Die Bundeskunsthalle in Bonn widmet der „Mutter“ der Performancekunst, Marina Abramović, eine Retrospektive über 50 Schaffensjahre. In dieser geballten Konzentration ihres bisherigen Schaffens, tauchen einige Themen sehr augenscheinlich als Leitmotive auf: im Frühwerk ist dies die gesellschaftliche und moralische Provokation als absolutes Stilmittel, die Auseinandersetzung mit dominant-submissiven Aspekten gepaart mit einer bewusst feministischen Haltung, die als Teil des öffentlichen politischen Diskurses zu verstehen war.
Deutschland / Bonn: Bundeskunsthalle
20.4. – 12.8.2018
Ab den 80er Jahren wird die Innenschau mit dem Ziel der Reduktion des Selbst auf das Sein im Spannungsfeld der kulturellen Appropriation bestimmend für ihr Werk. In jüngerer Zeit kristallisiert sich die Herausarbeitung der Messiasfunktion der Kunstfigur Abramović als zentral heraus. So spricht selbst Rein Wolfs, der Intendant der Bundeskunsthalle, bei der Eröffnung von einem „Wunder“, das in seinem Haus passiert. Es stellt sich allerdings die Frage, wer denn noch an Performance-Wunder glaubt?
Die persönliche Präsenz von Marina Abramović (*1946) ist mit einem Nimbus des Übermenschlichen umgeben. Die Heilige, die Märtyrerin, die Erleuchtete, die Gereinigte stellt sich und ihren Körper ihrem Publikum im post-aufklärerischen Zeitalter zur Verfügung. Das Versprechen der eigenen Läuterung geht ihrer physischen Präsenz sowie jeder Art von Messias/Guru einher. Die Negation des Alters, welche in Form von Schönheits-OPs ersichtlich ist, trägt noch zusätzlich zu dem Nimbus um ihre Person bei.
Der Erfolg und das Medienecho der Langzeitperformance „The artist ist present“ 2010 im MoMa, jene Arbeit die Kuratorin Susanne Kleine als Höhepunkt des Schaffens an die erste Stelle der Ausstellung setzt, nährte sich aus eben jenem Nimbus des Übermenschlichen, der Präsenz des Messias. Die neben der Videodokumentation präsentierte partizipative Arbeit, welche die Requisiten dieser Performance – zwei aufeinander ausgerichtete Stühle und ein Tisch in der Mitte – funktioniert daher auch weniger als Aufforderung zur Nachahmung, sondern mehr im Sinne eines Reliquienkults.
Abramović geht es um Energieaustausch, zwischen Performer und Publikum, zwischen Objekten und Subjekten; von ihm hängt ab, ob eine Performance funktioniert oder nicht. In der Ausstellung zu sehen: zwei frühe expressionistisch anmutende Gemälde aus 1963, zu diesem Zeitpunkt ist Abramović 17 Jahre alt, die den programmatischen Titel „Truck Accident (I)“ und „Truck Accident (II)“ tragen. Sie zeugen bereits von dieser Faszination von polarer Masse und Energie, die im Moment des Zusammenstoßes ihr volles zerstörerisches Potential entfalten. Das Interesse an dualistischen Kräften zeigt sich auch Jahre später in ihren gemeinsamen Performances mit Ulay (*1943) zwischen 1976 und 1988, welche in der Ausstellung erwartungsgemäß zu sehen sind.
In der chronologisch angeordneten Retrospektive steigt man, nach wenigen frühen Malereien der Künstlerin, gleich mittens in ihr Performance-Œuvre ein. Die Fotodokumentation ihrer ersten Performance 1973 mit dem Titel „Rhythm 10“ zeugt bereits von anfänglichem Kontrollwahn: Die Künstlerin sticht mit scharfen Messern zwischen ihre gespreizten Finger und erhöht dabei kontinuierlich das Tempo. Das Messerspiel, seit letztem Jahr übrigens Youtube-Trend (Stichwort: The Knife Game Song), startet von vorne mit einem neuen Messer, sobald sie sich verletzt hat. In „Rhythm 5“ geht sie einen Schritt weiter: körperliche Kontrolle bis zur Ohnmacht durch Sauerstoffmangel. Die 5-teilige „Rhythm“-Serie gipfelt 1975 in „Lips of Thomas“, bei der sie in einer 7-Stunden-Performance in der Galerie Krinzinger in Innsbruck eine Selbstkasteiungszeremonie vollzog. Das Publikum musste die Künstlerin retten, indem es die Performance abbrach. Das Publikum konnte in diesem Moment allerdings nur die Kontrolle übernehmen, da Abramović bereits in einem Zustand der völligen Erschöpfung war, an den sie sich selbst nicht mehr erinnern konnte. Was sich bereits in frühen Jahren bemerkbar macht, wird in den Langzeitperformances der letzten Jahre immer klarer: die Obsession mit Kontrolle über den eigenen Körper und Geist, aber auch des Publikums. Selbst die Rezeption bzw. die Deutung der einzelnen Werke wird in der Ausstellung von Abramović in Form von ausgewählten Kommentaren und Erklärungen gelenkt.
