Paris! Die Stadt wirkt wie ein Magnet, sowohl auf den Bildhauer Bernhard Hoetger (1874–1949) als auch auf die Malerin Paula Modersohn-Becker (1876–1907). Als sich beide im April 1906 zum ersten Mal in der Kunstmetropole begegneten, verband sie sofort ihre Suche nach „Größe“ und „Einfachheit“ der Form. Entscheidende Impulse erhielten sie von den avantgardistischen Strömungen, deren Entstehung die beiden hautnah miterleben.
Deutschland | Bremen: Paula Modersohn-Becker Museum
Ludwig Roselius Museum
24.4. – 5.9.2021
Einer der wichtigsten Momente im künstlerischen wie privaten Leben von Paula Modersohn-Becker und Bernhard Hoetger fand an einem unbekannten Tag Anfang April 1906 in Paris statt. Die junge Malerin hatte knapp ein Monat davor auf der „Internationalen Kunstausstellung“ in der Kunsthalle Bremen zwei Bronzeskulpturen des deutschen Bildhauers entdeckt und beschlossen, ihn aufzusuchen. Eigentlich fühlte sich Hoetger nicht in der Stimmung, einen Gast zu empfangen – und doch lud er sie ein, etwas später wiederzukommen. An diesem Nachmittag veränderte sich die deutsche Kunstgeschichte über einer oder mehrere Tassen Tee. Paula Modersohn-Becker, Bernd Hoetger und seine Ehefrau Lee verstanden sich auf Anhieb. Nach einigen Wochen gestand sie ihm, die Ehefrau von Otto Modersohn zu sein, den Hoetger künstlerisch allerdings wenig schätzte. Für Paula, die sich Anfang 1906 von ihrem Mann und der „Enge“ in Worpswede trennen und ein eigenständiges Leben als Künstlerin in Paris starten wollte, war die Begegnung eine Offenbarung.
Als sie sich im Mai endlich traute, dem Bildhauer zu offenbaren, dass sie selbst malte und ihm ihre Gemälde zeigte, erkannte Hoetger als einer der ersten die Bedeutung ihres Schaffens. Wie sehr sich Paula Modersohn-Becker selbst unter Druck gesetzt hatte, lässt der Brief vermuten, den sie im Anschluss an den in Paris bereits arrivierten Bilderhauer schrieb:
„Lieber Herr Hoetger,
Daß Sie an mich glauben, das ist mir der schönste Glaube von der ganzen Welt, weil ich an Sie glaube. Was nützt mir der Glaube der andern, wenn ich doch nicht an sie glaube. Sie haben mir Wunderbarstes gegeben. Sie haben mich selber mir gegeben. Ich habe Mut bekommen. Mein Mut stand immer hinter verrammelten Toren und wußte nicht aus noch ein, Sie haben die Tore geöffnet. Sie sind mir ein großer Geber. Ich fange jetzt auch an zu glauben, daß etwas aus mir wird. Und wenn ich das bedenke, dann kommen mir die Thränen [sic] der Seligkeit. – Ich danke Ihnen für Ihre gute Existenz. Sie haben mir so wohl gethan [sic]. Ich war ein bischen [sic] einsam“1
Für beide Kunstschaffende war klar, dass sie den Impressionismus überwinden mussten. Als Bernhard Hoetger im Juni 1900 zum ersten Mal nach Paris kam, begeisterte er sich für den übermächtigen Auguste Rodin. Dessen „Höllentor“ und auch Medardo Rossos scheinbar unvollendete Bronzen wiesen ihm stilistisch den Weg, nämlich, mit Hilfe einer vibrierenden Oberfläche, dem Spiel von Licht und Schatten Bewegung einzufangen (→ Frankfurt | Städel: Impressionismus und Skulptur). Wie Simone Ewald in der ausstellungsbegleitenden Publikation eindrucksvoll schildet, arbeitete sich Bernhard Hoetger relativ schnell vom obdachlosen Bildhauer aus Deutschland zu einer zentralen Persönlichkeit im Salon d’Automne empor. Dass dabei die produktive Auseinandersetzung mit dem idealisierenden, klassisch-glatten Skulpturen von Aristide Maillol eine genauso große Bedeutung spielte wie die von Hoetger verehrten Paul Gauguin und Henri Rousseau, wird im Ausstellungsrundgang augenfällig.
