Die Kathedrale Notre-Dame de Paris brannte – und viele Kommentatoren bezeichneten das Gotteshaus als nationales Symbol. Der gesamte Dachstuhl samt Bedeckung sind ein Raub der Flammen geworden. Das Querhaus, wo der Brand den ersten Fotos zufolge ausgebrochen sein dürfte, ist schwer in Mitleidenschaft gezogen worden. François Pinault und seine Familie spenden spontan 100 Millionen Euro für den Wideraufbau, gefolgt von Anrault und Bettencourt-Meyer mit je 200 Millionen. In der Zwischenzeit ist mehr als eine Milliarde Euro zugesichert Dr. Werner Telesko, Kunsthistoriker und wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, erzählt, warum die Beschädigung von Notre-Dame de Paris für das sonst so laizistische Frankreich eine Katastrophe und der Wiederaufbau eine nationale Angelegenheit ist.
Das Gespräch für ARTinWORDS führte Alexandra Matzner.
ARTinWORDS: Notre-Dame de Paris wäre am Montag in der Nacht fast abgebrannt! Präsident Macron hat das als nationale Katastrophe bezeichnet. In allen Kommentaren wird – neben der Bedeutung der Kirche für das globale Christentum – ostentativ auf den nationalen Kulturschatz hingewiesen. Was bedeutet die Kathedrale in der Mitte von Paris für das französische Volk?
Werner Telesko: Das französische Volk sieht in der gotischen Kathedrale einen Identifikationsort der eigenen Geschichte.
ARTinWORDS: Was ist damit gemeint?
Werner Telesko: Dass die französische Geschichte anhand dieses Bauwerks nachvollzogen werden kann. Dazu zählen: die Pariser Bluthochzeit 1572, die Französische Revolution 1793, die Selbstkrönung Napoleons 1804, die Geburt der literarischen Romantik in Frankreich. Das alles – wie auch die kunsthistorische Bedeutung des Baus – führte zur Ernennung der Kathedrale zum Weltkulturerbe im Jahr 1979.
ARTinWORDS: Das ist eine lange Liste an historischen Ereignissen, die im Kircheninneren stattfanden bzw. mit dem Kirchenbau verbunden waren. Lass uns mit der kunst- und architekturhistorischen Bedeutung der Kathedrale Notre-Dame de Paris beginnen.
Werner Telesko: Anhand von Notre-Dame de Paris lässt sich die Stilentwicklung der Gotik von Ost, d.h. vom Chor, bis nach West zu den beiden Zwillingstürmen, weiter zum Langhaus und dann ins Querhaus ablesen. Die schweren romanischen Stilelemente im Chor wurden zugunsten der durchlichteten Wand zurückgedrängt. Notre-Dame de Paris wurde von Bischof Maurice de Sully privat finanziert, da Ludwig VII. zu wenig Geld stiftete. Fast 30 Jahre nach der Weihe des Chors der Abteikirche von Saint-Denis, wo sich die Grablege der französischen Könige befand, wollte der Pariser Bischof eine monumentale Kirche auf der Île de la Cité errichten. Auch die Konkurrenz zu den früh- und hochgotischen Kathedralen von Chartres und Reims – letztere die Krönungskirche der französischen Könige – darf nicht außer Acht gelassen werden. Nur aufgrund der hohen Dichte der revolutionären Kirchenbauten in dieser Region konnte sie zum Ursprungsgebiet der gotischen Architektur und Skulptur werden (→ Gotik). Notre-Dame de Paris ist wegen seiner Lage wohl das bekannteste Werk des gotischen Baustils in Frankreich. Dazu kommt noch, dass für Notre-Dame de Paris erstmals Namen von Architekten überliefert sind.
ARTinWORDS: Das ist spannend! Kannst du dazu noch mehr sagen?
