Albrecht Dürer 2019 in der Albertina thematisiert die Funktionen der Zeichnung in der Werkstatt Dürers, die neuartige Beobachtungsgabe des Nürnberger Renaissance-Künstlers und – im Katalog – den Kriminalfall rund um die Erwerbungen von Herzog Albert von Sachsen-Teschen: Albertina: Albrecht Dürer Kurz bevor die Ausstellung eröffnet, hat ARTinWORDS Christof Metzger, Chefkurator der Albertina und Dürer-Experte, getroffen, um mehr zu Dürers einzigartiger Zeichentechnik zu erfahren. Dabei offenbarte Metzger auch Erstaunliches zum sogenannten „Dürer-Hasen“, dem berühmtesten Blatt Dürers in der Albertina.
Das Gespräch führte Alexandra Matzner.
Österreich / Wien: Albertina
20.9.2019 – 6.1.2020
ARTinWORDS: Am 19. September eröffnet die große Dürer-Ausstellung, die du kuratierst. Die letzte Dürer-Ausstellung in der Albertina fand 2003, also vor 16 Jahren statt. Diese stellte ebenfalls das grafische Werk des Nürnberger Renaissancekünstlers aus dem eigenen Bestand vor. Wodurch unterscheidet sich deine Dürer-Ausstellung 2019 von ihrer Vorgängerin?
Christof Metzger: Die Dürer-Ausstellung 2003 präsentierte eine monografische Übersicht mit vielen Zeichnungen und Druckgrafik aus dem eigenen Bestand, quasi von der Wiege bis zu Bahre. Ergänzt wurden diese durch Gemälde, um ein umfassendes Bild des Künstlers zu geben. 2019 habe ich den Schwerpunkt anders gesetzt: Die Dürer-Ausstellung ist zwar auch eine Werkschau, von den frühesten bis zu den letzten Werken, aber der Schwerpunkt liegt auf dem zeichnerischen Werk. Die Chronologie gibt den roten Faden vor, der diesmal allerdings einige „Knoten“ aufweist. Im Mittelpunkt meines Interesses steht das zeichnerische Werk in seiner Struktur, seinen Funktionen. Das lässt sich beim „Hasen“, dem „Flügel der Blauracke“, den Studien zum „Heller-Altar“, dem „Bildnis eines 93-jährigen Mannes“ und so fort durchaus hinterfragen. Wofür haben solche Werke gedient, die praktisch die Grenze zur Malerei berühren, wenn nicht sogar schon überschreiten?
ARTinWORDS: Wie wirkt sich dieser neue Forschungsansatz auf die Struktur der Ausstellung aus?
Christof Metzger: Im Konzept der Ausstellung und des Katalogs haben wir versucht, Querverbindungen aufzuzeigen. Das Gemälde „Der heilige Hieronymus“ aus Lissabon hat die Zeichnung des „Bildnisses eines 93-jährigen Mannes“ aus der Albertina-Sammlung als Basis. Diese werden konfrontiert mit zwei imposanten Apostel-Köpfen aus den Uffizien – „Der Apostel Jakobus“ und „Der Apostel Philippus“, die 1516 und somit fünf Jahre vor dem Hl. Hieronymus entstanden sind. Die gemeinsame Vorgabe war offensichtlich, aus Naturbeobachtungen Schritt für Schritt das Idealbild eines Heiligen zu machen.
ARTinWORDS: Was macht Albrecht Dürer als Zeichner so speziell?
Christof Metzger: Das ist sehr vielfältig! Zum einen dürfte es keinen Zeichner dieser Zeit nördlich der Alpen geben, von dem so unglaublich viel erhalten ist. Die Werkverzeichnisse zählen zwischen 900 und 1.000 Zeichnungen, die Dürer zugeschrieben werden können. Damit steht das Dürer’sche Werk völlig singulär für die Zeit des frühen 16. Jahrhunderts.
