Charlotte Posenenske
Wer war Charlotte Posenenske?
Charlotte Posenenske (geb. Mayer, Wiesbaden 28.10.1930–3.10.1985 Frankfurt am Main) war eine deutsche Malerin und Bildhauerin des Minimalismus und der Konzeptkunst (→ Minimal Art | Minimalismus). Obschon die Künstlerin 1968 ihr künstlerisches Werk aufgab, übte sie einen großen Einfluss auf die deutsche Kunst der 1970er Jahre aus. Heute wird sie nicht nur als wegweisende Protagonistin der Minimal Art und Konzeptkunst gewürdigt, sondern gleichzeitig der radikal konsequente, partizipatorisch verstandene Ansatz ihrer späten Arbeiten und ihr damit verbundenes sozial und gesellschaftspolitisches Interesse ins Zentrum gestellt.
„Die Gegenstände sollen den objektiven Charakter von Industrieprodukten haben.
Sie sollen nichts anders vorstellen, als sie sind. Die bisherige Einteilung der Künste existiert nicht mehr: Der Künstler der Zukunft müßte mit einem Team von Spezialisten in einem Entwicklungslabor arbeiten.“1 (Charlotte Posenenske, 1968)
Kindheit
Charlotte Posenenske wurde als Charlotte Mayer am 28. Oktober 1930 in Wiesbaden geboren. Als Tochter eines jüdischen Vaters, der 1940 aus Angst vor Verfolgung Suizid beging, überlebte sie die letzten Monate des Zweiten Weltkriegs in einem Versteck. Nach 1945 arbeitete sie im Malersaal des Hessischen Staatstheaters in Wiesbaden.
Ausbildung
Nach dem Abitur im Jahr 1951 begann Charlotte Mayer ein Studium bei Willi Baumeister an der Stuttgarter Kunstakademie. Daneben arbeitete sie mit Baumeister an Bühnenbildern im Landestheater Darmstadt (heute: Staatstheater Darmstadt). Ihr Lehrer sensibilisierte sie zudem für die gesellschaftliche Funktion von Kunst.
Bühnen- und Kostümbildnerin in Lübeck und Darmstadt
1952 begann Charlotte Prosenenske ein Studium als Kostüm- und Bühnenbildnerin in Lübeck. Nach drei Jahren kehrte sie, vermittelt durch ihren Lehrer Willi Baumeister, an das Landestheater Darmstadt zurück. Die Arbeit am Theater und die Auseinandersetzung mit der Bühnenarchitektur hatten großen Einfluss auf ihr künftiges künstlerisches Werk. In den Erfahrungen dieser Zusammenarbeit wurzelt ihr partizipativer Kunstbegriff und ihre Überzeugung, dass Kunst eine kollektive Leistung sei. 1956 wandte sich Posenenske jedoch erneut der Malerei zu.
Frühe Werke
Ihre künstlerische Entwicklung begann Ende der 1950er Jahre mit Gemälden, die Reliefcharakter hatten. Dafür spachtelte sie mit Öl- oder Acrylfarbe auf Papier oder Hartfaserplatte. Sie arbeitete mit seriellen Strukturen, Rastern und Punkten. 1959 zeigte Charlotte Posenenske Bilder aus Klebestreifen in einer Gruppenausstellung, 1961 folgte ihre erste Einzelausstellung bei Dorothea Loehr in Frankfurt. Im gleichen Jahr lernte Posenenske 1961 den Künstler Peter Roehr (1944–1968) im Umfeld der Frankfurter Kulturszene kennen. Posenenske war auch mit Thomas Bayrle (*1937) und dem späteren Kunsthändler Paul Maenz befreundet.
Beschäftigung mit dem Minimalismus
Im Jahr 1965 reiste sie mit ihrem Mann, dem Architekten Paul Friedrich Posenenske (1919–2004), nach New York, wo sie Ausstellungen von Künstler:innen der Minimal Art sah. Aus dieser Erfahrung zog sie Anregungen für ihr weiteres plastisches Werk. Danach griffen ihre „Plastischen Bilder“, mit grau gespritztem Alublech gefertigt, bereits in den Raum hinein, ab 1966 folgten ihnen plastischen Arbeiten.