Werner Telesko: Die beiden Architekten Jean de Chelles und Pierre de Montreuil sind die ersten namentlich bekannten Pariser Architekten. Sie haben mit den beiden Querhausfassaden die spätesten Teile der gotischen Architektur errichtet. Dabei beruft sich Pierre de Montreuil in kreative Konkurrenz auf seinen Vorgänger de Chelles, auf dessen Leistungen er aufbaute, und den er zu übertreffen dachte. Erstmals im Mittelalter wird die künstlerische Handschrift eines Architekten identifizierbar!
ARTinWORDS: An Notre-Dame de Paris lässt sich aber auch die Wiederentdeckung der Gotik im frühen 19. Jahrhundert – Stichwort: „gothic revival“ – nachvollziehen. Welche Rolle spielte die Architekturgeschichte in diesem Kontext?
Werner Telesko: Am besten lässt sich das an der vom Einsturz des Dachreiters schwer beschädigten Vierung zeigen. An der Kreuzung von Lang- und Querhaus hat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Eugène-Emmanuel Viollet-le-Duc versucht, den Zustand des 13. Jahrhunderts zu rekonstruieren. Damals waren die Obergadenfenster vergrößert worden, um einen durchlichteten Raum zu erzielen. Deshalb wurde der zuerst vierteilige Wandaufriss zu einem dreiteiligen umgebaut, was für die hochgotischen Kathedralen richtungsweisend wurde. Die berühmten Scheinrosetten sind also eine Errungenschaft der 1870er Jahre. Die Bibliotheque Nationale in Paris besitzt ein Buch, in dem der Architekturhistoriker Violet-le-Duc seine Idealvorstellung der gotischen Kathedrale veröffentlichte: Ursprünglich wollte er die beiden unvollendeten Westtürme mit spitzen Turmhelmen versehen und über der Vierung einen mächtigen Vierungsturm ausführen. Stattdessen ist ein schlanker Dachreiter entstanden, den seit Montagnacht die ganze Welt als „Turmspitze“ kennt, weil er so dramatisch eingestürzt ist. Die Reliquien, die in diesem Dachreiter eingesetzt waren, sind vermutlich unwiederbringlich verloren.
ARTinWORDS: Das heißt, dass die Reliquien nicht nur im Tresor verwahrt wurden?
Werner Telesko: In einer katholischen Kirche ist eine sogenannte Altarkondition nötig. Das bedeutet, dass eine Voraussetzung für die Weihe eines Altars – auch der Seitenaltäre – die Einsetzung von Reliquien in den Altarblock ist. Die Reliquien werden in den Unterbau eingelassen, darauf liegt die Mensa auf. Die Reliquien von den Stadtheiligen von Paris, Dionysius und Genoveva aber auch ein Stück der Dornenkrone, befanden sich am Dachreiter, um Unheil abzuwehren. Auch das kommt in katholischen Kirchen häufig vor. Wenn die Pariser Glück haben, sind diese Reliquien im berühmten Dachhahn verwahrt, der geborgen werden konnte. Man wird sehen!
ARTinWORDS: Die Rettung der für gläubige Christen wahren Dornenkrone Christi wurde in der Nacht des Brandes besonders gefeiert. Was hat es mit dieser Reliquie auf sich?
Werner Telesko: König Ludwig IX., der Heilige, erwarb von Kaiser Balduin in Konstantinopel die Dornenkrone. Von dieser Reliquie nahmen alle an, sie wäre die wahrhaftige Dornenkrone, mit der Christus bei der Passion gekrönt worden wäre. Ursprünglich wurde dafür die Palastkapelle Sainte-Chapelle errichtet. Erst unter Napoleon wurde die Dornenkrone in die Notre-Dame gebracht.
ARTinWORDS: Eine weitere Strategie, um Unheil von dem Bau abzuwehren, sind die berühmten Gargoyles, die wasserspeienden Monster, die sich unter anderem über der Königsgalerie an der Westfassade befinden. Diese werden vor allem in Darstellungen der Kathedrale in der Romantik betont. Welche Rollen spielen Literatur und Druckgrafik im 19. Jahrhundert für die Bedeutung der Kirche?