Dass man Körperkunst und Performance sehr gut ausstellen kann, hat die Bundeskunsthalle in der Vergangenheit mit der Ausstellung zu Pina Bausch 2016 bereits bewiesen. Auf dem Plakat der Abramović-Ausstellung wirbt die Bundeskunsthalle mit „täglichen Re-Performances“, Plural, und „partizipativen Arbeiten“. Davon zu einem spontanen Museumsbesuch angelockt, folgt rasch die Ernüchterung. De facto gibt es während der Laufzeit zwei Re-Performances: „Art Must Be Beautiful, Artist Must Be Beautiful“ ist nur sonntags von 12:00 bis 15:30 zu sehen, „Imponderabilia“ hingegen täglich. Als kleiner Trost wird zumindest im Zeitraum von 12. bis 24. Juni 2018 außerdem noch „House with the Ocean View“ ganztägig aufgeführt: eine Performerin wird 12 Tage lang in der Bundeskunsthalle wohnen, und man kann sie bei ihren täglichen Aktivitäten beobachten. Zwei weitere Performances waren ausschließlich am Eröffnungswochenende zu sehen, das sich PR-und besuchertechnisch günstig mit der Art-Cologne-Woche überschnitt und zusätzlich zum Kunst-Überangebot der Woche beitrug.
Abgesehen von dem halb-leeren Versprechen der täglichen Re-Performances gibt es noch einen weiteren Punkt, der im Bezug auf die Re-Performances schwierig erscheint: und zwar die Absenz der Fatalität, wie Ulay in einem Interview anmerkt. Dass eine Re-Performance nie die gleiche Wirkung haben kann, wie Ihre originale Erstaufführung, das ist klar. Selbst das „Extramaß an Motivation“, der es laut Ulay bedarf um derartige Projekte als Schauspieler anzunehmen, täuscht nicht über die Tatsache hinweg, dass die Re-Performances von speziell für die Performance trainierten Akteuren durchgeführt werden. Es geht auch nicht darum, den Re-Performances ihre Legitimität abzusprechen, sondern darum deren Andersartigkeit zu betonen.
Für „Imponderabilia“ etwa stehen eine nackte Frau und ein nackter Mann einander zugewandt an einem engen Türspalt gegenüber. In dem Raum selbst ist die Foto- und Videodokumentation der ursprünglichen Performance von 1977. Nach inhaltlicher Vorbereitung kann der Museumsbesucher entscheiden, ob er zwischen den beiden Performern hindurchgehen möchte oder lieber seitlich daran vorbeigeht, und im ersteren Fall: wem der beiden er/sie sich zuwendet. In der ursprünglichen Situation mit Abramović und Ulay in der Galleria Communale d’Arte Moderna in Bologna kamen die Besucher ohne Vorbereitung, was sie erwarten würde und hatten keine Wahl: sie mussten durch die beiden hindurch, um in das Museum zu gelangen. Die Zuwendung zur einen oder zur anderen Person war ohne dokumentarische Analyse davor auch instinktiver. Insgesamt bleibt nach dem Durchschreiten ein hohles Gefühl übrig, teils bedingt durch die gut aufbereitete Dokumentation, welche die Mankos der Re-Performances augenscheinlich macht. Insgesamt ist es von einer persönlichen Grenzerfahrung weit gefehlt.
Bei der Inszenierung des Übermenschlichen schreckt Abramović auch vor kultureller Appropriation nicht zurück. Was im kommerziellen Bereich als Verpönung des 21. Jahrhunderts gilt, ist im Kunstkontext offenbar kritiklos erlaubt – und noch mehr: Abramović wird dafür weltweit gefeiert. Bereits in den 80er Jahren, noch in Zusammenarbeit mit Ulay, intensivierte Marina Abramović die Auseinandersetzung mit verschiedenen Kulturen, Riten, Praktiken und Zeremonien im Zuge von Reiseaufenthalten. 1980 ging das Künstlerpaar nach Australien, um dort neun Monate mit dem Stamm der Pintupi zu leben. 1982 reisten sie nach Bodhgaya in Indien, wo sie sich der Vipassana-Meditation widmeten und unter anderem auf den Dalai Lama trafen. Die über sechs Jahre hinweg dauernde „Nightsea Crossing“-Serie ist das Resultat dieser Erfahrungen: Abramović und Ulay saßen sich auf zwei Stühlen und mit einem Mahagonitisch in der Mitte sieben Stunden lang regungslos gegenüber. Der Performance voraus ging eine 90-tägige Phase der Stille und des Fastens von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. Die spirituelle Dimension wird im ruhenden Körper fassbar, dem der aktive Geist gegenübersteht, den es wiederum in der Meditation zu bändigen gilt, bis nur mehr das bloße Sein übrig bleibt. Die Reise nach China 1986, welche 1988 in der Performance „The Lovers“ gipfelte und den Endpunkt der 12-jährigen Zusammenarbeit mit Ulay markierte, hatte auch für die folgenden „Transitory Objects“ eine wichtige Bedeutung: Steine und Mineralien, denen im fernen Osten Heilkräfte und Energien zugesprochen werden, finden nun Anwendung. Sie stehen als partizipative Arbeiten für den Besucher zum Selbst-Erleben zur Verfügung. Eine schöne Erfahrung ist jene Arbeit, welche einen konkav bearbeiteten und glattpolierten Stein an die Stellen von Stirn, Herz und Scham zum Anlehnen an die Wand anbieten.
Was die Ausstellung bravurös schafft, ist ein äußerst komplexes und vielschichtiges Bild vom Schaffen der großen Marina Abramović zu geben und dies – etwa durch die Aufteilung der Biografie in vier Teilbereiche mit Verweisen zu bestimmten Werken – nachvollziehbar zu präsentieren. Die Ausstellung setzt viele unterschiedliche Denkprozesse in Gang und ist dahingehend ein echtes Highlight im aktuellen Ausstellunggeschehen im Rheinland.
Kuratiert von Susanne Kleine