0

Turin: Leonardo. Zeichnungen für die Zukunft Einziges Selbstporträt, Kopfstudie eines Mädchens und der Codex über den Vogelflug

Leonardo da Vinci, Kopf eines alten Mannes, Selbstporträt (?), Detail, 1515/16, rote Kreide (Biblioteca Reale, Turin)

Leonardo da Vinci, Kopf eines alten Mannes, Selbstporträt (?), Detail, 1515/16, rote Kreide (Biblioteca Reale, Turin)

Die Biblioteca Reale in Turin besitzt dreizehn Zeichnungen von Leonardo da Vinci – darunter das berühmte „Selbstporträt“ und die zauberhafte „Kopfstudie eines Mädchens“. König Carlo Alberto erwarb die kostbaren Blätter 1840. Teodoro Sabachnikoff schenkte 1893 König Umberto I. den Codex über den Vogelflug [Codice sul volo degli uccelli, Codex Turin]. Die Ausstellung in den Musei Reali kreist mit etwa 50 Werken um den Turiner Bestand an Leonardo-Zeichnungen sowie die Recherche über das Flugverhalten samt Versuch, ein Fluggerät zu konstruieren.

Leonardo in Turin

Alle Leonardo-Werke in Turin sind zwischen 1480 und 1515 zu datieren und dokumentieren mit ihrer Vielfalt an Themen und Funktionen die verschiedenen Interessensgebiete wie Aufgabenbereiche des Künstlers von dessen Jugend bis ins reife Alter. Einige Zeichnungen entstanden in Verbindung mit bekannten und vielgerühmten Werken des Renaissance-Meisters: Akte für die „Schlacht von Anghiari“, Pferde-Studien für die Denkmäler Sforza und Trivulzio, die außergewöhnlich idealisierte Kopfstudie eines Mädchens für den Engel in der „Felsgrottenmadonna“. Das Hauptwerk ist aber zweifellos das „Bildnis eines alten Mannes“ (1515/16), das für das einzige authentische Selbstporträt Leonardos gehalten wird.

Die Entstehung der Turiner Zeichnungen wird im Verhältnis zu ähnlichen Werken anderer Künstler untersucht – von Andrea del Verrocchio bis Pollaiolo, von Michelangelo Buonarroti bis Raffael, bis zu den Lombardischen Malern Bramante und Boltraffio. Der Vergleich mit seinen Zeitgenossen und Nachfolgern macht schnell deutlich, was die Besonderheit von Leonardos Werk ist.

Der erste Teil des Ausstellungsrundgangs ist in sechs Kapitel unterteilt, die Schlüsselthemen und -erfahrungen aller Renaissance-Künstler vorstellen:

  • das Erbe der antiken Kunst;
  • die Erforschung der Anatomie und der Proportionen des menschlichen Körpers;
  • der Paragone, d.h. der Wettkampf zwischen Kunst und Poesie;
  • das Selbstporträt;
  • das Studium von Gesichtern
  • die Herausforderung, Emotionen darzustellen (siehe dazu die Ausstellung: Leonardo im Teylers Museum).

Der Codex über den Vogelflug

Leonardos Studien des Vogelflugs und das bisher unerforschte Thema „Leonardo und der Piemont“, für das die in den Schriften Leonardos genannten Orte erstmals analysiert werden. Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit dem Piemont ist das Blatt „Naviglio di Ivrea“ aus dem Codex Atlantico.

Der Codex über den Vogelflug (Codice sul volo degli uccelli) ist unter der Signatur Varia 95 in der Bibliotheca Reale in Turin verwahrt. Leonardo beschrieb das kleinformatige, etwa 15 × 21 cm große Heft mit seinen Studien über den Vogelflug in Spiegelschrift. Dazu fügte er auch noch Illustrationen. Leonardos „bionische“ Studien münden in dessen Versuch, ein Fluggerät zu konstruieren und Flugversuchen am Monte Ceceri bei Florenz. Allerdings war es nicht Leonardo selbst, der sich mit der neuartigen Maschine in den Himmel stürzte, sondern dessen Mitarbeiter Tommaso Masini. Da die menschliche Muskulatur im Vergleich zum Gewicht des Menschen zu schwach entwickelt ist, misslang das Experiment und Masini brach sich ein Bein und mehrere Rippen.

Im Jahr 1893 schenkte der russische Sammler Fiodor Sabachnikoff das unvollständige Manuskript König Umberto I.; nach 1920 stellte man es mit den drei fehlenden Blättern, die der Genfer Henri Fatio an Königin Margherita geschenkt hatte, neu zusammen.

