Sabine Fellner kuratiert für das Belvedere die gesellschaftspolitisch interessante Themenausstellung „Die Kraft des Alters“. Mit 188 Werken von 108 Künstlerinnen, Künstlern und einem Künstlerkollektiv macht sie auf die Privilegien und Problematiken von Alter zwischen Jugendstil und Gegenwartskunst aufmerksam. Welche Themenkomplexe hat Fellner für ihre Gruppenausstellung kreiert? Wie unterscheiden sich Kunstwerke des frühen 20. vom frühen 21. Jahrhundert hinsichtlich der Präsentation von Alter? Gibt es einen männlichen und einen weiblichen Blick?
Das Gespräch für ARTinWORDS führte Alexandra Matzner.
Österreich | Wien: Unteres Belvedere
17.11.2017 – 4.3.2018
ARTinWORDS: Die von Ihnen für das Belvedere kuratierte Ausstellung trägt den Titel „Die Kraft des Alters“. Warum und wie haben Sie den Titel entwickelt?
Sabine Fellner: Alter wird in unserer Gesellschaft gegenwärtig in erster Linie als ein Defizit und als Lebensabschnitt des Verfalls und Abbaus gesehen. Dazu tragen auch Begriffe wie „anti aging“ bei, die den Alterungsprozess als etwas Pathologisches beschreiben, das therapiert werden muss.
ARTinWORDS: Sie sehen die Ausstellung also als ihren Beitrag zur aktuellen Diskussion zum Umgang mit betagten Menschen?
Sabine Fellner: Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass Alter nicht nur ein biologischer Prozess ist, sondern eine kulturelle Konstruktion. Unser aktuelles Altersbild ist sehr stark auf dieses biologische Altern fokussiert. Die kulturelle Konstruktion tritt ein bisschen in den Hintergrund. Die Gesellschaft macht uns vorzeitig alt. Wir leben sehr viel länger als noch vor fünfzig Jahren. Unser Gesellschaftssystem schickt die Menschen aber mit 65 in Pension, die 50-Jährigen gelten am Arbeitsplatz als Problemgruppe und sind schwer vermittelbar.
ARTinWORDS: Neben dieser öffentlichen Diskussion um Alterssteilzeit, Altersarmut und Versorgung von Alten, gibt es in den Medien spezielle Bilder, wie alte Menschen dargestellt werden. Wie sehen Sie diese Situation?
Sabine Fellner: Das große Problem mit unserer Wahrnehmung vom Alter ist, dass wir keine kraftvollen Vorbilder dafür haben. Der Mainstream übermittelt uns die ewig Junggebliebenen. Die Film- und Werbeindustrie beginnt sehr wohl, sich auf das Alter einzustellen, weil es ein wachsender Markt ist. Es gibt seit einigen Jahren wirklich auffallend viele Hollywood-Filme, die sich mit dem Altern und Alter auseinandersetzen. Das ist schön, aber wenn man mit kritischem Blick genauer hinschaut, bekommt man alte Menschen vorgeführt, die besonders jugendlich sind. Das heißt besonders aktiv, besonders rüstig, besonders unkonventionell; Es werden die Alten dann als liebenswert vorgeführt, wenn sie besonders viele jugendliche Attribute haben.
ARTinWORDS: Zurückkommend auf den Ausstellungstitel „Kraft des Alters“. Es geht Ihnen also um eine Ermächtigung, oder einfacher formuliert, um ein Herzeigen von hohem Alter, abhängig von den gesellschaftlichen Diskursen aber unabhängig vom aktuellen Schönheitsideal?
Sabine Fellner: Genau. Es geht aber nicht nur um das ganz hohe Alter. In unserer Gesellschaft, gerade in Bezug auf Frauen, sind wir bereits ab 50 alt.
ARTinWORDS: Die Werke in der Ausstellung geben einen Überblick über ein ganzes Jahrhundert vom beginnenden 20. bis zum beginnenden 21. Jahrhundert, wie Künstlerinnen und Künstler Alter wahrgenommen haben und wie sie es jetzt sehen. Wenn wir uns die Gesellschaft der vorletzten Jahrhundertwende ansehen, war es offenbar genau gegenteilig zu unserer heutigen Situation.
Sabine Fellner: So ist es. Ich zeige in der Ausstellung beispielsweise ein wunderbares Portrait von Oskar Kokoschka, der Carl Moll im Alter von 52 Jahren porträtierte. Wir sehen Carl Moll sehr behäbig und mit gewaltigem Bart im Bild sitzen. Durch seine Gesetztheit und seine Inaktivität könnte er auf diesem Bild auch 80 Jahre alt sein. Heute würde sich ein 52-Jähriger nie so porträtieren lassen. Zu Beginn des Jahrhunderts, war Alter eine Qualität, ein Privileg. Innerhalb der Gesellschaft war es zumindest für Männer notwendig, ein bestimmtes Alter zu erreichen, um ein gewisses Standing zu bekommen.
ARTinWORDS: Gleichzeitig kann man mit Sicherheit behaupten, dass für Frauen andere Kriterien gelten!
Sabine Fellner: So ist es. Frauen wurden seit Jahrhunderten sehr stark über ihr Äußeres und ihre Jugendlichkeit definiert. Das hängt uns auch heute noch nach. In die Ausstellung habe ich einige Positionen der Feministischen Avantgarde aufgenommen, die genau an dieser Stelle ansetzen. Die mit ihren Arbeiten bewusstmachen, dass – gerade in Bezug auf Frauen – dieses Jugendlichkeitskriterium noch immer wirksam ist.
ARTinWORDS: Es gibt also zwei Bilder des Alters: ein männliches und ein weibliches Bild – geschlechtsspezifisch getrennt?
Sabine Fellner: Wir haben ein sehr divergierendes Altersbild. In der Ausstellung ist es interessant zu beobachten, dass Künstlerinnen ganz andere Kriterien an das Alter anlegen. Sie schauen hinter die Fassade des biologischen Alters und beschäftigen sich stark mit dem kulturellen Altersbild.
ARTinWORDS: Wie drückt sich das zum Beispiel aus?
Sabine Fellner: Die Feministische Avantgarde habe ich bereits angesprochen: Martha Wilson nimmt mit ihren Arbeiten kritisch, ironisch, aber auch mit sehr viel Witz die Machbarkeit von Jugend mithilfe von kosmetischer Chirurgie auf die Schippe.
ARTinWORDS: Würden Sie sagen, dass es einen markanten Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Künstlern gibt? Mit welchen Methoden und Fragestellungen sie an das hohe Alter herangehen?
Sabine Fellner: Ich glaube, dass Frauen das Alter sehr viel stärker konfrontieren – in all seinen Facetten. Mich hat während der Vorbereitung der Ausstellung das Buch von Ilse Helbich „Schmelzungen“ begleitet, das mich sehr beeindruckt hat. Ilse Helbich hat mit 80 Jahren ihren ersten Roman veröffentlicht. und „Schmelzungen“ in ihren 90ern Sie konfrontiert das hohe Alter, in dem sie sich selbst befindet, mit sehr kühlem Blick, sehr analysiert. Es gelingt ihr wunderbar herauszuarbeiten, welche neuen Kriterien an diesen Lebensabschnitt angelegt werden müssen. Das ist für unsere Gesellschaft äußerst schwierig, denn wir haben keinen Begriffskatalog für das Alter. Das wird uns über unseren momentanen Mainstream nicht übermittelt. Nicht zuletzt dadurch, dass vor allem Frauen sehr viel früher aus der öffentlichen Wahrnehmung ausgefiltert werden – gerade in der Film- und Fernsehbranche.
ARTinWORDS: Ungefähr mit 40 dürfte das der Fall sein.
Sabine Fellner: 40 plus. Bei Männern ist das nicht so. Es gibt eine rezente Studie der Universität Rostock, die das genau untersucht: Ab 50 Jahren kommt in den TV-Sendungen eine Frau auf drei Männer. Uns fehlen die alternden Frauen in der öffentlichen Wahrnehmung.
ARTinWORDS: Die Pflege der Alten ist eine Tätigkeit, die sehr stark in weiblicher Hand liegt. Frauen dominieren die Pflegeberufe und pflegen auch häufiger die eigenen Eltern. Kann man Parallelen dazu auch in der bildenden Kunst sehen?
