Joannis Avramidis (23.9.1922–16.1.2016) ist bekannt für Skulpturen, in denen er, der griechischen Proportionslehre folgend, nach strengen Gesetzmäßigkeiten ein konzeptuelles Menschenbild konstruierte. Damit orientierte sich Avramidis an Theorien der Antike und der Renaissance: Er sah die Klassische Antike als vorbildhaft an; Demokratie und Versammlungsorte der Polis bildeten gesellschaftliche Bezugspunkte für sein Werk.
Österreich | Wien: Leopold Museum
19.5. – 4.9.2017
Mitten im Zweiten Weltkrieg war Joannis Avramidis als Zwangsarbeiter von Griechenland nach Wien verschleppt worden. Zuvor war der Sohn pontischer Griechen bereits der Verfolgung durch die Sowjets nur knapp entkommen. Nach dem Krieg entschied sich der nunmehr 23-jährige in Wien zu bleiben und auf der Akademie sein unterbrochenes Malereistudium wiederaufzunehmen. In der Klasse von Robin Christian Andersen (1890–1969) beschäftigte er sich mit der Malerei der Frührenaissance. Seine erste Skulptur schuf er im Alter von 31 Jahren. Wenig später schrieb sich Avramidis in die Klasse für Restauratoren ein und von 1953 bis 1957 war er Student von Fritz Wotruba (1907–1975). Der wichtigste Bildhauer der Nachkriegszeit bot Avramidis ein Forum und war mehr Kollege, mit dem er sich austauschte, als Lehrerfigur. Von 1968 bis 1992 lehrte Avramidis selbst an der Akademie und prägte dadurch Generationen Studierende. Das künstlerische Werk des „Austrogriechen“ Avramidis umspannt mehr als sechzig Jahre, in denen er mit Hilfe seiner mathematischen Praxis überzeitige Figuren konstruierte.
„Wenn ich anders geartet gewesen wäre und mich am Zeitgeschehen orientiert hätte, wäre ich sicher nicht zu dieser Arbeit gekommen. Dann wäre ich ein Mitläufer“1 (Joannis Avramidis)
Ende der 1940er Jahre begann sich Joannis Avramidis mit der Reduktion des Organischen auf kubische Formen zu beschäftigen. In der Meisterklasse für Malerei wurde Avramidis immer wieder auf die Malerei der Frührenaissance – vor allem Masaccio und Piero della Francesca – verwiesen. In frühen Zeichnungen erprobt Avramidis das Konzept: Das Menschliche bleibt dabei in Grundzügen erhalten, es macht aber Platz für eine größere Idee.
Mit 31 Jahren schuf Joannis Avramidis seine erste Skulptur. Mit dem „Kouros – Großer Torso“ (1956) reagierte er auf die Tradition der griechischen Skulptur der Archaik2: Die Figur ist in horizontale Segmente geteilt und zeigt eine Zweiteilung – damit folgt er der strengen Symmetrie griechischer Vorbilder. Ob damit die Beine gemeint sind, oder ob der Bildhauer eine Verdoppelung der Figur anstrebte, ist strittig. Die Einkerbungen der säulenartig aufragenden Körperhälften sind entgegen den antiken Kuroi keinem System untergeordnet. Für diesen Kouros fand der Wiener Bildhauer die Form noch durch Experiment, ein Jahr später hatte er das Prinzip bereits in eine mathematische Formel gegossen. In komplexen Ableitungen deklinierte Avramidis bis zu seinem Lebensende sein Hauptthema konsequent durch: Köpfe und Menschen, verdoppelt oder in Gruppen zu einer Gemeinschaft zusammengeschlossen.
Bereits zwei Jahre nachdem Joannis Avramidis sein Konstruktionsmodell an einer ersten Skulptur erprobt hatte, führte er es in ein System über. „Große Figur“ (1958) zeigt alle Charakteristika einer „klassischen“ Avramidis-Skulptur: die Betonung der vertikalen Mittelachse, die horizontale Gliederung in einzelne Körpersegmente, die Definition der Figur über die geschlossene Kontur. Interessant ist der Aspekt, dass Avramidis diese Figuren nicht mehr durch Modellstudium erzielte, sondern durch Berechnung von innen heraus. Dafür imaginierte er eine zentrale Mittelachse und berechnete davon ausgehend horizontale Kugelschnitte. Übereinandergeschichtet bilden sie die sichtbaren Körpersegmente, das Anschwellen und sich Verjüngen der Volumina.