Werner Telesko: Die französische Gotik wurde in der Literatur der Romantik erstmals als typisch französischer Stil gedeutet. Damit wurde auch die Diskussion eröffnet, welcher Nation der Ursprung der Gotik zuzuschreiben ist. Bekanntlich hat Johann Wolfgang von Goethe angesichts der Kathedrale von Straßburg in seiner Schrift „Von deutscher Baukunst“ im Jahr 1772 noch eine andere Vorstellung davon. Weiters sind Autoren wie François-Renè Chateaubriand und Victor Hugo wesentlich am wiedererweckten Interesse an der französischen Kathedralgotik verantwortlich. In Victor Hugos Dichtung von 1831 ist Notre-Dame de Paris der Handlungsort einer umfassenden Geschichte im kirchlich-weltlichen Zusammenhang. Hugo nimmt in dem Text keine romantisierende Haltung ein, sondern ist durchaus kritisch – sowohl dem Staat wie auch der Kirche gegenüber. Eine Generation zuvor war Notre-Dame von den Revolutionären profaniert und unter der Herrschaft Napoleons wieder geweiht worden. Der Erfolg des Romans schuf erst die Voraussetzung für die notwendige Erhaltung der Kathedrale als Architekturdenkmal – und inspirierte Historiker wie Viollet-le-Duc zu seinen Forschungen.
ARTinWORDS: Bevor wir zu Notre-Dame in der Napoleonischen Zeit kommen, würde ich gerne noch erfahren, welche Rolle die Kathedrale im Kontext der Glaubenskämpfe zwischen Katholiken und Protestanten im 16. Jahrhundert spielte?
Werner Telesko: In Notre-Dame de Paris wurde im Jahr 1572 die sogenannte Pariser Bluthochzeit geschlossen. Das war die Hochzeit zwischen dem damals noch hugenottischen König Heinrich von Navarra und der französischen Prinzessin und Katholikin Margarete von Valois. Obschon als versöhnliche Geste gedacht, führte diese Eheschließung am 23./24. August 1572 zur Bartholomäusnacht, in der dreitausend Hugenotten allein in Paris abgeschlachtet wurden. Notre-Dame de Paris sollte als ein Ort der nationalen Einheit und konfessionellen Versöhnung in die Geschichte eingehen – auch wenn die nachfolgenden Gräueltaten dieses Ansinnen pervertierten.
ARTinWORDS: Du hast die Profanisierung von Notre-Dame de Paris während der Französischen Revolution 1793 angesprochen. Kannst du das weiter ausführen?
Werner Telesko: Notre-Dame de Paris ist so stark mit dem französischen Königtum verbunden gewesen, dass die Revolutionäre einen Bildersturm entfachten. Die Kathedrale wurde entweiht und als Tempel der Vernunft genutzt. Stiche dokumentieren aus verschiedenen Perspektiven das Ereignis. Am 10. November 1793 wurde die „Fête de la Raison“, also das Fest der Vernunft in der ehemaligen Kathedrale Notre-Dame de Paris gefeiert. Bereits drei Tage zuvor hatte der Bischof von Paris gemeinsam mit elf seiner Vikare sein Kreuz und seinen Ring ab- und die rote Revolutionshaube angelegt. Für das Fest der Vernunft wurde im Chor der nun entweihten Kirche eine Erhöhung aufgeschüttet, darauf ein kleiner griechischer Tempel mit der Aufschrift „à la Philosophie“ errichtet. Philosophen, repräsentiert durch Büsten, nahmen nun die Rollen der Vermittler der wahren und reinen Vernunft ein. Auf dem Altar brannte die Flamme der Vernunft; Notre-Dame wurde als der „Tempel der Vernunft“ angesprochen. Mädchen und Frauen verkörperten Freiheit und Vernunft, ihnen wurden Zeichen der Huldigung entgegengebracht. Der Stich von William Dent aus dem British Museum zeigt die Umdeutung des katholischen Raumes in einen revolutionären Ort als Satire und Teufelswerk.