Plastische Bilder
Ab 1965 begann sich Charlotte Posenenske zunehmend für konzeptionelle Arbeits- und Produktionsmethoden zu interessieren. Sie beschäftigt sich mit „Plastischen Bildern“ – dreidimensionalen, gewölbten oder gefalteten Papieren und Blechen. Sie entwickelt sie zu modularen skulpturalen Einheiten weiter, die eine massenhafte industrielle Fertigung ermöglichen. Mit den Reliefs der „Serien A“, „B“ und „C“, den „Vierkantrohren D“ und „DW“ sowie den „Drehflügeln Serie E“ entstand zwischen 1966 und 1968 in nur zwei Jahren Posenenskes Hauptwerk. Um die kommerziellen Mechanismen des Kunstmarkts zu unterwandern, legte sie fest, dass die „Serien B“ bis „E“ in unbeschränkter Auflage produziert und zum Selbstkostenpreis verkauft werden dürfen (bis heute). Damit steht Posenenskes Werk in der Traditionen der konkreten Kunst, des Minimal und nimmt konzeptuelle Tendenzen der 1960er Jahre auf.
Posenenske fertigte ihre Raumskulpturen mit scheinbar industriell hergestellten Elementen, wie Winkelblechen, Wellpappe, Vierkantrohren und Spanplatten, die sich meist variabel gestalten ließen und jede künstlerische Subjektivität ausblendeten. So ähneln die „Vierkantrohre Serie DW“ von 1967 (Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main), bestehend aus drei gleichen Sätzen zu je vier Elementen, der Lüftungsanlage einer Produktionshalle, die an Falzen verschraubt, beliebig variiert werden können. Posenenskes Anliegen war es, das traditionelle, autonome Kunstwerk durch ein industrielles Artefakt zu ersetzen, das sich in großer Auflage günstig herstellen ließ. Es sollte allein durch die Herauslösung aus seiner unmittelbaren, alltäglichen Funktion als ein ästhetischer Gegenstand erkennbar sein. Charlotte Posenenske präsentierte 1967 erstmals ihre Plastiken aus „Vierkantrohren der Serie D“2 im Untergeschoss des alten Zollamts in Schwenningen. Dort befand sich seit 1965 die von dem Künstler Felix Schlenker und dem Architekten Karl Heinichen begründete kleine galerie mit einem avantgardistischen Programm.
Das 1967/68 entstandene Objekt „Drehflügel Serie E“ (Tate Gallery, London) – ihr letztes Werk – besteht aus einfachen Materialien wie Blechplatten, Rohren und Spanplatten. Sechs große, völlig plane Türflügel sind auf einer quadratischen 2 × 2 m großen Bodenplatte in Achsen beweglich gelagert und können vom Betrachtenden, dem „Konsumenten“, in ihrer Stellung sowohl zu einem geschlossenen Raum bis hin zu einem Flügelobjekt, beliebig verändert werden.
Ihre Werke aus der plastischen Periode 1966 bis 1968 bestanden bewusst aus billigen, industriellen Materialien. Charlotte Posenenske ließ sie in Serie herstellen und verkaufte sie zum Selbstkostenpreis, um den Warencharakter der Kunst hervorzuheben; sie dachte sogar an die Möglichkeit einer Massenproduktion.3 1967 hatte Posenenske eine Ausstellung in der kurz zuvor eröffneten Galerie von Konrad Fischer in Düsseldorf. Auf Erlöse aus der Kunst war sie jedoch dank des Erbes eines vermieteten Wohnhauses nicht angewiesen.
