Obschon die Französische Revolution 1789 Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit eingefordert hatte, mussten diese erst durchgesetzt werden. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts präsentiert sich deshalb als zerrissen zwischen alter und neuer Herrschaftsordnung, aufstrebenden Wissenschaften und Natureinfühlung, Leibeigenschaft (in Russland) und Lohnarbeit (in den industrialisierten Ländern). Getrieben von Revolutionen, suchten Kunstschaffende in Deutschland und Russland Ruhe und Innerlichkeit. Die Epoche der Romantik – in Russland wie Deutschland kreist sie um Ideen von Freiheit, Emotionalität und das Ich – diskutiert anhand von Gemälden aus der Staatlichen Tretjakow-Galerie, Moskau und dem Albertinum der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden 2021!
Deutschland | Dresden: Albertinum
2.10.2021 — 6.2.2022
Die Ausstellung „Träume von Freiheit. Romantik in Russland und Deutschland“ beginnt gleichsam mit einem Startschuss – allerdings in Form von Napoleons Reitstiefeln. Der erste Kaiser der Franzosen trug sie vermutlich am 26./27. August 1813 während der Schlacht bei Dresden. Das napoleonische Heer befand sich auf dem Rückzug von Russland; Napoleon I. gelang kurz vor der Völkerschlacht (16.-18.10.1813) sein letzter Sieg. Reitstiefel sind ein sprechendes Symbol für den selbsternannten Herrscher. Ständig auf Achse, ständig in Feldzüge verwickelt, wollte er Europa unter der französischen Flagge einen. Sachsen war nicht nur Austragungsort für geschichtsträchtige Schlachten, sondern jahrzehntelang Teil der Großmachtpolitik. Friedrich August erhielt von Napoleon die Königswürde 1806, aber 19.000 sächsische Soldaten verloren ihr Leben in Russland. Obschon im Wiener Kongress als eigenständiger Staat wiedererstanden, büßte Sachsen 58 % seines Territoriums ein. Ihm gegenüber steht der deutlich jüngere Zar Nikolaus I., der – verheiratet mit der ältesten Tochter von König Friedrich Wilhelm III. von Preußen – ab 1825 autoritär regierte, sogleich den Dekabristenaufstand entschieden unterdrückte und sich gegen die Aufhebung der Leibeigenschaft positionierte.
Historiengemälde erinnern an Barrikadenkämpfe und Truppenaufmärsche, während Suzan Philipps „War Damaged Musical Instruments (Im Krieg beschädigte Musikinstrumente); Klappenhorn“ von 2015 an die Realität des Krieges gemahnt: Am Ende der Schlacht ertönt „The Last Post“ und ruft die Überlebenden zurück (→ Susan Philipsz). Im Albertinum unterstreichen und „kommentieren“ zeitgenössische Kunstwerke historische Entwicklungen. Tony Ourslers „Atari“ (1996) bringt ein „allsehendes Auge“ in die Schau. Die Ausstellungsarchitektur von Daniel Libeskind besteht aus zwei ineinander verschobenen Spiralen, die ein komplexes Raumgefüge entstehen lassen. Das architektonische Gefüge lässt an ein Labyrinth genauso denken wie an eine Reise ins Ich oder Desorientierung. Neoabsolutistische Regime mit Spitzelwesen und Geheimpolizei – so lässt sich holzschnitthaft schlussfolgern – zwangen Kunstschaffende in die innere Emigration, in private Salons, in die Natur. Es blieb ihnen nur der Traum von der Freiheit.
Im Zentrum der Ausstellung stehen Gemälde von Caspar David Friedrich, Carl Gustav Carus, Alexei Wenezianow und Alexander Iwanow (siehe unten). Die Romantik ist eine Zeit des Umbruchs in Europa, bestimmt von den Kämpfen um Freiheit. Die freiheitlichen Ideen der französischen Revolution verbreiten sich über den gesamten Kontinent, während Napoleon diesen mit Krieg überzieht. Die konservativen Regierungen in Russland und den deutschen Staaten zielen darauf, Bürgerrechte einzuschränken.
Künstler reagieren mit dem Rückzug in subjektive Innenwelten oder flüchten nach Italien. Ihre Träume von Freiheit verbinden individuelle Lebensentwürfe mit gesellschaftlichen Utopien. Sie entwickeln höchst individuelle Stile mit hoher Wiedererkennbarkeit in der Malerei, der Komposition und der Deutung klassischer Erzählungen der antiken und biblischen Geschichten, wie auch der wichtigsten Gattung dieser Zeit, der Landschaftsmalerei.
Das frühe 19. Jahrhundert ist die Wiege der Nationalstaaten und des Heimatgefühls. Dennoch fühlten sich viele Künstler von Italien magisch angezogen, das zu einem Sehnsuchtsort (hochstilisiert) wird. Beispielhaft dafür steht Theodor Rehbenitz’ Kopie von Friedrich Overbecks „Italia und Germania” (1835, Albertinum): Ursprünglich als Verkörperungen der altdeutschen und italienischen Kunst entstanden, verlieh Overbeck ihm 1828 den aktuellen Titel, wodurch es zu einem innigen Freundschaftsbild zweier Staaten wurde.
