. So originell finde ich den ersten Satz jetzt nicht…
Stefan Kutzenberger: Mir gefällt er sehr gut! Mich hast du damit sofort abgeholt. Als ich den Text zum ersten Mal gelesen habe, wusste ich schon mit dem ersten Satz, dass es gut geworden ist.
Radek Knapp: Mir liegen solche Geschichten, weil sie linear sind: Hier gibt es einen Mann, der geht in eine Stadt, und dann sucht er etwas – von Station zu Station. Das ist das Prinzip eines Entwicklungsromans, der im Prinzip das Lebe widerspiegelt. Deshalb ist der Entwicklungsroman meine Lieblingsform, weil das Leben mit A beginnt und, wenn man Glück hat, mit Z endet. So habe ich mir erlaubt, aus dem Material einen Entwicklungsroman zu machen.
ARTinWORDS: Sollen wir verraten, wie dieser erste Satz lautet?
Radek Knapp: „Die Geschichte beginnt da, wo Geschichten immer beginnen. Auf dem Papier.“ Das sollte der Hinweis sein darauf, was uns verbindet. Maler und Schriftsteller sind alle auf dem Papier tätig.
ARTinWORDS: Wie fügt sich dieses Projekt in dein bisheriges schriftstellerisches Werk?
Radek Knapp: Es lag mir unglaublich viel daran, weil Alfred Kubin ist wirklich nicht irgendjemand. Im Laufe des Schreibens habe ich ihn auch noch viel besser kennengelernt. Wenn ich darüber nachdenke, welche Autoren Illustrationen von Kubin in ihren Büchern haben, dann komme ich auf Kafka, Dostojewski, Poe, Strindberg. Das reicht doch schon, um solch eine Einladung anzunehmen.
ARTinWORDS: Was fasziniert dich an Alfred Kubin im Speziellen?
Radek Knapp: Alfred Kubin wurde 1877 geboren – genauso wie Hermann Hesse. Ich liebte die Werke von Heese, bis ich etwas 20 war. Dann war Kubin da. Der eine war ein netter Onkel, der Geschichten erzählte, der andere ist ein echter Existenzialist. Die Existenzfremde ist die große Schwester der Emigrationsfremde, und das ist etwas, wo ich zuhause bin. Das hat mich sofort gepackt, auch wenn ich es so niemals ausdrücken würde. Außerdem ist Kubin ein Künstler, der vom Geist seiner Epoche durchströmt wurde. Ich wage es, seine Epoche und meine miteinander zu vergleichen. Es fühlte sich an, als würde ich mich in der Umarmung seiner Epoche bewegen.
ARTinWORDS: Wie würdest du seine, Kubins Epoche beschreiben?
Radek Knapp: Ich beschreibe meine Epoche, die all das nicht hat, was seine auszeichnete. Unsere Epoche ist zu schnell. Wir haben solche Spielzeuge wie das Internet, das uns vielleicht doch nicht so viel Wissen und Intelligenz beibringt, wie versprochen. Die Menschen sind meiner Meinung nach viel zu verwöhnt, und es geht ihnen viel zu gut. Uns fehlt eine existenzielle Sparsamkeit, eine Konzentrationsfähigkeit. All das sehe ich bei Alfred Kubin. Er ist so viel größer als ich – er zieht mich hinauf.
ARTinWORDS: Wie meinst du das genau? Dieses Erhobensein?
Radek Knapp: Ich fühle mich ein wenig zu seinem Horizont hinaufgezogen.
Stefan Kutzenberger: Ich wollte dir widersprechen, wenn du erlaubst. Ich glaube, die Weltsicht Kubins um 1900 beschreibt sein Umfeld und sein Innenleben, als er Mitte 20 war. Die Angst und die Beklemmung, die man in den Werken sieht, bezieht sich, glaube ich, genau auf eine Situation, die wir jetzt wieder erleben: Damals war es die Angst vor der technologischen Revolution durch Telefon, Postwesen, Informationsüberflutung etc. Man war plötzlich ständig erreichbar, überall erhielt man Informationen aus der ganzen Welt. Es gab im großen k.k. Reich keinen Reisepass, d.h. man konnte ohne Pass von Prag bis Triest reisen, was heute auch wieder geht. Ich glaube, dass unsere aktuelle Zeit der vorletzten Jahrhundertwende ähnlicher ist als etwa die Achtziger oder Siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts es waren. Es scheint mir auch kein Zufall, dass um 1900 Hysterie und Neurasthenie behandelt wurden, die in etwa mit einem Burnout vergleichbar sind. Kubins Welt ist eine Welt der Angst.
Radek Knapp: Vielleicht sind wir heute schon Instrumente der Angst und nicht mehr nur Objekte.
ARTinWORDS: Ihr beide repräsentiert zwei unterschiedliche Zugänge zu Kubin: Der Literaturhistoriker kontextualisiert ihn, und der Autor fühlt sich ein. Wie wird das Projekt in der Ausstellung realisiert?
Stefan Kutzenberger: Es gibt eine einfache Abfolge von Bild und Text – wie im Buch auch.
ARTinWORDS: Mit der Bezifferung, die im Buch zu finden ist?
Stefan Kutzenberger: Ja, das soll den Besucherinnen und Besuchern helfen, die Geschichte vom Anfang bis zum Schluss zu verfolgen.
ARTinWORDS: Man könnte die Geschichte aber auch von hinten nach vorne lesen…
Stefan Kutzenberger: Die Geschichte ist eine Geschichte. Wenn du den ersten und den letzten Satz gelesen hast, verstehst du warum.