Ende der 1950er Jahre legte Joannis Avramidis in „Kopf IV in drei Stadien“ sein bildhauerisches Konzept offen. Der Kopf war für Joannis Avramidis Ausgangspunkt seines Schaffens und Initial jeder Planung: Hier stehen drei Köpfe nebeneinander. Der erste gibt den Blick frei auf ein Gittergerüst aus Aluminium und Kunstharz, das der Komposition zugrunde liegt. Der zweite ist bereits mit Gips überzogen, wodurch die Skulptur „Fleisch“ und „Haut“ als Begrenzung erhält. Der dritte Kopf symbolisiert das dritte Stadium des Arbeitsprozesses, nämlich die Umsetzung in Form eines Bronzegusses.
Das Konzept von Joannis Avramidis setzt sich aus einer mathematischen Konstruktion im Inneren und einer organischen „Bekleidung“ auf der Oberfläche zusammen. Zu den Leitmotiven Avramidis‘ zählen der Kreis, die Horizontale und die Vertikale. Seit den späten 1950er Jahren entwickelte der Bildhauer sein Figurenrepertoire in Variationen – abhängig von der gewählten Proportion des Figurenaufrisses, der Anzahl der horizontalen Segmentschnitte, der Radien sowie deren Ansatzpunkten.
„Das ist mein Anliegen: in meiner Arbeit alles offen darzulegen. Die Formel preiszugeben. Damit auch andere sie verwenden. Vorzüge wie Mängel lesen, prüfen. Die Formel: zur Herstellung eines menschlichen Werks. Die Natur ist der ewige Lieferant der Daten. Meine Arbeit ist die Demonstration der Herstellung einer objektiven, d. h. vollkommen erfaßbaren Form. [...] Dabei ist es mir darum zu tun, persönliche Stileinflüsse aus meiner Arbeit ganz auszuschalten. [...] Gerade diese Selbstständigkeit gegenüber Stilen und Lehren anderer ist mir für die Interpretation meiner Arbeit wichtig.“3 (Joannis Avramidis im Katalog der Kestner-Gesellschaft, Hannover 1967)
Das Finden einer Form mit Hilfe von „Formeln“, wie es Joannis Avramidis selbst nannte, führte zur Idee des Drehens. Die auf einem Gittersystem mit verschieden großen Kreisen konstruierten Figuren lassen sich durch Rotation gleichsam drechseln. Dieses Konzept widerspricht in maßgeblichen Teilen der Ausprägung des Kopfes mit Gesicht und Hinterkopf, wie „Großer Kopf“ (um 1970) zeigt. Andeutungen von Nase, Augen und Mund mussten reichen, Haare und Ohren fehlen gänzlich. Damit nahm Avramidis das Individuelle zugunsten des allzeit Gültigen zurück. Gleichzeitig entwickelte er in Zeichnungen Gesichts- und Hinterkopfprofile als einander spiegelbildlich entsprechende Formen. Dadurch folgte er erneut seinem Denken in Entsprechungen:
„Eine summarische Gesichtsform ist z. B. die Eiform, aber das ist nur ein Teil der Arbeit, denn ich mache ja Köpfe. Die Köpfe bestehen aus vielen Zwischenformen, um dem Natürlichen näher zu kommen. Meine Theorie sagt: wenn ich tausend solche Formen summiere, kann ich quasi einen realistischen Kopf zustande bringen. Aber das ist nicht meine Absicht.“ (Joannis Avramidis)
Im Jahr 1960 begann Avramidis sich mit Bewegung zu beschäftigen. Der Fries „Metamorphose“ (1960) stellt neben „Modell Baum“ die außergewöhnlichste Auseinandersetzung mit dieser Darstellungsproblematik dar. Offensichtlich illustriert der Fries keinen bekannten Mythos, sondern verweist allgemein auf das Verhältnis zwischen Mensch und Baum, Mensch und Natur. Gemeinsamer Nenner bleibt die hochaufgerichtete Form. Das Werk ist ob seines Naturalismus innerhalb von Avramidis‘ Œuvre außergewöhnlich.
