Den etwa drei Trillionen Bäumen der Welt eine Stimme zu verleihen, ist das erklärte und erreichte Ziel der Ausstellung „Nous, les arbres [Wir, die Bäume]“ in der Fondation Cartier pour l’art contemporain. Vor 475 Millionen Jahren verließen die Pflanzen das Wasser und kolonialisierten das Land. Die ältesten Baum-Fossilien können immerhin auf ein Alter von 385 Millionen Jahren datiert werden! Jüngste wissenschaftliche Forschungen beschreiben Bäume als die ältesten Mitglieder der Gemeinschaft der Lebenden und konnten eine wahre „pflanzliche Intelligenz“ aufdecken.
Frankreich | Paris: Fondation Cartier pour l'art contemporain
12.7.2019 – 5.1.2020
Die Ausstellung „Nous les arbres“ verbindet die Arbeit von Künstlern, Botanikern und Philosophen, die von der engen Verbindung der Menschheit mit dem Baum zeugen. Begleitet von Zeichnungen, Malereien, Filmen, Fotografien und Kunstwerken aus der ganzen Welt bieten sie einen neuen Blick auf Umwelt- und Beziehungsfragen.
„Ich frage mich, ob unsere anfängliche Beziehung zu Bäumen nicht eher ästhetisch als wissenschaftlich ist. Wenn wir auf einen schönen Baum stoßen, ist das etwas Außergewöhnliches.“ (Francis Hallé)
Ausgangspunkt für die Ausstellung in der Fondation Cartier ist die enge Verbindung des Menschen mit dem Baum. Dies wird bereits im ersten Raum (Grande Salle) deutlich, den der brasilianische Künstler Luiz Zerbini rund um die Installation „Natureza Espiritual da Realidade“ (2002–2019), ein Tischherbarium, organisiert. Die Sammlung von Produkten des Waldes – Blätter, Pflanzen, Steine, Kokosnuss, Fruchtschalen bis zu Muscheln – ist rund um einen Baum arrangiert. Seine im Raum freischwebend installierten Gemälde verbinden die reiche Vegetation Südamerikas mit Symbolen der brasilianischen Moderne (Abstraktion, Farben). Dabei wird er mehr von ästhetischen Entscheidungen gelenkt als von der Wissenschaft. Zerbini erschafft Landschaften, wo Bäume aus tropischen Gärten und die städtischen Moderne aufeinandertreffen und eine natürlich-abstrakte Umwelt bilden.
Zudem greift Zerbini auf das Wissen der indigenen Völker zurück, leben die doch seit Jahrhunderten in den Urwäldern am Amazonas: der Nivaclé und Guaraní aus Gran Chaco, Paraguay, wie der Yanomami Indianer. In ihren Zeichnungen dokumentieren sie Tier- und Pflanzenwelt, die für ihre Ernährung, Medizin und schamanistischen Rituale von Bedeutung aber auch die Wohnorte der gefährlichen Geister sind.
In der Petite Salle stellen vier Künstler – Fabrice Hyber, Raymond Depardon und Claudine Nougaret, Afonso Tostes und Ex-Voto – aus. Der Künstler und „Baumpflanzer“ Fabrice Hyber setzte 300.000 Bäume in seinem Tal in Vendée. Seine Gemälde zeigen eine poetische und persönliche Beobachtung der Pflanzenwelt, darunter Fragen zu den Prinzipien des Wurzelwachstums, Energie und Mutation, Bewegung und Metamorphose. Diese führt er in der Fondation Cartier in teils großformatigen Gemälden zusammen, in denen er skizzenhafte Darstellungen mit Worten und geometrischen Abstraktionen verbindet.
Raymond Depardons und Claudine Nougarets Film „Mon Arbre“ handelt u.a. von einer Platane, einem Walnussbaum, einer immergrünen Eiche, einer Pinie, einer Libanesischen Zeder, einen Erdbeerbaum, einen Tulpenbaum, einer Zeder, die auf Plätzen Schatten spenden. Die Anwohner erzählen über die Bäume, mischen ihre Geschichte mit jener der Pflanzen und der Stadt. Wer beim Schauen des Films seinen Kopf nach links dreht sieht eine Wand voller Werkzeug, die „Trabalho“ (2019) von Afonso Tostes. Rechen, Hacken und Schaufeln, aber auch Sense, Säge und Axt entfalten plötzlich eine martialische Stimmung, einer mittelalterlichen Folterkammer gleich. Offensichtlich hat der Perspektivwechsel vom Objekt zum fühlenden Subjekt bei mir schon seine Wirkung gezeigt. Die spirituelle Ebene deutet die Installation „Ex-voto“ (um 1960–1980) an, die hölzerne Körperteile dicht aneinandergedrängt repräsentiert. Jedes Ex-voto zeigt einen Körperteil, der geheilt werden sollte oder bereits geheilt wurde.