Der zweite Punkt ist, dass große Teile dieses zeichnerischen Nachlasses von je her in geschlossenen Beständen erhalten sind. Die Albertina-Sammlung oder die Sammlung des British Museum sind seit dem 16. Jahrhundert, und damit seit Dürers Tod, geschlossene Komplexe. Die Albertina-Sammlung wurde nicht im Kunsthandel gekauft, sondern ist zu 90 % kaiserliche Sammlung. Sie wurde Ende des 16. Jahrhunderts von der Nürnberger Familie Imhoff gekauft, die sie direkt bei den Erben Albrecht Dürers en bloc erworben hatte.
ARTinWORDS: Das ist auch ein unglaublicher Glücksfall für Zuschreibung und Provenienz der Blätter, nicht?
Christof Metzger: Allerdings! Man kann aufgrund dieser Faktenlage auch spannende Rückschlüsse auf Dürers Umgang mit den Zeichnungen in seiner Werkstatt ziehen. Man sieht beispielsweise an den unterschiedlichen Komplexen, dass schon zur Entstehungszeit Dürer seinem Zeichnungsbestand eine gewisse Struktur gegeben hat. Offensichtlich lagen die Tier- und Pflanzenstudien zusammen wie auch das Skizzenbuch der niederländischen Reise. Zwei Blöcke bildeten die Studien auf farbigen oder gefärbten Papieren, davon ein Block die Köpfe und Hände und ein anderer Draperiestudien. Offenbar haben Dürers Bruder Endres und dessen Frau diese Werkblöcke geschlossen verkauft.
ARTinWORDS: Kannst du mehr über diese Struktur der Dürer-Zeichnungen in der Werkstatt sagen?
Christof Metzger: Wenn man diesen Werkstattfundus wie eine Sammlung betrachtet, war Albrecht Dürer sein erster Kurator, indem er die Zeichnungen ordnete und klassifizierte. Für ihn und seine Mitarbeiter bildeten die Zeichnungen eine Art Archiv.
ARTinWORDS: Inwiefern unterscheidet sich Dürers „Archiv” von der spätmittelalterlichen Tradition des Musterbuchs?
Christof Metzger: Vor allem durch die unglaubliche Präzision in der Beobachtung und der Wiedergabe! Albrecht Dürer hat natürlich noch in der spätmittelalterlichen Werkstatt von Michael Wolgemut gelernt (→ Nürnberg | Germanisches Nationalmuseum | Michael Wolgemut – mehr als Dürers Lehrer). Das lässt sich gut in Dürers Aufzeichnungen nachweisen, wie dem Fragment gebliebenen „Lehrbuch der Malerei“. Darin schreibt er viel über alte Werkstattgebräuche, nämlich dass der Zeichenfundus auch eine Sammlung von Vorlagen ist. Man kopiert nach Vorhandenem wie beispielsweise nach den Kupferstichen von Andrea Mantegna. Dann soll der Künstler, wie Dürer schreibt, „zum eigenen Gebrauch das Beste entnehmen“.
ARTinWORDS: Könnte man das Vorgehen mit dem Skizzenbuch von Jacopo Bellini im British Museum vergleichen?
Christof Metzger: Nein, bei seinen Studien geht Dürer weit über Musterblätter des 15. Jahrhunderts hinaus. Viele der Naturstudien Dürers – wie der „Hase“ oder die „Betenden Hände“ – sind keine Entwürfe für die Malerei. Im „Rosenkranzfest“ sind die „Betenden Hände“ ein paar Zentimeter groß.
ARTinWORDS: Wenn man davon ausgeht, eine Zeichnung hätte einzig einen dienen Zweck, dann hätte Albrecht Dürer mit diesen Naturstudien also weit über das Ziel hinausgeschossen.
Christof Metzger: So waren die Naturstudien von Dürer offensichtlich nicht gedacht. In diesen Hell-Dunkel-Blättern und anderen Zeichnungen greift er sich während des Arbeitsprozesses an einem Gemälde einzelne Motive heraus und arbeitet sie für den Werkstattfundus auch oft in einem anderen Format und mit mikroskopischer Detailpräzision heraus. Letzteres pflegte er in seiner Malerei gar nicht, was unter anderem mit dem Auftraggeber Jakob Heller zu Konflikten führte, weil diese für sein Geld „Feinmalerei“ verlangte. Dürer antwortete Heller, dass dies völlig überflüssig wäre, weil es in der Kirche nicht zu sehen wäre. Daher sind diese Zeichnungen kein Werkbehelf.
