Angelika Kauffmann malte 1764 das Bildnis des bedeutenden Altertumsforschers Johann Joachim Winckelmann (1717–1768). In dem 97 × 71 cm großen Porträt zeigt sie den Gelehrten im französischen Bildnistypus des Homme de lettres, das sich durch inszenierte Natürlichkeit auszeichnet. Winckelmann war einer der prominentesten und vielleicht auch einer der ersten deutschsprachigen Schriftsteller von europaweitem Renommee. Mit seinem Bildnis wurde die Künstlerin schlagartig über Italien hinaus bekannt und prägte das Image des Wissenschaftlers bis zum heutigen Tag. Das von Kauffmann (1741–1807) signierte und datierte Bildnis befindet sich heute im Kunsthaus Zürich, wo es die Inventarnummer 98 trägt.
Johann Joachim Winckelmann sitzt mit einer Schreibfeder in der Hand vor einem aufgeschlagenen Buch. Ein Grazien-Relief liegt als Stütze darunter. Der Autor ist im Moment des Innehaltens und Nachdenkens wiedergegeben, blickt er doch mit weit geöffneten Augen zur Seite. Vermutlich reflektiert er gerade über das vor ihm liegende Grazien-Relief. Das aufgeschlagene Buch ist dadurch als ein Manuskript erkennbar.
Die oben angesprochene Natürlichkeit bezieht sich auf Kleidung und Haartracht, stellt Angelika Kauffmann den Gelehrten ohne Perücke, im weißen Hemd und im Hausmantel dar. In vielen Besprechungen werden die hohen Geheimratsecken hervorgehoben, welche die hell erleuchtete, freie Stirn rahmen. Ein gelber Schal ist locker um den Hals des Autors geschlungen, die rote Bordüre findet koloristischen Widerhall in seinem Goldring mit roter Kamee am kleinen Finger der rechten Hand und im roten Tuch unter den Arbeitsmaterialien. Durch die harmonische, warme Farbgebung, die weiche Umrissmodellierung und den durchscheinenden zarten Stoff an Hals und Händen präsentiert Kauffmann den Gelehrten als empfindsamen und feinsinnigen Denker. Das von links einfallende Licht lässt den Kopf des Forschers markant hervortreten. Der Hintergrund ist monochrom gehalten, eine Wand schließt bildparallel ab, eine Ecke wird von der Malerin angedeutet. Die Künstlerin inszeniert den nachdenkenden Altertums- und Ästhetikforscher nahsichtig auf einer schmalen Raumbühne.
Körpersprache und Mimik sind im Gelehrtenporträt wichtiger als Statussymbole wie Kleidung, Attitüden und Posen der Grand-Tour-Porträts (vgl. v.a. Pompeo Battoni). Damit betonte die Malerin Winckelmanns innere Werte wie den kritischen Zugang zu den antiken Artefakten, den abstrakten Denkprozess. Sie suchte eine Möglichkeit, das intellektuelle Arbeiten in ein Bild zu gießen. Dafür wählte sie auch den vergeistigten Blick des Dargestellten. Einzig die Grazien dienen als eine Metapher für seine Inspiration durch die Musen, wodurch Johann Joachim Winckelmann im Bild zum aufgeklärten Genie wird. Eine andere Deutung sieht in den Grazien das Sinnbild der Freundschaft, womit (auch) auf die langjährige Beziehung des Dargestellten zum Auftraggeber des Bildes hinzuweisen ist.1 Gleichzeitig verweisen die Grazien auch auf die Künstlerin Angelika Kauffmann: Die pittrice delle grazie (doppeldeutig für Malerin der Grazien und Malerin graziler Bilder) zeigt sich als Anhängerin von Winckelmanns Kunstlehre vom hohen und schönen Stil.
Kauffmann und Winckelmann lernten einander 1763 in Rom kennen. Winckelmann war zu diesem Zeitpunkt bereits eine europaweit bekannte Persönlichkeit. Die Karriere des in Stendal aufgewachsenen Schustersohnes, der ab seiner Übersiedlung nach Rom mit der gelehrten Elite Europas korrespondierte und von aristokratischen Reisenden als Führer durch die Altertümer umworben wurde, liest sich wie ein Roman. Winckelmann trug selbst nicht unwesentlich zur Fokussierung auf seine Person bei, indem er sein umfangreiches Briefnetzwerk nutzte, um Informationen zu verbreiten, die weit über die Grenzen des gelehrten Austauschs hinausgingen. In den Korrespondenzen nahm er Bezug auf seine private Sphäre (Liebesleben) wie auch seine persönliche Positionierung zu zentralen Fragen der zeitgenössischen Diskussionen (Hof, Freiheit, kulturelle bzw. nationale Identität, ökonomische Verhältnisse). Damit erarbeitete – und steuerte – er ein öffentliches Bild seiner selbst, das sich schnell als wirkungsmächtig erwies. Seine spektakuläre Ermordung im Jahr 1768 löste eine Welle des Entsetzens in ganz Europa aus und lenkte den Blick umso mehr auf seine Person. Davon profitierte auch Angelika Kauffmann.
