Lee Krasner (1908–1984) – eine Pionierin des abstrakten Expressionismus – ist erstmals in einer großen Retrospektive in Frankfurt zu sehen. Die Ausstellung der SCHIRN erzählt die Geschichte einer Malerin, deren selbstkritische Haltung zu vielen Stilbrüchen in ihrem Werk führte, deren Biografie häufig das Werk überschattet. Präsentiert wird das Gesamtwerk der US-Amerikanerin, darunter Selbstporträts, Aktdarstellungen in Kohle, die streng geometrischen „Little Images“ oder wegweisende Gemälde der „Prophecy“-Reihe, experimentelle Hauptwerke der „Umber“- und „Primary“-Serie und späte Collagen aus frühen Kohlezeichnungen.
Deutschland | Frankfurt a. M.: Schirn Kunsthalle
11.10.2019 – 12.1.2020
Die chronologisch organisierte Schau zu Lee Krasner in der Schirn Kunsthalle Frankfurt führt konzise in das Werk der unangepassten New Yorker Künstlerin ein. Mit Blick auf ihr eigenes Werk meinte die Malerin des Abstrakten Expressionismus hauptsächlich Brüche zu sehen, um dann doch das Gemeinsame ihres Schaffens erkennen zu können (→ Abstrakter Expressionismus | Informel). Kuratorin Ilka Voermann gelingt es, die Etappen von Krasners Schaffen in aufeinanderfolgenden Räumen zusammenzufassen. Im Durchblick lassen sich dann doch die verbindenden Elemente – allen voran die Dynamik des Farbauftrags, das Tänzerische, das All-over bei gleichzeitigem Respekt der Bildränder – entdecken. Die Unterschiede im Kolorit und die zerstörerisch-zusammenführende Kraft von Lee Krasners kreativem Tun zeigen die Ehefrau von Jackson Pollock als beständig mit sich Ringende.
Die Ausstellung beginnt mit dem großformatigen in Pink und Orange gemalten „Combat“ (1965, National Gallery of Victoria, Melbourne). Das mit 1,79 × 4,104 Metern wandfüllende Werk zeigt Lee Krasner Mitte der 1960er Jahre als Anhängerin des körperbetonten Action Painting. Auf Basis einer skripturalen Linienarbeit führte Lee Krasner das Zeichnerische in gemalte Zonen über. Dabei gelingt es ihr, den tänzerischen Charakter des Ausgangsmaterials weiter zu steigern. Dem wirbelnden Pink hält sie orange Flächen entgegen, die vor allem die Ränder betonen und so die Komposition „einfangen“. Dem All-over von Jackson Pollock setzt Lee Krasner eine dynamische, obschon nicht entgrenzte Malerei entgegen. So gestaltete Lee Krasner, wie Fotografien der Künstlerin in ihrem Atelier belegen, ihre Bilder nicht auf dem Fußboden liegend, sondern an die Wand gepinnt.
Zwanzig Jahre bevor Lee Krasner eine Hauptvertreterin des Amerikanischen Abstrakten Expressionismus wurde, hatte sie in New York Malerei studiert. Ihre ersten Selbstporträts aus den 1920er Jahren zeigen sie als figurative Malerin in der Nachfolge von Postimpressionisten und Regionalisten. Die kräftigen Kohlezeichnungen der 1930er und 1940er Jahre schließen motivisch an Michelangelo Buonarroti an und lassen auch eine Auseinandersetzung mit kubistischen Kompositionsmethoden erkennen. Das eigenständige Werk der Künstlerin beginnt mit „Abstract No. 2“ (1946–1948, IVAM Centre) und „Shattered Colour“ (1947, Guild Hall Museum, East Hampton, New York). Krasners abstrakte Kompositionen basieren auf ihrer Auseinandersetzung mit den „Konstellationen“ von Joan Miró, erinnern aber auch an die „white writing“ Methode von Mark Tobey oder ähnliche Versuche des Frankokanadiers Jean-Paul Riopelle in Paris. Zur selben Zeit übertrug Lee Krasner die Arbeit in farbigen Schollen auf einen „Mosaic Table“ (1947, Privatsammlung), der neben Glasscherben auch überraschenderweise Schlüssel beinhaltet.
„Ich missachte nie einen inneren Rhythmus. Etwas zu erzwingen, ist mir zuwider. Ich zwinge mich nicht, niemals […]. Ich achte auf die innere Stimme.“1 (Lee Krasner, 1977)
Ihren von der Kritik hochgefeierten Ehemann Jackson Pollock förderte Krasner, wo sie nur konnte. Doch angesichts seiner Erfolge versagte ihr angesichts ihrer eigenen Schöpfungen der Mut. Von der Serie „Little Images“ ließ sie nur zwei bestehen. Mit den in Streifen geschnittenen Fragmenten ihrer älteren Arbeiten, aber auch mit den Resten zerstörter Werke ihres Mannes, setzte Krasner zu einer neuen Werkserie an. Bis heute vermitteln die aus Papierresten, Farbe, Schnipsel, Leinwandstücken, Zeichnungen bestehenden Bilder eine gewisse Aggressivität. Gleichzeitig scheint Krasner bei einigen Werken die spontanen Zeichnungen in ein rahmendes Gefüge einzubauen. Dass sie sich nach dieser Eruption der figurativen Malerei (bei aller Zerstörung des Motivs) zuwandte, macht Staunen. Die „Prophecy“-Serie entstand ab Sommer 1956 und begleitete die Künstlerin über den Unfalltod von Jackson Pollock hinweg.