ARTinWORDS: Die Funktionen der Zeichnung kann man nach deinen Ausführungen als Lernen, genaues Schauen, Erinnern zusammenfassen, oder?
Christof Metzger: Dürers Zeichnungen sind im allerbesten Wortsinn Beobachtungsübungen. Das setzt natürlich auch eine moderne „fotografische“ Seherfahrung voraus.
ARTinWORDS: Dazu kommt noch das Loslösen von Routine und formelhafter Beschreibung.
Christof Metzger: Ja, das Lösen von Idealtypen und Abstrahierungen, die man in der Lehre mitbekommen hat, ist essenziell. Dürer hat das Sehen neu gelernt!
ARTinWORDS: Ein zentrales Werk der Albertina-Ausstellung ist zweifellos der „Dürer-Hase“ (→ Albrecht Dürer: Feldhase, 1502). Das Publikum wartet gespannt darauf, das berühmte Original alle paar Jahre sehen zu können. Welche Qualitäten machen das Werk so berühmt?
Christof Metzger: Dürers Zeichnungen, darunter der „Hase“, sehen ein wenig nach Fleißarbeit aus, was es aber auch nicht trifft. Der „Hase“ zeigt ein Tier in unglaublicher Meisterschaft. Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, die Striche zu zählen. Es sind gar nicht so viele, wie ich erwartet hätte. Dürer zeichnet das Fell des Hasen ganz ökonomisch. Dürer definiert zuerst den Umriss und legt dann in Hell- und Dunkelbraun die Flächen an. Danach nimmt er den spitzen Pinsel und setzt Haare darauf – aber nicht so rasend viele, Hell auf Dunkel sowie Dunkel auf Hell. Bei sparsamen malerischen oder zeichnerischen Mitteln erhält Dürer so die Beschreibung der dichteren Unterwolle und der herausstehenden Haare. Dabei behält sich Dürer einen hohen Grad an Abstraktion im Sehen und im Wiedergeben vor.
ARTinWORDS: Gelegentlich sieht man dann aber doch wieder eine Arabeske, eine Art spätmittelalterliches Schnörkel in der Vergrößerung.
Christof Metzger: Der „Hase“ ist deutlich handgemacht. Anhand der vielen Kopien, die es schon aus dem 16. Jahrhundert gibt, sieht man, dass diese Künstler nicht durchschauen, wie Albrecht Dürer arbeitet. Im Versuch den Effekt zu kopieren, werden diese Blätter überelaboriert, weil ihre Schöpfer die Arbeitsökonomie nicht verstehen. Bei Dürer sieht man richtig, auch am „Flügel der Blauracke“, wie sich das Material anfühlen muss.
ARTinWORDS: Das Erinnern ist ein doppeltes – eines im Werkstattprozess und ein weiteres an die Meisterschaft der Hand des Dürer.
Christof Metzger: Das ist sogar im wörtlichen Sinne Dürers verstanden. Die „Hand“ bedeutet in Dürers Theorie das „Talent“. Die Raffael-Zeichnung, die er wohl im Rahmen eines größeren Konvoluts 1515 bekam, zeigt den Vermerk Dürers: „um mir sein Hand zu weisen“. Damit ist gemeint, dass Raffael dem Dürer sein Talent beweisen wollte.
ARTinWORDS: Wie äußert sich Dürer in seiner Theorie über die Zeichnung?
Christof Metzger: Seine ganze Kunsttheorie ist eigentlich eine Zeichnungstheorie. Alles dreht sich nur ums Zeichnen. Das sogenannte „Lehrbuch der Malerei“ dreht sich eigentlich hauptsächlich ums Zeichnen, wenn es um praktische Kunstausübung geht. Deshalb habe ich auch einen Beitrag für den Katalog darüber geschrieben.