In der Landschaftsmalerei verbinden sich die paradoxen Konzepte zu schier endlos wirkenden Ausblicken auf Horizont und Himmel. Nicht von ungefähr beginnt in dieser Zeit das Interesse an naturwissenschaftlich genauen Wolkenstudien, die auf Wanderungen erkundet und in ihren vielfältigen Formationen festgehalten werden (→ Wolken in der Malerei). Im Kontrast dazu bietet Caspar David Friedrich in seine Landschaften eine idealisierte und imaginierte Heimat verklausuliert dar. Für Friedrich wird die Landschaft zu einem Symbol für nationale Selbstbestimmung (oder auch deren unsichtbare Bedrohung). Ebenso der Nähe verbunden fühlte sich Ludwig Richter, dessen ikonische „Überfahrt am Schreckenstein“ (1837, Albertinum) mit Anton Iwanowitsch Iwanow-Golubois „Die Insel Walaam bei Sonnenuntergang“ (1845, Staatliche Tretjakow-Galerie) harmoniert. Johan Christian Dahl schuf in Rom Bilder von der rauen norwegischen Natur, während Alexander Iwanow nahezu sein gesamtes Leben (1831–1857) in der Ewigen Stadt verbrachte und die Russische Kolonie maßgeblich prägte. Über allem schwebt eine unstillbare Sehnsucht, sind sich die Kurator:innen der Ausstellung sicher.
Die Hinwendung zur italienischen Malerei der Früh- und Hochrenaissance – allen voran ist in Dresden Raffaels „Sixtinische Madonna“ zu nennen (→ Raffael: Sixtinische Madonna) – ging parallel zur Neubewertung religiöser Darstellungen durch die Nazarener. Deutsche wie russische Künstler zeigen sich in der Romantik zu monumentalen Programmbildern inspiriert – Overbecks Entwurf für „Der Triumph der Religion in den Künsten“ (1829–1840) und Alexander Iwanows „Christus erscheint dem Volk“ stehen prototypisch für die Überzeugung, dass Kunst befähigt wäre, als Vermittlerin von Glaubenswahrheiten aufzutreten.
Noch überzeugender scheinen jedoch romantische Landschaftsbilder pantheistische und naturfrömmelnde Konzepte der Romantik zu vermitteln. Die Katalogautoren deuten sie als Kompensation des sich auflösenden Gesellschaftssystems und alter Ordnungen. In ihren höchst persönlichen – und deshalb nur schwierig zu vereinheitlichenden – Ansätzen zeigen sich Persönlichkeiten und Charakterzüge der Künstler genauso wie ihr teils unerfülltes Streben nach dem perfekten Ausdruck für ihre Gefühle und Konzepte. Negative Reaktionen des Publikums stürzten viele Romantiker in tiefe Krisen (u.a. Caspar David Friedrich, Alexander Iwanow).
„Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern auch was er in sich sieht. Sieht er aber nichts in sich, so unterlasse er auch zu malen, was er vor sich sieht“1 (Caspar David Friedrich, um 1830)
Bevor Caspar David Friedrich sich 1807 der Ölmalerei zuwandte, arbeitete er an großformatigen Sepia-Zeichnungen, in denen er die Landschaftsauffassung von Philipp Otto Runge weiterentwickelte: die Seelenlandschaft. Zwei Bilder vom Riesengebirge aus Moskau und Dresden schildern die weich „schwingende“ Landschaft von verschiedenen Blickpunkten aus der Nähe und der Ferne. Wenige Jahre später zählte Friedrich zu den erfolgreichsten Malern Sachsens, der über die Landesgrenze hinweg bekannt war und von wichtigen Persönlichkeiten wie dem preußischen Königsfamilie gesammelt wurde. Sein gesellschaftlicher Aufstieg brachte ihn 1817 die Bekanntschaft mit dem Arzt, Naturwissenschaftler und Künstler Carl Gustav Carus und 1818 mit Johan Christian Dahl ein. Friedrichs Einsatz für die Freiheit findet sich in den altdeutschen Trachten seiner Protagonisten aber auch den weiten, heimischen Landschaften verkörpert. Wenn Friedrichs Protagonist:innen gemeinsam auf einem Boot in eine bessere Zukunft segeln oder sich verträumt dem Mond zuwenden, bildet die Natur einen Echoraum für Wünsche und Sehnsüchte. Als sich das Publikum von seinen zunehmend dunklen, nach dem Urteil der Zeitgenoss:innen „mystizistischen“ Landschaften abwandte, hatte sich der Dresdner bereits den Motiven Friedhof und Klosterruine Eldena zugewandt. Einzig der russische Zar half dem körperlich schwer angeschlagenen und wirtschaftlich darbenden Künstler durch Ankäufe.
Biografie und Werk von Alexei Wenezianow (auch: Alexej Wenezianow) gelten in der russischen Romantik als außergewöhnlich. Der Anfang der 1810er Jahre zum Mitglied der Akademie berufene Maler erwarb 1819 ein Landgut im Gouverment Twer, wo er sich dem bäuerlichen Genre und der Landschaftsmalerei widmete. Zusätzlich unterrichtete er Bauern und Leibeigene im Malen „nach der Natur“.
Ebenso einzigartig war die Verbindung von Medizin, Naturwissenschaft und Malerei im Leben von Carl Gustav Carus. Er verehrte Caspar David Friedrich und ließ sich von dessen Landschaftsauffassung deutlich beeinflussen. Dennoch unterscheiden sich Carus‘ Werke durch den analytischen Blick ihres Schöpfers von jenen anderer Romantiker. Der international anerkannte Arzt und Künstler wurde 1833 zum auswärtigen Korrespondenten der Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg gewählt und von Nicolai Gogol aufgesucht. Carus strebte danach, das Göttliche in der Natur zu erkennen (Pantheismus) und deshalb vor dem Motiv zu studieren. Der zeitlebens von Depressionen geplagte Carus verschaffte sich durch die Malerei auch Linderung. Er malte sich gleichsam seine düsteren Stimmungen von der Seele und forschte an der Einheit von Körper und Seele. Mit letzterem weckte er das Interesse russischer Zeitgenossen wie Gogol und Fjodor Dostojewski.
Alexander Andrejewitsch Iwanow (1806 –1858) gilt als einer der bedeutendsten Maler Russlands im 19. Jahrhundert. Der Sohn eines Historienmalers studierte an der Kaiserliche Akademie der Künste und übersiedelte 1831 nach Rom. Anstatt sechs Jahre verbrachter er jedoch 30 Jahre in Italien. Iwanows größtes Projekt war „Christus erscheint dem Volk (Die Erscheinung des Messias)“ (1837–1857, Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau), dessen unvollendete, skizzenhafte Letztfassung und vielen Detailstudien in der Ausstellung vorgestellt wird. Die Freiheit des Künstlers schließt in der Romantik auch das Scheitern an den eigenen Ansprüchen ein.
Die Moskauer Ausstellung stellte dem Publikum eine ganze Reihe von Protagonist:innen der Romantik vor. In Dresden ist dieser Abschnitt abgespeckt und dennoch spannend zwischen Selbstäußerung und Imagepflege angesiedelt. Der Übergang zu den „Innenwelten“ ist daher fließend – aber deren Entdeckung und Erforschung eine anerkannte Leistung der Romantik. Diesen standen „romantisierte“ Naturschauspiele und „mystisch“ beleuchtete Bilder von Kirchen gegenüber. Herausragend dramatisch sind Maxim Worobjows „Vom Blitz gespaltene Eiche (Unwetter)“ (1842, Staatliche Tretjakow-Galerie) und Johan Christian Dahls „Dresden bei Vollmondschein“ (1839, Albertinum).
Den Traum von der Freiheit in der Kunst – so die Ausstellungsmacher:innen in Dresden – erfüllten sich die Kunstschaffenden vor allem in den Skizzen. Die seit Ende des 18. Jahrhunderts entstehenden Ölskizzen, die direkt in der Natur gemalt wurden, erhielten einen neuen Status, versprachen sie doch Unmittelbarkeit, Wahrhaftigkeit und eine (nicht akademisch geglättete) schöpferische Handschrift. Die Romantik endet so, wie sie begonnen hat – in einer Revolution. 1848/49 erhoben sich nicht nur Bürger gegen die Staatsführung. Richard Wagner forderte ein „Kunstwerk der Zukunft“, das er in der Synthese der Kunstgattungen verwirklicht sah, dem Gesamtkunstwerk. Der Künstler als Genie, das gottgleich Welten erstehen lassen kann, steht im Gegensatz zum romantischen Kunstschaffenden, der sich in sein Innerstes zurückzieht. Mit einer Reihe von Ölstudien, Carl Blechens „Galgenberg bei Gewitterstimmung“ (um 1835, Albertinum) in Gegenüberstellung zu Hito Steyerls „This is the Future“ (2019) endet der Katalog. Die Ausstellungsarchitektur von Daniel Liebeskind eröffnet mit ihren vielen Wegen und Durchblicken ein Spielfeld des Möglichen, die Auswirkungen der Romantik bis heute andeutend.
Marlene Dumas, Susan Philipsz, Mathilde ter Heijne, Hito Steyerl, Andrej Kuskin, Boris Michailow, Nikolai Polisski, Arnulf Rainer, Thomas Ruff, Hiroshi Sugimoto, Tony Oursler, Wolfgang Tillmans, Jaan Toomik, James Turrell, Guido van der Werve (die Gegenüberstellung mit Landschaften C.D. Friedrichs war schon zu sehen: Wien | Kunsthistorisches Museum: Beethoven), Bill Viola
Mit ausgewählten internationalen Positionen der Gegenwartskunst wie soll das Fortwirken der Romantik und der mit ihr verbundenen Themen aufgezeigt werden.