Sabine Fellner: Ich habe bewusst den Themenkomplex „Krankheit“ aus der Ausstellung herausgenommen. Das Sterben wird schon angesprochen. Natürlich nimmt die Häufigkeit von Krankheitsfällen im Alter zu, aber krank kann man auch als Jugendlicher oder Erwachsener sein – das ist kein spezifisches Kriterium des Alters. Der Umgang mit dem Tod und der Vergänglichkeit bzw. dem Kreislauf des Lebens wird sehr wohl thematisiert und konfrontiert.
ARTinWORDS: Es gibt auch spannende Positionen von Künstlern in der Ausstellung. „Frailty is a Moment of Self Reflection“ von Eric Fischl aus dem Jahr 1996 finde ich persönlich sehr beeindruckend (→ Eric Fischl).
Sabine Fellner: Eric Fischl kommt im Kapitel Zerbrechlichkeit und Verfänglichkeit vor. In diesem Kontext zeige ich auch den „Selbstseher II“ von Egon Schiele.
ARTinWORDS: Warum eigentlich? Das überrascht mich. Schiele ist mit 28 Jahren doch sehr jung verstorben.
Sabine Fellner: Der „Selbstseher“ ist ein Selbstporträt Schieles, hinter ihm steht der Tod. Im selben Kapitel stelle ich eine Arbeit von Birgit Jürgenssen „Mädchen und Tod“ gegenüber: Die junge Frau tanzt mit dem Tod. Die Auseinandersetzung mit dem Tod konfrontieren Künstlerinnen und Künstler oft sehr jung. Sich mit der Vergänglichkeit des Lebens auseinanderzusetzen beschäftigt Künstler seit jeher. Roman Opałka hat obsessiv das Fortlaufen der Zeit protokolliert, indem er ab 1965 eine fortlaufende Zahlenreihe auf Leinwand bannt und parallel dazu in seinen Selbstporträts. Er fotografiert sich täglich mit demselben Gesichtsausdruck und hält schonungslos seinen Alterungsprozess fest. Ihm stelle ich eine Serie von Selbstporträts von Käthe Kollwitz gegenüber. Selbstporträts von Künstlerinnen und Künstlern, die sich ihr Leben lang selbst beobachten, hat ja Tradition. Kollwitz ist aber eine der ersten Frauen, die das so konsequent, ehrlich und schonungslos durchgeführt hat.
ARTinWORDS: In welche anderen Kapitel haben Sie die Ausstellung noch geteilt? Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit haben Sie schon erwähnt.
Sabine Fellner: Was mich interessiert hat, ist, dass wir im Moment kein Empfinden dafür haben, dass auch ein alter Körper ästhetisch sein kann. Um 1900 hat Gustav Klimt mit den Universitätsbildern mit der Darstellung eines alten nackten Mannes Entrüstungsschreie ausgelöst und auch eine Diskussion über das Schöne in der Kunst. In der Ausstellung wird eine Arbeit von Herlinde Koelbl zu sehen sein, die eine nackte, alte Frau fotografierte. Sie hat einen ganz neuen ästhetischen Zugang zum Alter und zum alternden Körper. Nicht den traditionellen Zugang, den wir aus der Kunstgeschichte kennen, in dem Alter immer nur als Elend, als Synonym für Verfall und Schwäche dargestellt wird.
ARTinWORDS: In diese Kategorie fällt auch das Plakatmotiv mit einer Fotografie von Joyce Tenneson?
Sabine Fellner: Genau! Tenneson hat betagte Frauen jenseits von Botox und Lifting fotografiert. Sie präsentieren selbstbewusst die Spuren des Alterungsprozesses.
ARTinWORDS: Das scheint in Zukunft eine bedeutende gesellschaftliche und persönliche Frage zu sein, wie man selbst mit seinem alternden Körper umgeht. Wie viel investiert man in Chirurgie oder Cremes – das ist natürlich auch eine Frage des Geldes.
Sabine Fellner: Selbstverständlich. Es ist ganz klar, dass man gerade in Bezug auf chirurgische Unterstützung das nötige finanzielle Kapital braucht.