ARTinWORDS: Sind für Dürer die Zeichnungen schon Sammelobjekte, intime, nahsichtige Objekte für den Kunstkenner?
Christof Metzger: Das trifft es wohl am besten. Der „Hase“ und der „Flügel der Blauracke“ haben überhaupt keinen praktischen Zweck, außer dass Dürer für die „Nemesis“ einen Flügel brauchte. Ich glaube, dass diese Prunkblätter, die eigentlich Malereien auf Papier sind, Musterstücke oder Schaustücke für potenzielle Kundschaft der Werkstatt waren. Albrecht Dürer konnte diesen Besuchern keine Gemälde vorführen, da diese bei den Auftraggebern in privaten oder öffentlichen Räumen wie Kirchen standen. Mit den Prunkblättern hatte Dürer einen Leistungsbeweis in der Hand.
ARTinWORDS: Interessanterweise scheint Dürer der erste zu sein, der auf diese Karte setzt und/oder sie benötigt?
Christof Metzger: Dürer brauchte diesen Leistungsnachweis, weil er auf Auftraggeber angewiesen war. Er hatte eigentlich – das darf man nicht aus dem Blickfeld verlieren – eine Werkstatt für höchstwertige Druckgrafik. Die Malerei lief in der Werkstatt Dürers wie nebenher in vereinzelten Werken. In Venedig 1505/06 bekam Dürer mehrere Aufträge wie das „Rosenkranzfest“, die „Madonna mit dem Zeisig“ und „Christus unter den Schriftgelehrten“. Danach kommen einige Malaufträge in Nürnberg wie der „Heller-Altar“ und Arbeiten für Friedrich den Weisen. Aus den Briefen an Jakob Heller, die sich zufälligerweise in Abschriften erhalten haben, ist bekannt, wie lästig Dürer die Malerei war. Als er 1509 den vollendeten „Heller-Altar“ schlussendlich ablieferte, mokierte er sich über den Zeitaufwand, und dass er mit Druckgrafik das Doppelte erwirtschaften hätte können. Die Malerei war für Albrecht Dürer wohl eine Pflichtübung.
ARTinWORDS: Dürers erhaltene Zeichnungen lassen sich in Themengruppen einteilen: Landschaften. Kostümstudien, Tier- und Pflanzenstudien. Wie tauchen sie in Gemälden oder Druckgrafiken wieder auf?
Christof Metzger: Wir bekommen aus der National Gallery of Art | London „Die Madonna mit der Iris“, die Hans Baldung Grien nach einem Entwurf von Albrecht Dürer ausführte. In ihr findet man teils wörtlich einzelne Pflanzenstudien, ein Teil des „Großen Rasenstücks“, die „Iris“ aus der Kunsthalle Bremen und „Günsel und Maiglöckchen“ aus dem British Museum in London. Daran kann man gut sehen, wie die Werkstatt praktisch mit den Zeichnungen umging.
ARTinWORDS: Lässt sich ähnliches auch in Dürers Druckgrafik nachweisen?
Christof Metzger: In der Radierung bilden oft reale Landschaften den Hintergrund – sowohl aus Tirol, aus Franken oder aus dem Trentino (Südtirol). Bei der berühmten Eisenradierung „Großen Kanone“ ist mir die Identifikation des Hintergrunds gelungen: Eine um 1517/18 entstandene Silberstiftzeichnung Dürers zeigt Eschenau mit dem Lindelberg aus der Umgebung Nürnbergs. Der Haustypus kommt nur in ein paar Orten nördlich von Nürnberg vor, dazu die geostete Kirche. Diese Hinweise führten mich nach Eschenau mit dem Schloss von Jakob Muffel, den Dürer auch porträtierte. Es handelt sich also um den Blick Muffels vom Schloss auf seine Besitzungen. Auf der Druckgrafik wird die Vedute spiegelverkehrt gezeigt.
ARTinWORDS: Stellte Dürer real existierende Landschaften auch in den Holzschnitten dar?
Christof Metzger: In den Holzschnitten macht Albrecht Dürer das interessanterweise nicht. Hier nutzte Dürer Versatzstücke wie Berg, Baum, Fluss und spitzgiebelige Häuser, um spätmittelalterliche Ideallandschaften zu konstruieren. Im Kupferstich integriert Dürer Gesehenes – zwar nicht immer aber deutlich öfter. Das macht einen deutlichen Unterschied, auch wenn man es nicht weiß. Diese Entscheidung für die reale Landschaft gibt den Blättern eine ungeahnte Präsenz wie auch im „Meerwunder“, in das er die Nürnberger Burg von Nordwesten einbaute.
ARTinWORDS: Du ermöglichst uns mit der Albertina-Ausstellung einen Blick in die Werkstatt Dürers. Wie viele Mitarbeiter hatte er eigentlich, um das alles umzusetzen?
Christof Metzger: Albrecht Dürer eröffnete in den frühen 1490er Jahren seine Werkstatt nach der ersten Italienreise, an der ich keine Zweifel habe. Es gibt genügend Belege im Werk wie Figuren von Carpaccio und Giovanni Bellini, um seinen Aufenthalt in Italien zu fixieren. Als er danach die Werkstatt begründete, stellte er sogenannte Kolporteure an, die man namentlich kennt. Das waren Nürnberger, die mit gedruckten Waren durch die Lande zogen. Wenn diese Handlungsreisenden nicht unterwegs waren, machten sie Hilfsarbeiten in der Werkstatt, wie Platten polieren und Holzstöcke vorbereiten. Einer von ihnen kam bis Rom, wo er einem Raubmord zum Opfer fiel. Dürer ärgerte sich über den Verlust von Druckgrafiken und Kasse sehr.
ARTinWORDS: Offenbar suchte sich Dürer abhängig von seiner Auftragslage Mitarbeiter. Kannst du uns etwas Genaueres darüber erzählen?
Christof Metzger: Ulrich Pinder gab Dürer zwei große Druckaufträge, das „Marienleben“ und die „Passion“. In den beiden Büchern befinden sich insgesamt über 300 Vignetten und Holzschnitte. Dafür stellte Dürer künstlerische Mitarbeiter, nämlich Hans Schäufelin und Hans Baldung Grien, ein. Die beiden führten die Holzschnitte aus, während Albrecht Dürer selbst nach Venedig reiste. Auch der Ober-St.-Veiter-Altar ist von Schäufelin nach Entwürfen von Dürer ausgeführt worden. Nach seiner Rückkehr verließen Schäufelin und Baldung die Werkstatt Dürers. Erst als Dürer wieder Malaufträge erhielt, stellte er Hans von Kulmbach an und bildete seinen Bruder Hans aus. Ähnliches lässt sich auch aus der Spätzeit berichten, als Dürer nach seiner niederländischen Reise das Nürnberger Rathaus mit dem „Großen Triumphwagen für Kaiser Maximilian“ ausmalen sollte. Die Ausführung oblag den Gehilfen.
ARTinWORDS: Du hast dich im Zuge der Vorbereitung zur Ausstellung intensiv mit der Frage beschäftigt, wie der Zeichnungsbestand Dürers nach dessem Tod im April 1528 verwaltet wurde. Wie gelangte er von der Familie Dürers in die verschiedenen Sammlungen?
Christof Metzger: Als Albrecht Dürer starb, war er ein äußerst wohlhebender Mann. Er besaß zwei Immobilien, das heute bekannte Dürer-Haus und das Haus seiner Eltern, das im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Dazu hinterließ er über 6.000 Gulden,. Nach heutiger Kaufkraft war Albrecht Dürer vermutlich ein zweistelliger Millionär. Agnes Dürer erbte nicht alles, da es kein Testament gab. Nach Nürnberger Gesetz hatten seine zwei Brüder Dürers, Endres und Hans, Anspruch auf 25 % des Nachlasses. Dieser wurde auf das Dürer-Haus als Schuld festgeschrieben.
