John Everett Millais' „Christus im Haus seiner Eltern“ (1849/50) schockerte das zeitgenössische Publikum. Als zu realistisch in seiner Malerei, aber auch zu kontroversiell in seiner theologischen Aussage wurde es vom Publikum, darunter Charles Dickens, verurteilt. Als eines der frühesten Gemälde nach Gründung der Präraffaeliten (Pre-Raphaelite Brotherhood) im Jahr 1848 setzte John Everett Millais (1829–1896) in ihm die unbedingte Naturtreue der Gemeinschaft um.
Großbritannien / London: Tate Britain
26.9.2007 – 13.1.2008
Eine Predigt über den Propheten Sacharja 13,6 hätte John Everett Millais zu diesem Werk inspiriert, erinnerte sich William Holman Hunt in seiner zweibändigen Geschichte der Präraffaeliten (1905):
„Und wenn jemand zu ihm spricht: Was sind das für Wunden in deinen Händen? so wird er sagen: Es sind die Wunden, womit ich geschlagen worden bin im Hause derer, die mich lieben.“
Das zeitgenössische Publikum reagierte schockiert auf das Gemälde „Christ in the House of his Parents”. Der harsche Realismus, den Millais einsetzte, um die heilige Sippe in eine Tischlerwerkstatt zu versetzen, galt als obszön. Weder Armut, noch Schmutz (Fußnägel!) oder sogar Krankheit wurden versteckt. Minutiös beschreibt Millais alles, bis zur Hobelspäne am Fußboden. Um seiner Vorstellung einer wahrheitsgetreuen Interpretation der heiligen Schrift zu genügen, arbeitete Millais in einer Möbeltischlerei. Zudem stand ihm ein echter Lebensmittelhändler aus Holborn Modell, was Millais ermöglichte, die Muskulatur eines körperlich arbeitenden Mannes korrekt einzufangen. Für den Kopf zog er die Physiognomie seines eigenen Vaters heran. Um die Schafsherde vor der Tür malen zu können, besorgte sich der detailversessene Maler zwei Schafsköpfe vom Schlachter. Während John Everett Millais an diesem Bild arbeitete, lebte er noch zuhause bei seinen Eltern. Mit ihnen besprach er jedes Detail, immerhin handelt es sich bei „Christ in the House of his Parents“ um das erste religiöse Werk, das John Everett Millais der Öffentlichkeit präsentierte.
Im Jahr zuvor hatte Dante Gabriel Rossetti „The Girlhood of Mary Virgin [Die Jugend Mariae]“ (1848/49) gemalt und damit das christliche Thema eröffnet. Millais folgt mit einer Jugendgeschichte Christi, übertrumpfte seinen Malerfreund jedoch in Größe und Realismus. Sechs Menschen arbeiten in einer Werkstatt. Das Kind Jesus hat sich an einem Nagel geschnitten und wird von seinen Eltern, Maria und Joseph, umsorgt. Der ebenfalls jugendliche hl. Johannes der Täufer bringt eine Schüssel Wasser, um die Wunde zu reinigen. Ein anderer Mitarbeiter beäugt die Szene von links, und die hl. Anna greift zu Zange und Nagel, an denen sich Christus verletzt hat. Der Vater sieht sich die Wunde genauer an, wodurch Christus seine Linke wie zum Segensgestus hebt. Seine Mutter ist vor ihm in die Knie gesunken.
Anglikanische Betrachter sollten sich sowohl durch den Bibelspruch wie die symbolträchtigen Objekte an die beiden Sakramente Taufe und Kommunion erinnert fühlen. Neben seinem hohen Grad an Realismus, der an Kunst von Caravaggio und die Caravaggisten erinnert, fühlten sich die Zeitgenossen aufgrund des unverhohlen katholischen Gehalts des Bildes verwirrt: Die Darstellung der Wunde Christi, das Blut, erinnerte sie an das katholische Dogma der Transsubstantiation. Auch die verhärmt aussehende Maria widersprach dem gängigen Typus der Christusmutter. Vor allem der Schriftsteller Charles Dickens fühlte sich davon besonders abgestoßen und bezeichnete die Figur als „Monster aus dem niederen Gin-Laden in England“.