Olaf Nicolai (* 1962) gastiert mit „There Is No Place Before Arrival“ im Sommer 2018 in der Kunsthalle Wien. Die Kunsthalle markiert der deutsche Konzeptkünstler als Ort der Kopie, als Verhandlungsplatz der Übersetzung, als Problemstelle Translation – und Kunst ist für ihn ein Vehikel, die Leerstellen dazwischen sichtbar zu machen.
So stellt er ein großes, kunstvoll mit Straßenkreide auf den Boden der Kunsthalle gemaltes Bild eines reinweißen Springpferdes dem Publikum am Eingang gegenüber. Mit einem riesigen Satz nehmen Reiter und Pferd den Oxer. Da ist noch viel Luft nach unten. Der Holsteiner Schimmel mit auffallend blauen Augen – wohl eine Ergänzung der ausführenden Hand – nimmt das Hindernis mit einem riesigen Satz. Blumenschmuck und Kristallleuchter vor Flaggen deuten an, dass es sich um einen internationalen Bewerb handeln muss.
Österreich | Wien: Kunsthalle Wien
13.7. – 7.10.2018
#medialoop #OlafNicolai
Die Ausstellung – eine Leistungsschau wie ein Springturnier? Daneben das Porträt einer asiatischen Frau, etwas weiter in den Raum hinein eine herbstliche Landschaft in impressionistisch aufgelöster Strichführung, ach ja, Pepper, der humanoide Roboter, ist auch da, dazwischen einige Knochenfragmente, Container im Hafen, Männer mit Werkzeugen, das Meer, Affen. Die Bilder allesamt auf den Boden gemalt, fragil und zerstörbar, wie die ersten Fußabdrücke belegen.
Was passiert also, wenn Bilder als Kreidezeichnungen am Boden existieren? Wenn sie so stark vergrößert werden, dass manchmal der Überblick nicht mehr gegeben ist und sie sich in abstrakte Muster auflösen? Wenn sie Dinge zeigen, die man nicht sofort erkennt? Wenn sie dem Publikum ausgesetzt werden, das mit kohleschwarzen Sohlen über den weißen Schnee des Jungfrau-Massivs läuft? Wird es das tun?
Olaf Nicolai lädt ein, das Bild aus anderer Perspektive wahrzunehmen. Anstelle von Bildern an der Wand, wie im Museum üblich, versetzt er seine Bilder unter die Füße, lässt uns Spuren lesen, mit mehr oder weniger Achtsamkeit darüber laufen. Mit Bildern unter den Füßen zeigt er uns aber auch die ganze Welt, oder besser das Wissen und die Einschätzung über sie, vermittelt durch Tageszeitungen.
Seinem performativen und konzeptuellen Ansatz folgend, ist Nicolai den Weg des Zitierens und Transformierens gegangen. Aus einem Fundus an Zeitungsausschnitten, quasi der Mnemosyne-Atlas Nicolais, wählte der Künstler aus Berlin vier Handvoll Motive. Ihr Ursprung und ihre Bedeutung werden im ausstellungsbegleitenden Booklet aufgedeckt. So ist der eingangs erwähnte Schimmel nicht nur ein hochdekoriertes Springpferd, sondern auch der Vater seiner selbst. Calvaro wurde 2006 geklont, das Fohlen starb jedoch früh an einer Gelenksentzündung. Die Übersetzung hat nicht funktioniert. Auch Pepper übt sich im Übersetzen von menschlicher Mimik, während sich der Mensch noch an den Fiep-Lauten von Weißbüschelaffen abmüht. Verstehen oder nicht Verstehen, das ist hier die Frage! Bilder „übersetzen“ Geschichten wie die Spur der verunglückten Bergsteigergruppe in der Schweiz 2007 – ohne Text ein schönes Bergmotiv. Massen an Frachtcontainern werden mit dem Kommentar „Jeder fünfte zirkulierende Frachtcontainer enthält gefährliche Inhalte“ in einen Kontext eingebunden. Dass das Bild eine große Anzahl gleichförmiger Container in streng geometrischer Anordnung in verschiedenen Farben zeigt und aus kompositionellen Gründen leicht schräg aufgenommen (oder zumindest so gesetzt) wurde, macht es noch unheimlicher. Erinnerung an ungegenständliche Kompositionen von El Lissitzky und László Moholy-Nagy tauchen auf. Auch die Komposition steht in einem geschichtsträchtigen Kontext.