In den 1530er Jahren verstarb Hans Dürer als Hofmaler von König Sigismund in Krakau. Agnes und Endres Dürer schlossen daraufhin einen Vergleich. Die Witwe Dürers verzichtete auf den künstlerischen Nachlass – Zeichnungen, Druckformen und Bücher, also die Manuskripte. Ob schon zu Lebzeiten von Endres Dürer oder erst nach seinem Tod 1555 ist nicht bekannt, aber ein großes Konvolut ging an Kardinal Granvelle. Dieser war ein großer Dürer-Sammler und besaß auch die „Marter der zehntausend Christen“, die wir aus dem Kunsthistorischen Museum bekommen.
ARTinWORDS: Welche Rolle spielte der Nürnberger Dürer-Sammler Willibald Imhoff?
Christof Metzger: Ich konnte rekonstruieren, dass die Landschaftsaquarelle und die Zeichnungen der Niederländischen Reise en bloc an ihn gingen. Zeichnungen von Tieren, Händen, die Selbst- und Familienporträts wurden nach dem Tod von Endres Dürer an Willibald Imhoff verkauft. Imhoff verfügte testamentarisch, dass die Dürer-Sammlung auf ewig in Besitz der Familie bleiben sollte.
ARTinWORDS: Wann kamen die Zeichnungen dann in Besitz der Habsburger?
Christof Metzger: Nach dem Tod Willibald Imhoffs 1580 geriet dessen Nachkommen in wirtschaftliche Turbulenzen, sodass man die Zeichnungen und Gemälde Dürers Kaiser Rudolf II. anbot. Doch erst 1588 kaufte er die Gemälde wie das „Bildnis des Johannes Kleeberger“ und das sogenannt „Kunstbuch“ mit den darin liegenden Zeichnungen. Anlässlich des Verkaufs wird ein Verzeichnis der Zeichnungen angelegt.
ARTinWORDS: Welche Zeichnungen enthielt der Klebeband?
Christof Metzger: Zuerst waren die Zeichnungen Kaiser Maximilians eingeordnet, dann die Familienporträts, ein Hase, zwei Hände zum Gebet und so weiter. So lässt sich das „Kunstbuch“ sehr gut rekonstruieren. Im Folgejahr 1589 gelang es Rudolf über einen Agenten in Madrid, auch noch die Sammlung von Granvelle zu kaufen. Damit war der große Komplex von etwa 400 Zeichnungen wieder in einer Hand. Rudolf II. ließ die beiden Bände wieder auflösen und neu ordnen.
ARTinWORDS: Heute besitzt die Albertina etwa 120 Zeichnungen davon. Wann gingen die restlichen „verloren“?
Christof Metzger: 1531 wurden Sammlungsteile durch die Bedrohung durch die Schweden von Prag nach Wien evakuiert, darunter auch die beiden Bände mit Dürer-Zeichnungen und auch das Silberstiftskizzenbuch der Niederländischen Reise. In Wien verwahrte man sie in der Schatzkammer, wo man sie vollkommen vergaß. Man hört erst 250 Jahre später, 1783, wieder von ihnen, als sie in die Hofbibliothek weitergegeben wurden. Im Zuge dieses Transfers wurde offensichtlich Albert von Sachsen-Teschen, der Begründer der Albertina, auf sie aufmerksam (→ Die Gründung der Albertina). Er verhandelte mit van Swieten und später Adam von Bartsch einen Tausch der Druckgrafik gegen die Zeichnungen von Dürer, Raffael, Peter Paul Rubens, Hieronymus Bosch, Pieter Bruegel der Ältere.
ARTinWORDS: Spielte Dürer für Albert von Sachsen-Teschen eine besondere Rolle oder war er ein Meister unter vielen?
Christof Metzger: Albrecht Dürer spielte für Albert schon eine besondere Rolle, denn einige Rechnungsbücher - zum Beispiel von Artaria - weisen den Vermerk auf, dass die Druckgrafiken explizit für den Tausch gegen Dürer-Zeichnungen gekauft wurden. 1796 wurde der Handel vollzogen. Adam von Bartsch schrieb ihm dafür noch ein Gefälligkeitsgutachten, in dem er den Zeichnungen Dürers nur einen geringen Wert zusprach. Allerdings kam dann nur ein Band in Alberts Besitz.