ARTinWORDS: Welche positiven Aspekte haben Sie in Hinblick auf das hohe Alter noch herausdestilliert?
Sabine Fellner: Es geht natürlich auch um Einsamkeit, die einerseits ein Problem im Alter darstellt, aber auf der anderen Seite hat Einsamkeit auch durchaus etwas Positives. Alte Menschen haben von sich aus das Bedürfnis, sich ein bisschen zurückzunehmen und mit sich selbst allein zu sein. Das Thema Verbundenheit der Generationen ist ebenfalls wichtig, weil alte Leute aus den sozialen Netzen herausgedrängt werden oder herausfallen. Sie werden abgesondert und in Altenheime abgeschoben, nicht integriert. Ein wichtiger Beitrag dazu ist „OMSCH“ von Edgar Honetschläger. Er beschreibt seine Freundschaft als junger Mann mit seiner hochbetagten Nachbarin. Es ist ein kurzgeschnittenes Format des Kinofilms in der Ausstellung zu sehen. Während der Ausstellung wird der gesamte Film auch im Blickle Kino gezeigt.
ARTinWORDS: Thematisieren Sie den Verlust der Erinnerung auch? Demenz ist eine große Frage in der aktuellen Diskussion.
Sabine Fellner: Ja, das wird auch angesprochen. In einer Arbeit von Regina Hügli, die Demenzkranke in einer sehr einfühlsamen, respektvollen Art porträtiert hat. Ein wichtiges Thema sind auch Kontemplation und Muße, die ganz neue Möglichkeiten bieten, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Die Sinneswahrnehmung wird für, unspektakuläre Dinge geschärft. Ilse Helbich beschreibt, dass sie noch nie in ihrem Leben so glücklich war wie jetzt, wenn sie auf ihrer Gartenbank sitzt und den Wolken zusieht, wie sie vorbeiziehen. Also ein ganz neues Glück und eine neue Befriedigung, die aus alltäglichen Dingen gezogen werden.
ARTinWORDS: Offenbar hat es viel damit zu tun, wie wir in der westlichen Welt das Leben zu gestalten pflegen. Nämlich vielen Dingen hinterherzulaufen und etwas erledigen wollen. Es erinnert an das Konzept des Zen-Buddhismus, das Meditative und Sich-treiben-lassen.
Sabine Fellner: Das ist eine neue Kraft und Stärke des Alters: dass man sich aus dem Leistungsdruck herausnehmen und das Hiersein stärker visualisieren und verinnerlichen kann.
ARTinWORDS: Es gibt in der Kunstgeschichte den immer wieder diskutierten Begriff des Alterswerks. Ich frage mich immer, wie alt man werden muss, um ein Alterswerk zu entwickeln. Darauf habe ich noch keine Antwort gefunden. Glauben Sie, dass sich Kunstwerke, die jenseits des 80sten Lebensjahrs entstehen, von Arbeiten jüngerer Kreativer unterscheiden können?
Sabine Fellner: Ich glaube, dass es ganz schwer ist, das zu generalisieren. Das ist von Fall zu Fall sehr unterschiedlich.
ARTinWORDS: Ein anderes Thema in der Ausstellung ist Sexualität/Erotik im Alter. Warum haben Sie sich entschlossen?
Sabine Fellner: Es gibt ein zentrales, sehr wichtiges Kapitel, das sich damit beschäftigt, dass Alter durchaus eine neue Freiheit beinhaltet. Alter ermöglicht den Menschen sehr viel stärker jenseits gesellschaftlicher Konventionen zu leben und zu agieren.
ARTinWORDS: Weil es keine Regeln dafür gibt?
Sabine Fellner: Weil man das Ganze gelassener sieht und man unabhängiger von gesellschaftlichen Diktaten ist. In diesem Kapitel ist John Coplans „untergebracht“, der gegen jede Konvention sehr selbstbewusst und monumental den Verfall seines Körpers in Szene setzt. In dieses Kapitel habe ich als Auftakt das Tanztheaterstück von Pina Bausch „Kontakthof mit Damen und Herren ab 65“ aufgenommen. Sie hat diese Produktion zunächst mit jungen Tänzerinnen und Tänzern realisiert und Jahre später per Zeitungsanzeige Damen und Herren ab 65 gesucht. Mit diesen älteren Herrschaften hat sie das Stück re-inszeniert. Ihr ging es darum zu zeigen, dass sexuelles Begehren letztendlich kein Alter kennt. Das ist in unserer Gesellschaft ein ganz großes Tabu-Thema.