Dresden 1755: Der deutsche Altertumsforscher hatte in nur 55 Exemplaren seine „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke“2 publiziert. Damit war er international bekannt geworden, denn schon im ersten Jahr nach der Publikation wurden die „Gedanken“ zweimal ins Französische übersetzt. Kurze Zeit später brachte er die Studie „Von der Grazie in den Werken der Kunst“ (1759) heraus, worauf Angelika Kauffmann im Porträt Winckelmanns anspielt. Kurz Zeit nachdem er für Angelika Kauffmann gesessen hatte, veröffentlichte Winckelmann 1764 auf Deutsch die „Geschichte der Kunst des Alterthums“. 1776 nach dem Tod des Autors neu aufgelegt, wurde das Buch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts dreimal ins Französische und zweimal ins Italienische übersetzt.
Johann Joachim Winckelmann war mit seinem epochalen Werk einer der „Begründer“ der modernen Archäologie und Kunstgeschichtsschreibung. Er war ein international vernetzter Gelehrte und dadurch Teil einer internationalen Bewegung, die zur Etablierung kunstwissenschaftlicher Disziplinen beitrug und eine erneute Rückbesinnung auf die Antike favorisierte. Aus diesem Grund ist Winckelmann als ein Initiator des Klassizismus zu bezeichnen.
Vermutlich brachte Angelika Kauffmanns Interesse an antiker Kunst und an kunsttheoretischen Fragen mit Winckelmann zusammen. Es gilt als wahrscheinlich, dass der Kontakt von ihrem wichtigsten Bekannten und später auch langjährigen Freund Reiffenstein vermittelt wurde. Dass es sich bei dem Porträt von Johann Joachim Winckelmann um ein Frühwerk der gerade einmal 22-jährigen Künstlerin handelt, erstaunt noch immer (→ Angelika Kauffmann: Biografie). Trotz ihrer Jugend war Kauffmann in den Jahren zuvor bereits Ehrenmitglied der Akademien in Bologna und Florenz aufgenommen worden. Auch der Auftraggeber Johann Caspar Füssli d. A. (1706–1782) zeigte sich höchst befriedigt ob er künstlerischen Leistung. Für ihn war die „seelenvollste Ähnlichkeit“ das herausstechendste Merkmal des Porträts. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts entstanden Porträts von Giovanni Battista Casanova (1764, Leipzig, Museum der Bildenden Künste), Anton von Maron und posthum Anton Raphael Mengs sowie die Büsten von Friedrich Wilhelm Eugen Doell und Salvatore de Carlis. Diese Bildnisse können als ein Ergebnis einer von Winckelmann und seinen Unterstützern betriebenen Imagekonstruktion betrachtet werden.3
Der Dichter Friedrich von Matthisson beschrieb das Winckelmann-Porträt Kauffmanns in seinen Erinnerungen:
„Angelikas Winckelmann ist […] ein Meisterwerk durch Kolorit, Stellung, Harmonie, Zeichnung und Kraft, [… gemalt] mit dem feurigen Jugendenthusiasmus kindlicher Freundschaft“4
Der Dargestellte selbst war so überzeugt von der Darstellung, dass er es als Frontispiz seiner Schrift „Versuch einer Allegorie“ voranstellen wollte. Angelika Kauffmann übertrug das Bildnis auf die Radierplatte. Damit wollte sie das für den Schweizer Winckelmann-Bewunderer geschaffene Bildnis für ein breites Publikum bewahren. Gleichzeitig sicherte sie sich selbst einen größeren Verbreitungsgrad ihres Werks. Die Künstlerin veränderte das Erscheinungsbild des Gelehrten ein wenig (mehr Haare) und ergänzte es durch eine Beischrift, in der die privilegierte Stellung Winckelmanns hervorgehoben wird: „Antiq. Pontif. et Prof. Graec. L. in Biblioth. Vatic.“ Bezieht sich auf seine Beruf als Aufseher sämtlicher Altertümer in und um Rom im Dienst des Vatikans sowie seine Position als Beauftragter für die griechischen Schriften in der päpstlichen Bibliothek. Der von Johann Friedrich Reiffenstein (1719–1793) begonnene Stich nach Kauffmanns Werk ist jedoch nicht überliefert; wahrscheinlich wurde er nie realisiert.
Die Radierung Kauffmanns wurde erst nach dem gewaltsamen Tod Winckelmanns als rares Einzelblatt vertrieben. Mit ihrem Erscheinen startete die massenhafte Reproduktion des Bildnisses, die bis in die heutige Zeit andauert und das Bild des Wissenschaftlers noch immer prägt.5 So beschrieb Carl Justi das Bildnis in seiner Winckelmann-Biografie von 1898. Es „ist wohl ihr berühmtestes, jedenfalls ein sehr glückliches, und für ihr damaliges Alter eine erstaunliche Leistung“6.