„Der Baum ist ein Thema, in meiner Sichtweise für mich fast stärker da als die menschliche Figur. Er ist sehr nahe an der menschlichen Figur, so wie ich sie entwickelt habe bisher in der Plastik ... das Konstruktive, quasi das Greifbare, wäre sowohl für die Figur wie für den Baum die Säule. Die Säule ist ja schließlich eine Schöpfung des Menschen. Und in dieser Weise, die sicher eine sehr persönliche ist, glaube ich, wird, so wie es bisher die Figur geworden ist, auch der Baum sehr verbindlich für die Allgemeinheit.“4 (Joannis Avramidis in einem Gespräch mit Michael Semff, 2005)
Mit der Skulptur „Der Schreitende“ (1966/1969) gab Joannis Avramidis seinem Werk eine entschieden neue Richtung. Waren die Figuren der 1950er Jahre vom stehenden Kuros inspiriert worden, so begann sich der Bildhauer nun für Bewegung zu interessieren. „Der Schreitende“ übersetzt sie vormals „säulenhafte Zweiteilung“ der Figuren in eine „bewegte bandartige Zweiteilung“, wie es der Avramidis-Experte Michael Semff beschrieb. Nur wenig später gelangte der Bildhauer zu gänzlich abstrakten, bandartigen Lösungen, weshalb „Der Schreitende“ als Beginn einer neuen Werkgruppe gedeutet werden kann. Die Statik der früheren Schöpfungen wurde durch Bewegungsmotive und ondulierende Bandskulpturen abgelöst.
Auslöser für die Entwicklung der Bandfiguren lassen sich spätestens in den frühen 1960er Jahren in den Zeichnungen finden.5 Man kann sich angesichts des großen „Bandfigurenfrieses“ von 1967 bis 1973 an einen antiken Mäander erinnert fühlen oder an gänzlich abstrahierte Figuren. Joannis Avramidis führt Vierkantbänder aus Aluminium in nunmehr rechtwinkeligen Bewegungen durch den Raum. Einerseits betont er durch ihre lineare und gleichsam bildparallele Anordnung die Flächigkeit seiner Komposition, andererseits gelangte Avramidis so zu einer Zeichenhaftigkeit. Die ornamentale Silhouette verdankt sich einer gänzlich auf Geometrie basierenden Gestaltungsweise. Im Gegensatz zu den abstrahierten Figuren der Frühzeit sind es nun nicht mehr der Kreis, oder besser das Kugelsegment, sondern Quadrat und Würfel, welche die Grundkonstanten bilden.
Joannis Avramidis bezeichnete sich angesichts der Bandfiguren selbst als Minimalist – und verankerte damit sein Werk in den Zeitstil der 1970er Jahre. Diese Aussage steht diametral gegen andere Äußerungen des Bildhauers, wonach er unzeitgemäße Werke schaffen wollte. Dennoch lassen sich einzelne Elemente seiner Kunstphilosophie – nämlich ohne persönlichen Stil schaffen zu wollen – mit den Ambitionen amerikanischer Kollegen wie Sol LeWitt in Verbindung bringen. Auch wenn man davon ausgehen kann, dass Grundlagen, Ausgangspunkte und auch Resultate beider Künstler gänzlich unterschiedlich waren, so waren doch beide beseelt von der Offenlegung ihrer Konzepte. Diese „Formeln“ legten der künstlerischen Arbeit Basismodule zugrunde, die in konsequenter Weise variiert und durchdekliniert wurden. Dass Joannis Avramidis mit den verräumlichten Linien auch eine universelle Schrift mitdachte und sich zeitlebens an der menschlichen Figur abarbeitete, mögen die Unterschiede zwischen dem Wiener Bildhauer und seinem amerikanischen Kollegen aufzeigen.