ARTinWORDS: Auf der anderen Seite soll es im Altersheim ja besonders wild zugehen, weil die Gefahr der Reproduktion ausgeschalten ist.
Sabine Fellner: Ganz konkret auf das Thema Sexualität im Alter bezogen wird es eine Arbeit von Margot Pilz zu sehen geben: „Membrana“ ist ein Video, in dem sie ihr Liebesleben thematisiert. Es ist eine sehr poetische und berührende Arbeit. Auch „Loveage“ von Carola Dertnig geht darauf ein, dass sexuelles Begehren und Träumen kein Alter kennt. Sie interviewt ihre Großmutter im Alter von 86 Jahren, die über einen Traum erzählt. Sie geht im Wald spazieren und ein schöner junger Mann begegnet ihr und küsst sie. Dann wacht sie auf und ist mit der Realität konfrontiert. In diesem Kapitel thematisiere ich auch, dass Frauen ab 50 in unserer Gesellschaft unsichtbar werden. Die Filmtheoretikerin Beate Hofstadler hat einen Beitrag für den Ausstellungskatalog geschrieben. Anhand des Films „Giulias Verschwinden“ analysiert sie den Umgang mit Alter im Film und wie eine Frau ab 50 in der Öffentlichkeit nicht mehr wahrgenommen wird. Ines Doujak hat 2005 in Salzburg mit ihrer Performance „Dirty Old Women“ eine fantastische Gegenoffensive dazu gestartet, die wir in der Ausstellung dokumentieren: Es wird ein Videomitschnitt zu sehen sein und eines der Kostüme, die die Damen über 60 vorgeführt haben.
ARTinWORDS: Wie definiert sich eine „dirty old woman“?
Sabine Fellner: Ich glaube, es geht hier genau darum, dass eine Frau ab 50 nicht mehr als erotisches Wesen wahrgenommen wird.
ARTinWORDS: Dass sie kein Objekt der Begierde mehr ist?
Sabine Fellner: Genau. Es ist interessant zu beobachten, dass sich gerade Amerikanische Künstlerinnen mit diesem Thema sehr intensiv auseinandersetzen. Joan Semmel, inzwischen in ihren 80ern, porträtiert sich in einer rezenten Arbeit selbst nackt. Aleah Chapin ist in ihren 30ern. Ihr Gemälde „The Last Droplets of the Day“ ist riesig – zwei mal drei Meter groß. Dieses Bild wird insofern polarisieren, weil es eine Gruppe von Frauen nackt zeigt, die um die 70 Jahre alt sind. Aleah Chapin scheut nicht davor zurück, graues Haar und welkes Fleisch in Szene zu setzen. Es entsteht kein Bild der Hinfälligkeit, sondern ein Bild der Stärke, Vitalität, Verbundenheit und Lebensfreude. Es ist ein großartiges Werk, das alte Frauen, die man sich in unserer Gesellschaft eher im Kaffeehaus sitzend vorstellt, in einem komplett neuen Setting zeigt.
ARTinWORDS: Gleichzeitig zeigen Sie auch Künstler in der Ausstellung wie Alfred Hrdlicka mit seinen Sex-Fantasien.