Dann wieder eine Kehrtwendung: dynamische Abstraktionen in Brauntönen (1960/61). Ab 1963, so wird in der Schirn deutlich, ließ Lee Krasner wieder Farbe in ihren schwungvollen Kompositionen zu. Sie selbst fasste die Bilder zur „Primary Series“ zusammen, „Combat“ ist eines davon. Kalligrafie und tänzerische Bewegung vor dem Bild fügen sich mit dem Fluss des Unbewussten zu farbenprächtigen, spontan entstehenden Kompositionen. Die gleichzeitig entstandenen Gouachen auf handgeschöpftem Bütten sind demnach auch keine Studien, sondern Experimente für ein- oder zweifarbige Abstraktionen. Die Ausstellung endet mit großflächig farbig gestalteten Gemälden „Palingenesis“ (1971) und „Olympic“ (1974), denen sie eine Serie von Collagen aus zerschnittenen frühen Zeichnungen zur Seite stellte.
Lee Krasner wurde am 27. Oktober 1908 in Brooklyn geboren. Ihre orthodox-jüdische Familie war kurz zuvor aus dem russischen Odessa ausgewandert. Krasner wandte sich von der Religion ab, um die Washington Irving High School zu besuchen, die einzige Schule in New York, die einen Kunstkurs für Mädchen anbot. Danach studierte sie an der National Academy of Design. Die Eröffnung des MoMA im Jahr 1929 wurde zu ihrem „Erweckungserlebnis“: Lee Krasner besuchte die Hans Hofmann School of Fine Arts, wo sie lebenslange Freunde fand, darunter den renommierten Designer Ray Eames.
Lee Krasner war Mitglied der American Abstract Artists und pflegte Freundschaften zu Ray Eames, Willem de Kooning und Franz Kline. Lange Zeit stand sie als Künstlerin im Schatten ihres Ehemanns Jackson Pollock, den sie 1945 geheiratet hatte. Das Ehepaar Pollock-Krasner zog nach Springs, Long Island. Es lieh sich von der Sammlerin und Händlerin Peggy Guggenheim 2.000 Dollar, um ein heruntergekommenes Bauernhaus an der Fireplace Road in Springs auf Long Island zu kaufen. Lee Krasner förderte ihren Ehemann, der rasch zu den bedeutendsten Malern Amerikas avancierte. Ihre eigene künstlerische Arbeit geriet darüber ins Hintertreffen. Trotz des Künstlerhaushalts sprach sich Lee Krasner selbst nur ein kleines Atelier zu: Sie arbeitete im Wohnzimmer und dann im Schlafzimmer im Obergeschoss, während Pollock in einer umgebauten Scheune draußen malte. Krasners beengte Arbeitsräume ließen sie bis 1950 an er Serie „Little Images“ arbeiten. Sie legte dafür die Leinwände flach auf Tisch oder Boden und trug mehrere Schichten Farbe in flimmernde Kompositionen übereinander auf. Als die Werke weder bei Kritikern noch beim kaufkräftigen Publikum durchschlagenden Erfolg hatten, begann sie sie bis auf zwei zu zerstören und als Bildträger einer neuen Serie zu verwenden.
Lee Krasner hatte selten genug Geld oder Raum, um ihre Werke zu lagern. Ein weiterer Grund für die Nutzung ihrer älteren Werke als Material für Collagen dürften ihre eigenen hochgesteckten Erwartungen gewesen sein. Hatte sie in den „Little Images“ auf Joan Miró reagiert, so dürften hinten den in den 1950er Jahren entstandenen Collagen die Kenntnis von Henri Matisses Scherenschnitten gestanden haben. Dass sie dabei nicht nur ihre eigenen Werke, sondern auch Fragmente verworfener Zeichnungen von Jackson Pollock einarbeitete, dokumentiert das schwierige Verhältnis zwischen den Eheleuten – ausgehend von Pollocks Trunksucht, den Selbstzweifeln beider und seiner außerehelichen Beziehung zu Ruth Kligman. Mit „Prophecy“ (1956) betrat Krasner einen neuen Weg.
Nach dem frühem Tod Jackson Pollocks bei einem Autounfall 1956 entschied sich Lee Krasner, Pollocks Atelier selbst zu nutzen, und leitete damit eine neue Phase ihrer künstlerischen Entwicklung ein. Erstmals konnte sie auf monumentalen, nicht aufgezogenen Leinwänden an der Wand arbeiten (während Pollock seine Drip-Paintings am Boden spritzte!). Das Ergebnis waren bemerkenswerte Gemälde „Embrace“, „Birth“ und „Three in Two“ (alle 1956), gefolgt von den Serien „Umber“ und „Primary“. Darin führte sie ihre künstlerischen Experimente mit Maßstab, biomorpher Form und Farbe zu einigen ihrer berühmtesten Gemälde: „The Guardian“, „Happy Lady“, „Combat“ oder „Siren“.
1960 hatte sich Lee Krasner „freigemalt“ – von der Position als Ehefrau, vom Tod Pollocks und ihrer eigenen Mutter. Erste positive Reaktionen auf Ausstellungen führten zur ersten Retrospektive Lee Krasners 1965 in der Whitechapel Gallery in London, organisiert von Bryan Robertson.2 Der Blick auf das eigene Werk befriedigte die Malerin, die sich ständig auf der Suche befand. Anders als Franz Kline oder Robert Motherwell entwickelte Krasner nie einen „signature style“, sondern hatte den Anspruch, ihre Bildsprache stets neu zu erfinden. Die international anerkannte Künstlerin und Begründerin der Pollock Foundation verstarb 1984.
Kuratiert von Ilka Voermann.
Die Ausstellung ist in der Folge in der Schweiz und in Spanien zu sehen: