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München | Haus der Kunst: Ai Weiwei. So Sorry Entschuldigungs- und Erinnerungskultur | 2009

Ai Weiwei, Rooted upon, 2009. 100 pieces of tree trunks, 640 x 3500 x 1100 cm. © Ai Weiwei

Ai Weiwei, Rooted upon, 2009. 100 pieces of tree trunks, 640 x 3500 x 1100 cm. © Ai Weiwei

Wie konnte sich in China unter kaiserlicher Gewaltherrschaft handwerkliche Raffinesse und Kunstfertigkeit derart entwickeln und entfalten? Für Ai Weiwei ist das Haus der Kunst, das in Hitlers Auftrag für die Leistungsschauen deutscher Kunst errichtet wurde, inhaltlich und formal der geeignete Rahmen, um über diese Frage nachzudenken. Der Ausstellungstitel „So Sorry“ zielt auf die neue Entschuldigungskultur, mit der Politiker:innen und Vorstände auf Fehlentwicklungen am Finanzmarkt und andere globale Krisen reagieren.

Internet als Game Changer

Nach Ansicht von Ai Weiwei sind die wichtigsten politischen Debatten der letzten zehn Jahre in China durch das Internet initiiert worden. Diesem Medium spricht er daher das größte Potential zu, gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Der Blog, den Ai Weiwei selbst unterhält, stößt mit durchschnittlich 10.000 Besucher:innen pro Tag auf enormes Interesse. Unter https://blog.aiweiwei.com und auch http://www.bullogger.com/blogs/aiww dokumentiert Ai Weiwei seine Aktivitäten und künstlerischen Projekte, fordert immer wieder Meinungsfreiheit und Pressefreiheit und ruft seine chinesischen Mitbürger:innen zu eigenständiger Kritik und unabhängigem Urteil auf. Jedes Mal, wenn sein Blog geschlossen wird, eröffnet Ai Weiwei an anderer Stelle einen neuen; auf Initiative des Haus der Kunst bloggt er nun zum ersten Mal auch auf Englisch (http://aiweiwei.blog.hausderkunst.de).

 

Gedenken an die Opfer

Am 12. Mai 2008 erschütterte ein Erdbeben der Stärke acht auf der Richterskala die chinesische Provinz Sichuan. Unter den etwa 80.000 Opfern waren mehrere tausend Kinder, die unter den Trümmern eingestürzter Schulen begraben wurden. Da die Nachbargebäude dieser Schulen auffallend oft unbeschädigt geblieben waren, wurde der Vorwurf von Pfusch am Bau erhoben, den die Regierung aber von sich wies. Mit einem Team von rund 30 Freiwilligen recherchierte Ai Weiwei die Namen der Opfer – gegen den Widerstand der Regierung, die nicht offiziell über die tatsächliche Anzahl der Toten informierte und den Eltern der Opfer, die den Namen ihres verunglückten Kindes nennen würden, mit Repressalien drohte. Dennoch konnte Ai Weiwei auf seinem Blog über 4.000 Namen veröffentlichen.

„Remembering“ wird für die Fassade des Haus der Kunst entworfen und besteht aus 9.000 eigens angefertigten Rucksäcken. Ai Weiwei ruft hiermit das Erdbeben in Sichuan ins Gedächtnis, denn bei den eingestürzten Schulen fanden sich viele Rucksäcke der verschütteten Kinder. Jeder Rucksack hat eine von insgesamt fünf verschiedenen Farben; ihre Anordnung ergibt in chinesischen Schriftzeichen den Satz „Sieben Jahre lang lebte sie glücklich in dieser Welt“, mit dem die Mutter eines Erdbebenopfers ihrer Tochter gedachte. Das pixelhaft wirkende Monumentalbild erstreckt sich über eine Länge von 100 Metern und eine Höhe von zehn Metern über die gesamte Fassade und ist mit einer Stahlkonstruktion an den Säulen vorm Haus befestigt.

 

Teppich und Bäume

Ebenfalls für die Ausstellung gefertigt ist der Wollteppich „Soft Ground“, der im größten Ausstellungsraum eine Fläche von 380 Quadratmetern bedeckt. Das Muster von „Soft Ground“ ist eine getreue Reproduktion der 969 steinernen Bodenfliesen, über die der Teppich gebreitet wird. Um die Bodenfliesen – einschließlich der Spuren, die 70 Jahre Ausstellungsbetrieb hinterlassen haben – präzise zu rekonstruieren, wurde jede Fliese im Vorfeld einzeln fotografiert und ihre Position verzeichnet. In einer Wollweberei in der Provinz Hebei handgefertigt, fungiert „Soft Ground“ nun als Dämpfer, der den Boden schont und natürlich auch eine akustische Wirkung hat.

Zu Ai Weiweis jüngsten und in der Ausstellung präsentierten Werken gehören außerdem: „Rooted upon“, eine 100-teilige Großinstallation von Baumstämmen aus ganz China, die auf „Soft Ground“ installiert wird; „Cube in Ebony“, ein Kubus aus massivem Rosenholz mit den Maßen 100 x 100 x 100 cm; „Bamboo and Porcelain“, eine in Zusammenarbeit mit Herzog & de Meuron entstandene Installation für die Fassade an der Rückseite des Haus der Kunst.

 

Fairytale

Ai Weiwei zog während der letzten „documenta“ (2007) viel Aufmerksamkeit auf sich, als er für sein Projekt „Fairytale“ 1.001 Chines:innen nach Kassel einlud. Sie kamen in Gruppen von 200 Personen und blieben jeweils eine Woche. Für viele von ihnen war es die erste Reise ins Ausland, für manche die erste Reise überhaupt. Überzeugt, dass individuelle Erfahrungen die Grundlage für gesellschaftlichen Wandel bilden, wollte Ai Weiwei seinen Landsleuten mit dieser Reise eine solche Erfahrung ermöglichen. Jeder der 1.001 chinesischen documenta-Gäste ist in der Ausstellung mit einem Schwarz-weiß-Porträt präsent, und in ihrer Gesamtheit ergeben diese Porträts eine Fototapete; neben einem Dokumentarfilm über das documenta-Projekt wird auch die Holzskulptur „Template“ gezeigt sowie die von Ai Weiwei entworfenen Wohneinheiten, die den Chinesen in Kassel als Unterkunft dienten: Jedem Gast stand ein Bett mit Matratze und Bettwäsche, ein antiker Stuhl sowie ein schwarz-weißer Rollkoffer für sein Gepäck zur Verfügung.

 

Aneignung von Material und Handwerkstechniken

Für seine künstlerische Produktion eignet sich Ai Weiwei chinesische Antiquitäten oder spirituelle Artefakte an, die er stark verändert oder deren Zerstörung er zum Bestandteil eines Kunstwerks macht. Prominentes Beispiel hierfür sind die von ihm veränderten, antiken chinesischen Vasen: die dreiteilige Fotoserie, wie er eine Vase fallen lässt und sie in tausend Scherben zerbricht („Dropping a Han Dynastie Urn“, 1995), mit dem Schriftzug „Coca-Cola“ bemalte Vasen und in Industriefarbe getauchte Vasen (fortlaufende Serien). Auf den ersten Blick wirken solche Aktionen oder performancebasierten Installationen wie Gesten des Bildersturms; doch Ai Weiwei will hiermit die Frage stellen, wie Altes und Neues nebeneinander bestehen kann, wie die neue Qualität von Tradition aussehen könnte und wie sich das moderne China zu sich selbst verhält.

Ai Weiwei beauftragt angesehene handwerkliche Traditionswerkstätten wie die Brennöfen von Jingdezhen mit der Ausführung seiner Porzellanarbeiten und lässt die Einzelteile seiner Holzskulpturen ohne Nägel zusammenfügen, wie im klassischen chinesischen Zimmermannshandwerk üblich. So hervorragend ausgebildete Handwerker, wie er sie beschäftigt, reagieren durchaus empfindlich, wenn sie ihr Können in den Dienst seiner künstlerischen Anliegen stellen sollen: Sonnenblumensamen aus Porzellan herzustellen oder das jahrhundertealte Holz von Tempelbauten für eine Landkarte Chinas zu verwenden. Die technische Perfektion und hohe sinnliche Qualität von Ai Weiweis Werken wirft Fragen auf, die für jede Kultur zentral sind: Wer bestimmt, was kostbar ist? Wer bestimmt, was für eine bestimmte Gesellschaft bleibende Werte sind, und aus welchem Grund?

Quelle: Haus der Kunst

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Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.