Terrakotta-Figuren von Lumpensammlern, Clochards, Vagabunden aber auch ein muskelstrotzender Tauzieher aus der Zeit um 1902 dokumentieren im Paula Modersohn-Becker Museum die Nähe Hoetgers zu den Protagonist*innen von Émile Zolas Romanen. Das Relief „Menschliche Maschine [La Machine humaine]“ (1902) sicherte ihm die Aufmerksamkeit der sich formierenden Avantgarde, darunter von Marcel Duchamp, der eine Fassung der Werks besaß. Mit „Der Blinde“ (1902, Kunstsammlungen Böttcherstraße, Bremen) gelang dem Dortmunder Künstler in Paris der Durchbruch. Julius Mayer-Graefe nahm ihn (wenig erfolgreich) unter Vertrag. Hatten kurz nach 1900 noch sozialkritische Themen, nämlich Darstellungen von Menschen vom Rand der Pariser Gesellschaft, und die impressionistische Oberflächengestaltung Hoetgers Werk dominiert, so entdeckte er 1903/04 die Einfachheit der Form. In der „Maske Lee Hoetger“ (1905) und vor allem dem später so genannten „Großen Elberfelder Torso“ (1905, Von der Heydt Museum, Wuppertal) gibt er davon beredt Zeugnis. Genau mit diesen beiden Werken empfahl sich der Künstler gleichsam der suchenden Modersohn-Becker.
Während Hoetger von 1900 bis 1907 durchgehend in Paris lebte, übersiedelte Paula Modersohn-Becker für insgesamt vier Aufenthalte in die Kunstmetropole an der Seine. Die sensible Malerin erarbeitete sich in Worpswede und Paris eine künstlerische Haltung, die sie schlussendlich zur (unverstandenen) Vorläuferin des Expressionismus werden ließ: Tief beeindruckt von Rembrandt van Rijn, Vincent van Gogh, Paul Gauguin und Paul Cézanne rezipierte sie auch antike Mumienporträts aus Fayum und javanische Tempelskulpturen. Ihre Suche nach Größe, „Einfachheit der Natur“ und Intimität führten zu einer Reihe von Porträts und Selbstporträts, in denen sie den Impressionismus „verdaute“. Kursorische Bleistiftskizzen zeigen Modersohn-Beckers Interesse am Pariser Straßenleben. Wie Hoetger wanderte die Flaneurin durch die Großstadt und hielt interessante Eindrücke fest. Man begegnet Kutschenpferden, Schoßhunden und müden Arbeitern im Omnibus. Die Motive erinnern an Werke der Nabis, allen voran an Edouard Bonnard, Maurice Denis und Vuillard. Stilistisch fällt bereits das Zusammenfassen der Figuren zu großen Flächen auf und die Abkehr von Details.
Mit den 1906/09 entstandenen Mutter und Kind-Bildern schrieb sich Paula Modersohn-Becker als höchst eigenständige Künstlerpersönlichkeit in die Kunstgeschichte ein: Die Gemälde „Liegende Mutter mit Kind II“ (1906) und „Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag“ (1906), in dem sie sich als vermeintlich Schwangere zeigt, sowie mehrere Bildnisse von Lee Hoetger vom August 1906 dokumentieren, wie sehr sich Modersohn-Becker im Gleichklang mit der Pariser Avantgarde bewegte – mit dem jungen Pablo Picasso sowie den „Fauves“ Henri Matisse und André Derain. Bernhard Hoetger und Paula Modersohn-Becker taten einander zweifellos gut, indem sie einander zu kompromisslosen Werken anstachelten. Dass Hoetger dann auch zu einem der ersten Interpreten und Förderer der jung Verstorbenen wurde, lag dadurch fast auf der Hand.
Herausgegeben von Frank Schmidt für die Museen Böttcherstraße, Bremen in Zusammenarbeit mit der Paula-Modersohn-Becker-Stiftung, Bremen, Simone Ewald und Wolfgang Werner
112 Seiten, reich illustriert
Das „Kraftfeld Paris“ wird in dieser Publikation mustergültig umrissen, wirft sie doch mit den Akteuren Eugène Blot (Galerist und Bronzegießer) sowie dem bestens vernetzten norwegischen Landschaftsmaler Edvard Diriks einen profunden Blick auf Bernhard Hoetgers Umfeld. Im Frühjahr und Sommer 2021 dem wichtigen deutschen Expressionisten Hoetger den Vortritt zu lassen – und mit der Schau Rodin, Maillol, Gauguin und Rousseau gleichermaßen zu würdigen – stellt sich als Glücksgriff dar. Gleichzeitig wird die künstlerische Entwicklung von Paula Modersohn-Becker und Bernhard Hoetger feinfühlig nachgezeichnet. Durch den Zuspruch des Bildhauers fand Paula Modersohn-Becker 1906 jenen Halt, durch den sie sich in neue Gefilde vorwagen konnte. Die flüssig und kenntnisreich geschriebenen Artikel bringen die kunsthistorische Forschung gekonnt auf den Punkt und zeichnen ein Bild des lebendigen intellektuellen Austauschs zwischen den Kunstschaffenden.