Sabine Fellner: Wir haben bislang hauptsächlich über die weibliche Strategie, dem Alter zu entkommen, gesprochen. Das wird sehr stark über das äußere Erscheinungsbild gespielt. Bei den Männern verhält es sich ein bisschen anders. Sie versuchen dem Alter mit dem Wunsch nach ewiger Potenz und Virilität zu entkommen. Das Thema hat eine lange Tradition und wird in der bildenden Kunst häufig mit alten Männern, die sich mit jungen Frauen umgeben, visualisiert. Dazu zeige ich Arbeiten von Toulouse-Lautrec, George Grosz und Alfred Hrdlicka. Eine wunderbare, große Arbeit zu diesem Thema stammt von Johannes Grützke: „Vier alte Männer von einer Frau durchwoben“. Man sieht auf dem Gemälde vier alte Männer, teilweise auf den Stock gestützt, die eine junge Frau balancieren. Grützke fängt den Balanceakt wunderbar ein, den es für Männer bedeutet, sich mit einer jungen Frau einzulassen. Das ist ja nicht ganz unanstrengend. In der Ausstellung werden die weiblichen und die männlichen Strategien im Umgang mit dem Alter einander gegenübergestellt:
ARTinWORDS: Dennoch scheint mir, dass es Männer bis heute leichter haben – zumindest die mächtigen alten Männer.
Sabine Fellner: Dieser Jagd nach der Jugend wird die Kraft und die Macht des Alters gegenübergestellt. Die mächtigen alten Männer, die in vorderster Reihe stehen und die Jungen in der zweiten Reihe halten. Dazu gibt es eine wunderbare Arbeit von Tina Barney zu sehen.
ARTinWORDS: Es gibt deutlich mehr alte mächtige Männer als alte mächtige Frauen. Was würden Sie einer Frau 40 bis 50 plus raten? Wie schafft man es dieser Unsichtbarkeit zu entkommen? Welche Vorbilder bieten Sie in der Ausstellung an?
Sabine Fellner: Sich bewusst zu machen, dass Alter eine kulturelle Konstruktion ist, und es in unserer Hand liegt, daran zu arbeiten, die gegenwärtige Definition von Alter kritisch zu hinterfragen – das ist der erste Schritt. Man muss erkennen, welche Mechanismen dahinterstehen. Der Jugendkult hat auch eine ökonomische Seite, es ist ein riesiges Geschäft. Es bedeutet allerdings sehr viel Mut sich dem als Frau zu verweigern, sich dem Altern zu stellen. In der Ausstellung sind Frauen zu sehen, die diesen Mut aufbringen.
Tina Barney, Max Beckmann, Werner Berg, Renate Bertlmann, Herbert Boeckl, Eva Brunner-Szabo, Aleah Chapin, Heinz Cibulka, John Coplans (→ John Coplans: Körper als Protest), Lovis Corinth, Edgar Degas, Carola Dertnig, Sepp Dreissinger, Michael Endlicher, Eric Fischl, Josef Floch, Lucian Freud, Adolf Frohner, George Grosz, Johannes Grützke, Barbara Klemm, Heidi Harsieber, Alfred Hrdlicka (→ Alfred Hrdlicka), Regina Hügli, Birgit Jürgenssen, Alex Katz (→ Alex Katz), Anastasia Khoroshilova, Gustav Klimt, Herlinde Koelbl, Anton Kolig (→ Anton Kolig: Werk und Leben), Broncia Koller, Käthe Kollwitz, Oskar Kokoschka, Nikolaus Korab, Nina Kovacheva, Brigitte Kowanz (→ Brigitte Kowanz: „Das Licht ist einerseits Grundlage der Sichtbarkeit und andererseits Symbol der Erkenntnis“), Maria Lassnig, Annie Leibovitz, Karin Mack, Karl Mediz, Elfriede Mejchar, Ishiuchi Miyako, Marie Louise von Motesiczky, Ron Mueck (→ Ron Mueck „Man in a Boat“ im Theseustempel), Shirin Neshat, Roman Opałka, Martin Parr, Ewa Partum, Pablo Picasso, Margot Pilz, Arnulf Rainer (→ Arnulf Rainer), Paula Rego, Egon Schiele, Claudia Schumann, Joan Semmel, Cindy Sherman, Fritz Simak, Kiki Smith, Annegret Soltau, Margherita Spiluttini, Evelin Stermitz, Fiona Tan (→ Fiona Tan. Geografie der Zeit), Juergen Teller, Joyce Tenneson, Henri de Toulouse-Lautrec, Rosemarie Trockel, Spencer Tunick, Nurith Wagner-Strauß, Jeff Wall, Max Weiler (→ Max Weiler. Die Natur der Malerei), Rebecca Warren, Todd Weinstein, Nives Widauer, Martha Wilson und Herwig Zens