Im Untergeschoss entfaltet die Kunstausstellung eine ästhetische Kraft, die absolut überzeugt! Der Schulterschluss von Wissenschaftlern und Künstlern führt zu einer Zusammenschau, in der sich die Achtung vor der Schönheit und majestätischen Größe der Bäume mit der Gefahr der Zerstörung verbindet. Der Reisebotaniker Francis Hallé zeigt seine Skizzenbücher, die voller Bewunderung für die Spezies Baum sind und dessen Zeichnungen, sein tiefgreifendes Wissen darüber vermitteln. Cesare Leonardi und Franca Stagi arbeiten gemeinsam an einer Typologie der Baumwelt, indem sie ihren Formen und Farbveränderungen analysieren. Ihr Corpus wird für die Bepflanzung von städtischen Parks eingesetzt. Die Regenwald-Fotografien von Cássio Vasconcellos schließen ästhetisch an Reiseberichte des 19. Jahrhunderts an. Gleich daneben analysiert Charles Gaines in zwei Acryl-Gemälden Bäume als abstrahierte und farbcodierte Verzweigungen. Johanna Calle stellt sie in Computergrafiken dar. Die starke Stilisierung und die Reduktion auf Schwarz-Weiß ihrer Grafiken lässt an die Ästhetik von Jugendstil-Holzschnitten (vor allem der Wiener Secession und der frühen „Brücke“-Künstler) denken.
In der Biologie wurden Bäume lange Zeit unterschätzt, wie die Ausstellungsmacher betonen. In den letzten Jahren ließen wissenschaftliche Entdeckungen die ältesten Bewohner der Erde in einem neuen Licht erscheinen. Erstmals war es möglich, den Bäumen sensorische Fähigkeiten und Erinnerungspotential zuzuschreiben, wie auch die Kommunikation zwischen einzelnen Bäumen aber auch anderen Spezies wie Insekten nachzuweisen. Bäume sind, so die Forschung, mit unerwarteten Fähigkeiten ausgestattet, deren Entdeckung zur Annahme einer „Pflanzenintelligenz“ führte. Diese Intelligenz könnte die Antwort auf viele unserer Umweltprobleme liefern.
Lothar Baumgarten legte 1994 den Garten der Fondation Cartier als Arboretum an, in dem 24 verschiedene Baumarten wachsen. Rund um die bereits 1823 von Chateaubriand gepflanzte Libanesische Zeder ließ sich Jean Nouvel zu einer Architektur inspirieren, die Transparenz und Natürlichkeit miteinander verbindet. Das Innere mit dem Äußeren in Einklang zu bringen, gelang dem Architekten, indem er die Idee des Glashauses weiterentwickelte. Eine Glaswand hält den Straßenlärm ab, das Gebäude steht inmitten einer Waldeinsamkeit.
Zum Team gehört aber auch der Botaniker Stefano Mancuso, ein Pionier der Pflanzen-Neurobiologie und Advokat des Konzepts der Pflanzenintelligenz. Mancuso hat gemeinsam mit Thijs Biersteker eine Installation gebaut, die mit Hilfe von Sensoren Bäumen eine Stimme verleiht („Symbiosia“, 2019). Dadurch wird ihre Reaktion auf die Umwelt und Verschmutzung enthüllt, genauso wie die Photosynthese, Wurzelkommunikation und die Hypothese des Pflanzengedächtnisses gestützt. Mit geübtem Auge kann man inmitten ihrer natürlichen Vorbilder Giuseppe Penones bronzene Baumskulptur, „Biforcazione“ (1987–1992), entdecken.
Efacio Álvarez, Herman Álvarez, Fernando Allen, Fredi Casco, Claudia Andujar, Eurides Asque Gómez, Thijs Biersteker, Jake Bryant, José Cabral, Johanna Calle, Jorge Carema, Alex Cerveny, Raymond Depardon, Claudine Nougaret, Diller Scofidio + Renfro, Mark Hansen, Laura Kurgan, Ben Rubin, Robert Gerard Pietrusko , Ehuana Yaira, Paz Encina, Charles Gaines, Francis Hallé, Fabrice Hyber, Joseca, Clemente Juliuz, Kalepi, Salim Karami, Mahmoud Khan, Angélica Klassen, Esteban Klassen, George Leary Love, Cesare Leonardi, Franca Stagi, Stefano Mancuso, Sebastián Mejía, Ógwa, Marcos Ortiz, Tony Oursler, Giuseppe Penone, Santídio Pereira, Nilson Pimenta, Osvaldo Pitoe, Miguel Rio Branco, Afonso Tostes, Agnès Varda, Adriana Varejão, Cássio Vasconcellos , Luiz Zerbini
Kuratiert von Bruce Albert, Hervé Chandès, Isabelle Gaudefroy
Kuratorische Assistentinnen: Hélène Kelmachter, Marie Perennes
Projectkoordinatorin: Juliette Lecorne