Bilder aus aller Welt werden heute in Sekundenschnelle zu Geschichten aus aller Welt. Verschickt, vervielfältigt, in unterschiedlichsten Kontexten gelesen, (miss)verstanden oder einfach aus ästhetischen Gründen als faszinierend empfunden. Die rote Wolke – eine Tiefseeprobe, die den Himmel spiegelt – hätte ich nicht als Helfer für das Verständnis des Universums erkannt. Eine völlige Fehlleistung produzierte mein Hirn angesichts zweier junger Herren, einer davon im weißen Anzug. Ich hätte schwören können, dass der Mann daneben Prinz Harry ist. Und dann belehrte mich das Booklet darüber, dass es sich um neu gestylte Neonazis handelt. Das Porträt der Asiatin wurde in der Zeitung als Eye-Catcher für eine Story über sexuelle Ausbeutung im Filmbusiness in China verwendet. Mazedonier protestieren „im Schlaf“ (März 2017), georgische Männer stehen am Arbeiterstrich, „Entsorgung“ eines Kriegsschiffs auf hoher See, Peppers große Augen – Krieg und Wirtschaft, Ausbeutung und Machtmissbrauch, daneben schöne Landschaftsaufnahmen, die sich manchmal als trügerisch erweisen. Was wird Pepper aus ihrem Wissen machen? Oder besser: Was manchen die Menschen hinter Pepper damit? Olaf Nicolai gibt keine Antworten, auch wenn er durch die Auswahl der Fotografien thematische Blöcke vorgibt und sich für die Unterdrückten und deren Geschichten stark macht.
Diese Haltung zeichnet auch Olaf Nicolais Arbeit im Jüdischen Museum aus. Anlässlich einer Ausstellung in Ramallah im Westjordanland ließ er Sigmund Freuds „Trauer und Melancholie“ (1915) erstmals ins Arabische übersetzen. Der Text existiert nun erstmals in beiden Sprachen der Konfliktgegner. Die Übersetzung lief als Lesung im lokalen Radio, wofür der Übersetzer dem Sprecher auch eine Einführung in den Text gab, damit dieser das Hocharabisch in den Dialekt übertragen konnte. Ein Film im Jüdischen Museum Wien zeigt die Annäherung, die Leerstellen, die emotionalen Reaktion, aber auch Veränderungen der Sachverhalte, um den neuen Text verständlich zu machen. Nie handelt es sich um „perfekte“ Übertragungen, immer wird etwas ergänzt, verändert, ja verfälscht, umgestellt wird, um mit dieser neuen Interpretation ein Ziel zu erreichen.
Olaf Nicolai baut in seine Ausstellungen vielfältige Schleifen ein. Eine weitere ist die mediale Rezeption bzw. Streuung der neuinterpretierten Bilder. In ihrer Existenz höchst gefährdet, wurden sie schon vor der Pressekonferenz abfotografiert. Gemeinsam mit museum in progress startet er einen media loop, um vom Printmedium und dem fixen Ort Kunsthalle aus erneut die Zeitschriftenlandschaft und den digital space zu erobern. Als digitales Bild, so Kaspar Mühlemann Hartl von museum in progress, werden die Kreidezeichnungen deutlich länger „leben“ als im Original.
Ja nur keine Statik aufkommen lassen! Das Performative stets im Auge behaltend, erweitert Olaf Nicolai die Ausstellung durch ein dichtes Programm, bei dem die Neuen Vokalsolisten Stuttgart Olaf Nicolais Denkmal für die Verfolgten der NS. Militärjustiz (2014), kurz, das Deserteursdenkmal, zwischen Bundeskanzleramt und Hofburg mit elf neu komponierten A Cappella-Stücken bespielen und Helene Weigels Auto umgeparkt wird. Die Verbindung zu Literatur und Wien gelingt Olaf Nicolai im Antiquariat Fritsch. In der Auslage zeigt Nicolai eine Installation zu H. C. Artmanns „Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes“ (1953). Unter Punkt 5 subsummiert Artmann darin:
„Der poetische Act ist die Pose in ihrer edelsten Form, frei von jeder Eitelkeit und voll heiterer Demut.“ (H. C. Artmann, 1953)
Battle-ax, Marcel Beyer, Ann Cotten, Jeremiah Day, Bart de Kroon, Jan Erbelding, Alix Eynaudi, Lena Grossmann, Neue Vocalsolisten Stuttgart, Public Possession, Felix Leon Westner