Leonardos Selbstporträt

Ein besonderer Schatz der Biblioteca Reale ist das „Bildnis eines alten Mannes“ (1515/16) aus der ehemaligen Sammlung von Giovanni Volpato, das für das einzige authentische Selbstporträt Leonardos gehalten wird. Die sehr präzise Zeichnung eines faltigen Gesichts entstand während Leonardos Dienst für Franz I. von Frankreich. Am unteren Rand des Blatts findet sich die Bezeichnung „Leonardus Vincius Ritratto di se stesso assai vechio“, die nicht von Leonardo selbst geschrieben wurde.

Die Zeichnung zeigt das Gesicht eines reifen Mannes mit langen, weißen Haaren, langem Bart, Halbglatze, leicht hängenden Mundwinkeln. Der strenge Blick ist nach recht gerichtet, aus dem Gesicht lässt sich Ernsthaftigkeit oder auch Nachdenklichkeit ablesen. Tiefe Falten zeugen von einem erfahrungsreichen Leben.

Neben der Identifikation des Bildnisses als Selbstporträt Leonardos wird in der Literatur die Deutung der Zeichnung als Bild eines antiken Philosophen (von Pythagoras bis Demosthenes) oder von Leonardos Vater, Piero da Vinci, diskutiert. Dennoch steht das Abbild heute weltweit als Synonym für den Wissenschaftler und Künstler Leonardo – ist quasi dessen „Marke“.

Kopfstudie eines Mädchens

Nach dem „Selbstporträt“ ist die „Kopfstudie eines Mädchens“ das berühmteste Leonardo-Blatt der Biblioteca Reale von Turin. Der berühmte Kunsthistoriker Bernard Berenson bezeichnete es 1952 als das schönste, gezeichnete Porträt auf der Welt.

Leonardo zeichnete meisterhaft ein Mädchen, das über seine linke Schulter aus dem Bild herausschaut. Trotz der Einschränkungen durch den Silberstift und einigen wenigen Korrekturen an den Konturen von Hals, Kinn und auf der rechten Seite des Gesichts wirkt das idealisierte Bildnis perfekt. Der Maler konzentrierte sich ganz auf die Durcharbeitung der Gesichtsformen und des Blicks, indem er mittels Schatten Volumen andeutete und die Höhungen mittels Weiß herausarbeitete. Die Formen der Mütze, Haare, Schulter und Kleidung werden nur mit wenigen Linien umrissen.

Normalerweise stellte Leonardo weibliche Köpfe im Profil dar. Vielleicht kam er auf die Idee für diese außergewöhnliche Pose – schräg von hinten und mit dem Gesicht in Richtung der Betrachter, weil er Figuren in Werken des Florentiner Malers Fra Filippo Lippi (1406–1469) studierte. Lippis „Madonna und Kind mit zwei Engeln“ (um 1460–1465, Uffizien) zeigt einen ähnlich angeordneten Engel. Auch in den Werken von Andreal del Verrocchio, Leonardos Lehrmeister, finden sich solche die Außenwelt und das innerbildliche Geschehen miteinander verbindende Figuren (z.B. die „Taufe Christi“, an der Leonardo mitarbeitete).

Um 1490 malte Leonardo da Vinci das Porträt von Cecilia Gallerani (1473–1536 → Leonardos „Dame mit dem Hermelin“ bleibt in Polen), der Geliebten von Ludovico Sforza. Sie ähnelt dem Mädchenkopf und zeigt in ihrem Porträt eine ähnliche Spannung zwischen Kopf und Oberkörper.

Leonardo Zeichnungen in Turin: Bilder

  • Leonardo da Vinci, Kopfstudie eines Mädchens mit Schultern, Dreiviertel nach links, um 1490, Silberstift, weiße Höhung auf Papier mit blass ocker-gelb Grundierung, 18,1 x 15,9 cm (Biblioteca Reale, Turin, Inv. 15572)
  • Leonardo da Vinci, Büste eines Männeraktes mit Lorbeerkranz, der Kopf im Profil nach rechts, um 1508/09, Rote Kreide mit Feder und Tinte, 16,8 x 12,5 cm (Biblioteca Reale, Turin, Inv. 15575)
  • Leonardo da Vinci (zg.), Kopf eines alten Mannes, ganzes Gesicht, um 1510, Rote Kreide auf Papier mit roter Grundierung, 19 x 13 cm (Biblioteca Reale, Turin, Inv. 15585 D.C.)
  • Leonardo da Vinci, Kopf eines alten Mannes, Selbstporträt (?), Detail, 1515/16, rote Kreide (Biblioteca Reale, Turin)