Zeichnungen
In Posenenskes Werk nehmen Zeichnungen, meist als Entwurfszeichnungen für Skulpturen und Rauminstallationen, aber auch als autonome Arbeiten auf Papier eine besondere Rolle ein. In den in den 1965er Jahren ausgeführten kleinformatigen Streifenbildern erprobte sie die ästhetische Wirkung einfacher, billiger Materialien, wie farbige Klebebänder, dicke Filz- oder Fettkreidestifte auf weißen, quadratischen Flächen. Diese Arbeiten tragen, im Gegensatz zu ihren Skulpturen, durch die deutlichen Spuren ihrer Herstellung die individuelle Handschrift der Künstlerin. Die Streifenbilder verbinden sich formal mit ihrem 1968 unter Mitwirkung von Peter Roehr und Paul Maenz produzierten Film in Super-8-Format4, der in kurzen Einstellungen Impressionen einer Fahrt durch Holland zeigt.
Soziologie
Trotz ihres unmittelbar bevorstehenden internationalen Durchbruchs rang Charlotte Posenenske zunehmend mit der gesellschaftlichen Relevanz von Kunst.
„Obwohl die formale Entwicklung der Kunst in immer schnellerem Tempo weitergegangen ist, ist ihre gesellschaftliche Funktion verkümmert.
Kunst ist eine Ware von vorübergehender Aktualität, aber der Markt ist winzig und Ansehen und Preise steigen, je weniger aktuell das Angebot ist.
Es fällt mir schwer, mich damit abzufinden, daß Kunst nichts zur Lösung drängender gesellschaftlicher Probleme beitragen kann.“5 (Charlotte Posenenske, 1968)
Im Alter von 38 Jahren gab Charlotte Posenenske ihre künstlerische Tätigkeit schließlich vollständig auf und studierte Soziologie mit dem Schwerpunkt auf industriellen Produktions- und Arbeitsbedingungen. Bis zu ihrem Tod im Jahre 1985 war sie in sozialen Projekten tätig. Ab 1968 lebte und arbeitete sie mit dem Publizisten Burkhard Brunn (1936–2021) zusammen, der bis zu seinem Tod auch ihren Nachlass verwaltete.
Tod
Charlotte Posenenske starb am 3. Oktober 1985 in Frankfurt am Main.
Nachdem ihr Werk zunächst in Vergessenheit geriet, wurde Charlotte Posenenske von der Öffentlichkeit und einer jungen Künstler:innengeneration auf der Documenta 12 von 2007 wiederentdeckt.
Nachlass
Ihr Nachlassverwalter Burkhard Brunn (1936–2021) setzte diese Überzeugung fort. Er produzierte nach Bedarf weitere Exemplare ihrer Werke und verkaufte sie zum Galeriepreis aus Herstellungskosten plus Kommunikation etc. aber ohne Gewinnspanne. Eine Wertsteigerung kann deshalb kein Sammler erwarten, da entsprechend der Nachfrage jederzeit neue Exemplare gefertigt werden können. Brunn schenkte 2011 dem Museum für Moderne Kunst (MMK) in Frankfurt am Main 50 Werkstücke der Künstlerin aus dem Jahre 1967, welches somit eine der größten Werkgruppen Posenenskes besitzt.
Aktuell wird Posenenskes Nachlass von der Galerie Mehdi Chouakri vertreten. Die vorerst größte Werkschau mit den Objekten Posenenskes fand 2019 im Museum Dia:Beacon USA statt, die Ausstellung wurde in Zusammenarbeit mit dem MACBA, Barcelona, der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf und dem Mudam Luxemburg ausgerichtet.
Beiträge zu Charlotte Posnenenske
- Zit. n. Charlotte Posenenske, Statements, in: Art international, Vol. XII/5 (Mai 1968).
- Renate Wiehager (Hg.), Charlotte Posenenske, Daimler Art Collection, Ostfildern 2009, S. 103.
- Charlotte Posenenske, Ohne Titel, 1968, Super-8, Farbe, ohne Ton, zwei Filmstreifen von je 3 Min.
- Zit. n. Charlotte Posenenske, Statements, in: Art international, Vol. XII/5, Mai 1968.