„Avramidis ist nicht nur die Begabung seiner Generation in Österreich, er ist es sicherlich auch in Deutschland, und er gehört zu den wenigen großen Bildhauern unserer Zeit.“ (Fritz Wotruba anlässlich der Verleihung des Großen Österreichischen Staatspreises an Joannis Avramidis, 1973)
„Polis II“ (1965/68) darf mit Fug und Recht als Summe und Resultat der frühen Entwicklung Joannis Avramidis‘ gedeutet werden. Mit dieser Skulpturengruppe setzt der griechischstämmige Bildhauer dem Begriff der Gemeinschaft ein Denkmal. Joannis Avramidis setzt diese Idee der Versammlung der freien und gleichberechtigten Individuen als Gruppe von säulenartig aufragenden Figuren um, die auf einer gemeinsamen Basis und gleich hoch dich aneinandergedrängt stehen. Wenn auch das Individuum nach seinem persönlichen Maß geformt ist, so suggeriert die gleiche Kopfhöhe und die Positionierung der Figuren doch eine gemeinschaftliche Übereinkunft.6
Der vierte Raum der Avramidis-Ausstellung im Leopold Museum ist seinen unverwirklichten Projekten gewidmet: dem Tempel und der Agora. Die Verbindung zwischen dem heiligen Ort und dem Versammlungsort erklärte der Künstler so:
„Ich habe eine ungeheure Empfindung für das Sakrale, d. h. das eben Nicht-Banale. Und daher komme ich auf den Tempel, wo ich wiederum etwas in der Mitte platziere. Es ist ja auch verständlich, daß der Tempel erst dann ein Tempel ist, wenn etwas in der Mitte steht, das den Menschen, der da eintritt, eigentlich in eine würdige Richtung zwingt … Das Zusammenkommenwollen, das soll in einer würdigen Weise geschehen. Und dazu ist eben der Tempel da. Und dafür steht auch die Agora. Es ist also in diesem Sinn dasselbe.“
Der Tempel sollte als kreisrunde Anlage entstehen und in seinem Zentrum diese so genannte „Modellierte Figur“ aus dem Jahr 1958 bergen, die deutlich vom antiken Kuros inspiriert ist. Das Zentrum wäre von vier Varianten der stark stilisierten „Figurenwand“ umgeben. Der in der Ausstellung nachempfundene Kreis sollte von den vier Himmelrichtungen betretbar sein und einen heiligen Versammlungsort markieren. Eng nebeneinanderstehend, zeigt sich die menschliche Gesellschaft als Einheit. Das vor die Menge tretende, freie Individuum wäre in Form des selbstbewusst stehenden Menschen im Zentrum thematisiert worden.
In einiger Distanz zum Tempel wollte Joannis Avramidis die „Humanitassäule“ (1963/86) aufstellen, die im Rahmen der Ausstellung vor dem Museum präsentiert wird. In zahlreichen Skizzen und Modellen erarbeitete Avramidis die Idee einer Säule, die nach dem Prinzip der Addition gebildet wird. Wie die Figurenwände setzt er die Rundform der Säule aus menschlichen Figuren zusammen. Während diese für die Wände in einer horizontalen Reihung nebeneinandergestellt werden, baut Avramidis die Säule aus einer vertikalen Schichtung von Figurengruppen auf. Wenn man die Höhenerstreckung der Säulen als Zeitstrahl interpretieren möchte, ließe sie sich auch als große Erzählung der Menschheit, als Abfolge von Generationen lesen.
Zu den bekanntesten Werken des Joannis Avramidis zählt „Kopf – Das Trojanische Pferd“. Obschon sich der Bildhauer zeitlebens mit dem Menschen auseinandersetzte, so findet das Animalische und die menschliche List über die Sage des Trojanischen Kriegs Eingang in sein Werk. Ursprünglich plante Avramidis die außergewöhnlich gebänderte Figur in sein Agora-Projekt aufzunehmen. In einem Gespräch mit Curt Heigl erklärte er die Verbindung von der Agora und dem Trojanischen Pferd mit seinem Konzept von Plätzen. Avramidis hatte sich seit den frühen 1970er Jahren mit dem Platz als „Ort der Gemeinsamkeit, [als] Ort, wo sich die Polis bewahrt, wo sie auch währt“ beschäftigt. Für ihn konnte aber auch ein Schlachtfeld ein solcher Ort der Polis sein. „Kopf – Das Trojanische Pferd“ war für Avramidis ein „allgemein verbindliches Thema“, das von der Gemeinschaft der kämpfenden Männer erzählt.
„Ich“, so hielt Joannis Avramidis abschließend fest, „habe das Wunschbild, daß meine Arbeit so wenig wie möglich zeitabhängig ist. Meine Idealvorstellung ist, daß ich meine Arbeit auch in einer anderen Zeit hätte machen können, etwa in der Frührenaissance oder in der antiken Archaik.“
Knapp ein Jahr nach dessen Tod widmet das Leopold Museum dem Wiener Bildhauer mit griechischen Wurzeln eine erste Ausstellung, die einen Überblick über das höchst individuelle wie stringente Schaffen gibt. Im Hof des Museumsquartiers verweist die 13 Meter hohe „Humanitas-Säule“ unübersehbar auf Menschlichkeit, die Agora als Festplatz und Versammlungsort.
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