Beiträge zu Leonardo da Vinci

9. April 2024
Musizierender Engel

Mailand | Castello Sforzesco: Rötelstift-Zeichnungen von Leonardo bis zu den Akademien Formen und Funktionen des Zeichnens in Rot | 2024

28. Mai 2023
Leonardo da Vinci, Hl Anna Selbdritt, sog. Burlington House Karton, Detail, 1500–1508, Kohle und Kreide auf Karton, 1,42 x 1,05 m (The National Gallery, London)

London | Royal Academy: Michelangelo, Leonardo, Raffael Florenz, um 1504 | 2024/25

Florenz, um 1504: Michelangelos Tondo Taddei, Leonardos Burlington House Karton - ihre Rivalität und ihre Einfluss auf den jungen Raffael.
28. Februar 2023
Antico, Büste des Marc Aurel, Detail, um 1500, Bronze, vergoldet, 72,5 x 60,0 cm (LIECHTENSTEIN. The Princely Collections, Vaduz–Vienna, Inv.-Nr. SK 1630)

Wien | Gartenpalais Liechtenstein: Bronzen der Fürsten von Liechtenstein Gegossen für die Ewigkeit | 2023

Die Fürstlichen Sammlungen beherbergen einige der kostbarsten Bronzeplastiken vom 15. bis zum 19. Jahrhundert. Im März 2023 werden sie mit hochkarätigen Leihgaben aus den weltweit bedeutendsten Bronzesammlungen ergänzt.
10. Oktober 2022

Wien | KHM: Idole & Rivalen. Künstler:innen im Wettstreit Konkurrenz in Renaissance und Barock | 2022

Ausstellung zum paragone (dt. Künstlerwettstreitt) in Renaissance und Barock mit Meisterwerken von Leonardo, Michelangelo, Dürer, Tizian, Lavinia Fontana, Sofonisba Anguissola bis Peter Paul Rubens und vielen mehr.
29. September 2021
Leonardo da Vinci-Werkstatt, Mona Lisa, Detail, 1507/8–1513/16, Öl/Holz, 76.3 x 57 cm (Museo Nacional del Prado, Madrid)

Madrid | Prado: Leonardo und die Kopie der Mona Lisa Neue Erkenntnisse zur Werkstatt-Praxis

Der Prado besitzt eine Kopie des sanft lächelnden Frauenporträts, das jüngst als Arbeit der Leonardo-Werkstatt erkannt wurde. Kunsttechnologische Untersuchungen offenbarten, dass es sich sogar um die älteste Kopie der „Mona Lisa“ handelt.
21. November 2020
Leonardo da Vinci, Kopf eines alten Mannes, Selbstporträt (?), Detail, 1515/16, rote Kreide (Biblioteca Reale, Turin)

Leonardo da Vinci: Biografie Lebenslauf des berühmten Renaissance-Malers, Forschers und Erfinders

Lebenslauf (Biografie) und berühtmeste Werke des Renaissance-Malers, Forschers und Erfinders Leonardo da Vinci.

Aktuelle Ausstellungen

11. April 2024
Roy Lichtenstein, Wir standen langsam auf, 1964, Öl und Acryl auf Leinwand, 173 × 234 cm (MUSEUM MMK FÜR MODERNE KUNST, Frankfurt, Ehemalige Sammlung Karl Ströher, Darmstadt (DE) © Estate of Roy Lichtenstein/Bildrecht, Wien 2024)

Wien | Albertina: Roy Lichtenstein Zum 100. Geburtstag | 2024

Die Ausstellung stellt die wichtigsten Etappen von Lichtensteins abwechslungsreichem Werk von den frühen 1960er Jahren bis zum Spätwerk vor.
10. April 2024
Georg Baselitz in Colmar, 6.6.2018, Foto Alexandra Matzner

London | White Cube Bermondsey: Georg Baselitz A Confession of My Sins | 2024

Georg Baselitz kehrt zum ersten Mal seit acht Jahren in die White Cube Bermondsey zurück und präsentiert eine Auswahl neuer Gemälde.
9. April 2024
Paul Cézanne, Drei Badende, 1874-1875 (Musée d'Oesay, Paris)

Mailand | Palazzo Reale: Cézanne / Renoir Hauptwerke aus dem Musée de l’Orangerie und Musée d’Orsay | 2024

Im Palazzo Reale in Mailand dokumentieren 52 Meisterwerke das Leben zweier Maler, die zur Geburt einer der unglaublichsten Bewegungen der Kunstgeschichte beigetragen haben, dem französischen Impressionismus.
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.