ARTinWORDS: Welche Zeichnungen waren in diesem ersten Band des „Kunstbuchs“?
Christof Metzger: Das kann man an der Sammlung der Albertina gut nachweisen, weil er an Albert gegangen ist: Tier- und Pflanzenstudien, viele der blau- und grüngrundigen Zeichnungen und ein Großteil der Familienporträts ohne Bildnisse der Mutter.
ARTinWORDS: Was enthielt der zweite Band des „Kunstbuchs“?
Christof Metzger: Die sich heute in Berlin befindlichen Landschaftsaquarelle, die fast ausnahmslos aus Wien stammen, große Kohleporträts, für die Dürer sehr berühmt war, und die Mutterbildnisse. Frühwerke und Skizzen befanden sich auch im zweiten Band und sind daher heute nicht in der Albertina. Ausnahme ist das Blatt „Mein Agnes“. Es zeigt war die Verlobte des Künstlers, ist aber so skizzenhaft hingeworfen, dass die Federzeichnung unter den Skizzen eingeordnet war. Für die Ausstellung haben wir einige Landschaftsaquarelle wieder leihen können.
ARTinWORDS: Wohin verschwand dieser zweite Band?
Christof Metzger: Albert von Sachsen-Teschen brachte François Lefèbvre als Leiter der Sammlung aus Brüssel mit nach Wien. Lefèbvre, so denke ich, hat sich den zweiten Dürer-Band zur Seite geschafft. Seinen großen Auftritt hatte der Band 1809 bei der Zweiten Französischen Besatzung. Dominique-Vivant Baron Denon hielt sich in Wien auf, um Kunstwerke für das Musée Napoléon zu beschlagnahmen. Lefèbvre diente sich als Führer durch die Stadt an und beriet die Besatzer, wo die besten Stücke zu holen wären. Wenig später tauchen im Besitz von Denon und dem Stadtkommandanten Wiens, Antoine François Comte d’Andréossy, unglaubliche Dürer-Bestände auf. Um die 100 Zeichnungen dürften so den Besitzer gewechselt haben. Denon hatte die wichtigsten Blätter aus dem Silberstift-Skizzenbuch herhalten; sie befinden sich heute in Chantilly im Musée Condé. Weitere Blätter waren schon im Imhoff-Inventar angeführt, womit die Provenienz aus der kaiserlichen Sammlung eindeutig nachzuweisen ist. Weiterer wichtiger Nutznießer war auch der Kunsthändler Joseph Grünling am Hohen Markt. Er verkaufte Zeichnungen, die später an die Kunsthalle Bremen gingen. Auch Fürst Henryk Ludwik Lubomirski konnte Blätter so erwerben. Nach Alberts Tod wurden Untersuchungen wegen geheimer Machenschaften angestrengt, was allerdings im Sand verlief.
ARTinWORDS: Offensichtlich hatte Herzog Albert von Sachsen-Teschen keinen Überblick darüber, was er schon gekauft hatte!
Christof Metzger: Lefèbvre war sogar so kühn, dem Herzog eine Zeichnung wieder „zurückzuverkaufen“: Die frühe Federzeichnung „Mein Agnes“ wurde als „le dernier achat du Duc“, also „der letzte Ankauf des Herzogs“, 1822 inventarisiert. Der Herzog erwarb sie von Lefèbvre obwohl es aus dem zweiten „Kunstbuch“ stammte!
ARTinWORDS: Die Erwerbungsgeschichte liest sich wie ein Kunstkrimi, eine Geschichte von Verehrung für den berühmten Künstler, die in Habgier, Betrug und Täuschung umschlägt. Wer sich für die Provenienzen interessiert, ist dein Katalogbeitrag wärmstens ans Herz gelegt. Allen Anhängern der „Dürer-Hand“ sei ein Besuch der Ausstellung empfohlen. Vielen Dank für das Interview!