Die Skulpturengruppe „Mars und Venus mit Amor“ des Bildhauers Leopold Kiesling, einem Hauptvertreter des Klassizismus in Österreich, aus dem Jahr 1809 entstand in einer politisch brisanten Zeit: Im Oktober 1809 brachte der Vertraute Metternichs in Paris Marie Louise, Tochter von Kaiser Franz II. (I.), als mögliche Ehefrau von Napoleon I. ins Spiel. Am 15. Dezember ließt sich der Kaiser der Franzosen scheiden, um in den europäischen Hochadel einzuheiraten. Die Verhandlungen wurden am 16. Februar 1810 mit einem Vertrag besiegelt, die Trauung erfolgte per procurationem [in Stellvertretung] in der Wiener Augustinerkirche am 11. März. Napoleon und Marie Louise heirateten am 1./2. April 1810 in Paris. Ganz Europa hoffte, dass damit der Erfolgshunger des aufstrebenden Napoleon I. gestillt wäre.
Österreich / Wien: Belvedere, Oberes Belvedere
14.2. – 12.5.2019
Leopold Kiesling (Schöneben/OÖ 1770–1827 Wien) galt zu seiner Zeit als der bedeutendste Bildhauer Österreichs. Der Klassizist schuf das Werk als kaiserlicher Stipendiat in Rom, wo er mehrere Jahre im Kreis von Antonio Canova und Bertel Thorvaldsen verkehrte. Vor allem Antonio Canova schätzte den jungen Kollegen hoch und förderte ihn. Da das Staatsstipendium im Juli 1807 auslief, finanzierte sich Kiesling seinen Aufenthalt weitere drei Jahre selbst. Antonio Canova gestattete ihm, in seinem eigenen Atelier an der Skulpturengruppe „Marus und Venus mit Amor“ zu arbeiten. Deren Entstehungszeit kann aufgrund erhaltener Dokumente genau eingegrenzt werden: Am 22. März 1807 bekam Kiesling 3.032 Gulden aus Wien überwiesen, mit denen er den Marmorblock bezahlte. Bis Juni 1810 war die Skulpturengruppe abgeschlossen und bereits nach Wien entsandt.
Leopold Kiesling stellt ein Liebespaar der klassischen Mythologie dar: den Kriegsgott Mars und die Liebesgöttin Venus, unterstützt durch Amor. Amor nimmt von Mars dessen Schwert entgegen, während Venus den Heroen anschmachtet. Der Bildhauer beschäftigte sich offensichtlich mit dem Werk des berühmten Canova, Hauptvertreter des Klassizismus.
Die Statue traf im Juni 1810 in Wien ein, als die Eheschließung von Napoleon I. und Marie Louise von Frankreich und Österreich beschlossen worden war. Die Verbindung sollte den Mächteausgleich in Europa gewährleisten und den kriegerischen Aktivitäten ein Ende setzen. Das Kaiserhaus empfand das Thema der Skulpturengruppe daher als Geschenk: Venus, Göttin der Liebe, versucht, ihren Geliebten Mars, Gott des Krieges, von weiteren Kämpfen abzuhalten. Der Vergleich mit dem mythologischen Paar adelte die aktuelle dynastische Entscheidung, die 1810 in zwei prunkvollen Hochzeiten gipfelte (in Wien eine Hochzeit, gefolgt von der Eheschließung in Paris).
Die Skulpturengruppe fand im Oberen Belvedere ihre Aufstellung. Während des Wiener Kongresses 1814/15 kam ihr besondere Bedeutung zu, denn Kongressteilnehmer und bedeutende Personen wurden beim Gang durch die kaiserliche Gemäldegalerie über die europäische Bedeutung von Kieslings „Mars und Venus mit Amor“ unterrichtet (→ Der Wiener Kongress 1814/1815). Dass es sich hierbei um eine Projektion historischer Begebenheiten auf das Kunstwerk handelte, spielte offensichtlich keine Rolle.
Kuratiert von Sabine Grabner.
Mit Beiträgen von Ingeborg Schemper-Sparholz, Sabine Grabner, Werner Telesko