ARTinWORDS: Zum Bildersturm gehörte auch, dass die Revolutionäre sich an einigen Skulpturen vergingen. Warum köpften sie in Stein gehauene biblische Könige?
Werner Telesko: Die Revolutionäre dachten, es würde sich um Darstellungen französischer Könige handeln. Bei markanten politischen Ereignissen werden häufig Kunstwerke als Stellvertreter für Ideologien angesehen. Zu dieser Zeit gibt es keine Vorstellung von Kunst im heutigen Sinn, d.h. dass Kunst in enger Beziehung zu Religion und Politik gesehen werden muss. Daher handelt es sich auch bei Notre-Dame de Paris nicht nur um eine Kirche, sondern auch um ein nationales und politisches Symbol.
ARTinWORDS: Ein wichtiges Ereignis für die gesamteuropäische Geschichte ist die Kaiserkrönung Napoleons. Auch hier spielte Notre-Dame de Paris eine wichtige Rolle, wählte der Kaiser der Franzosen doch genau diesen Ort für seine Selbstkrönung. Warum ging Napoleon dazu auf die Île-de-la-citè und nicht nach Reims, der hochgotischen Krönungskathedrale der französischen Könige?
Werner Telesko: Die Französische Revolution hat vor allem in Paris und Umgebung stattgefunden. Die Kathedrale Notre-Dame de Paris war zum Symbol des Tempels der Vernunft umgedeutet worden. Mit dem Konkordat 1801 schloss Napoleon mit dem Heiligen Stuhl Frieden. Da die königlichen Feste des Ancien Régime in Notre-Dame stattfanden, wollte Napoleon daran wieder anschließen. Schlussendlich handelt es sich um ein Projekt der kirchlichen Restauration. So kann man auch die Anwesenheit des Papstes erklären, der mehr oder weniger genötigt wurde, nach Paris zu kommen.
ARTinWORDS: Offenbar besteht der Ruhm Notre-Dames nicht nur aus ihrer kunst- und architekturhistorischen Bedeutung. Die Kathedrale war inmitten von Paris Zeugin und Austragungsort von vielen erinnerungswürdigen Geschehen. Wie kann man dieses komplexe Geflecht von jahrhundertealter symbolischer Aufladung des Gebäudes zusammenfassend würdigen?
Werner Telesko: Notre-Dame ist die willfährige Projektionsfläche zum Teil auch gegensätzlicher Strategien. Da die Kirche die Verbindung von Thron und Altar seit dem Mittelalter symbolisiert, arbeiteten sich unterschiedliche Gruppen an der royalistischen Funktion der Kirche ab. Der Traditionsbruch der Französischen Revolution macht nur bei den königlichen Symbolen wie der Bastille und Notre-Dame Sinn. Insofern ist Notre-Dame nicht nur der reale, sondern auch der symbolische Aushandlungsort der französischen Geschichte. So war die Kirche während der Revolution von 1830 ein Zeichen von bürgerlicher Inbesitznahme. Eugène Delacroix malte sie im Hintergrund seines berühmten Bildes „Der 28. Juli 1830. Freiheit führt das Volk“ im Louvre rechts im Hintergrund – und lässt auf ihren Türmen die Tricolore wehen. Notre-Dame de Paris und Frankreich sind aufs Engste miteinander verknüpft. Von ihrem Vorplatz aus werden die Entfernungen der französischen Städte gemessen, was die Kathedrale zum Zentrum Frankreichs macht. All diese Aspekte spielen aktuell im Diskurs um Notre-Dame, den Brand und die Wiederaufrichtung zusammen.