Jean-Michel Basquiat (1960–1988) malte im Juni 1982 für seine dritte Einzelausstellung acht großformatige Werke, die in der Galleria d’Arte Emilio Mazzoli in Modena gezeigt werden sollten. Doch vor der Eröffnung wurde das Projekt aufgrund Untstimmigkeiten seiner Galerist:innen abgesagt. Die Gemälde wurden nie zusammen gezeigt, sondern gelangten in Privatsammlungen auf der ganzen Welt. Mehr als vierzig Jahre später bringt die Fondation Beyeler die bisher wenig ausgestellten frühen Werke erstmalig zusammen.
Schweiz | Riehen b. Basel:
Fondation Beyeler
11.6. – 27.8.2023
Im Jahr 1981 wandelte sich Jean-Michel Basquiat vom Street Art-Künstler zum ernstzunehmenden Maler. Von Februar bis April nahm der knapp 20-jährige Künstler an der von Diego Cortez im MoMA PS1 in Long Island City organisierten Ausstellung „New York/New Wave“ teil. Erst ein halbes Jahr zuvor war seine Kunst erstmals in der Öffentlichkeit ausgestellt worden: Seine Teilnahme an der „Times Square Show“ (Juni 1980) führte dazu, dass Glen O’Brien Basquiat für die Hauptrolle des von ihm produzierten Films „New York Beat“ besetzte. Erst im Rahmen dieser Filmproduktion schuf Basquiat Gemälde im traditionellen Sinn, hatte er sich davor doch als Gaffitti-Künstler und „Straßenphilosoph“ betätigt.
Im Mai 1981 reiste Basquiat anlässlich seiner ersten Einzelausstellung in der Galleria d’Arte Emilio Mazzoli in Modena zum ersten Mal nach Europa. Der italienische Galerist war wenige Monate zuvor in der von Diego Cortez kuratierten Gruppenausstellung „New York / New Wave” auf den jungen Künstler aufmerksam geworden. Er stellte Basquiat Räumlichkeiten und Malutensilien zur Verfügung, damit dieser neue Werke schaffen konnte. Dass die Ausstellung von Presse und Publikum völlig ignoriert und kein einziges Werk verkauft wurde, tat der Beziehung zwischen dem italienischen Galeristen und dem Künstler keinen Abbruch. Ein Jahr später plante Mazzoli erneut eine Präsentation den jungen, aufstrebenden New Yorkers.
Die Bedeutung von Basquiats Aufenthalt in Italien erschließt sich aus einem Interview des Künstlers mit Henry Geldzahler, der zwischen 1977 und 1982 als Beauftragter für kulturelle Angelegenheiten für den Oberbürgermeister von New York tätig war:
„H[enry] G[eldzahler]: Was kannst du über die Auflistung vorsokratischer Philosophen in den neueren Gemälden sagen und auch über die Art in deiner Malerei integrierten Quellenmaterials, das sich nicht so sehr von Twombly herleitet, aber doch von dem gleichen synthetischen Denken. Hast du das schon seit deiner Kindheit gemacht, Dinge auflisten?
J[ean] M[ichel] B[asquiat]: Das hat seinen Ursprung in meiner Reise nach Italien, als ich Namen aus Reiseführern und historischen Kurzdarstellungen notiert habe. […] eigentlich wollte ich jeweils die ganze Geschichte abschreiben, aber das war mir dann doch zu mühsam, weshalb ich mich auf die Liste der handelnden Personen beschränkt habe.“1
Die Ausstellung in der Fondation Beyeler bezieht sich jedoch nicht auf Basquiats ersten Besuch in Modena, sondern auf den zweiten im Folgejahr. Ende 1981/1982 gelang dem Amerikaner der internationale Durchbruch. Nachdem die Annina Nosei Gallery ihm im Frühjahr seine erste Einzelausstellung gewidmet hatte (März-April), lud ihn Achille Bonito Oliva zur Teilnahme an „Transavanguardia. Italia/America“ in der Galleria Civica in Modena ein (21.3.-2.5.1982). Basquiat war zweifellos der am wenigsten bekannte Künstler, der den international renommierten Italienern und New Yorkern zur Seite gestellt wurde. Im Mai wechselte Basquiat von Annina Nosei zu Bruno Bischofberger als Hauptgalerist, ab Frühjahr 1983 übernahm Mary Boone in New York seine Vertretung. Im Juni war Basquiat der jüngste von 176 Teilnehmern der „documenta 7“ in Kassel.
Im Frühsommer 1982 kehrte Basquiat auf Einladung Mazzolis für seine erste europäische Ausstellung unter seinem richtigen Namen nach Modena zurück. Mazzoli verfügte dort über eine Lagerhalle im Villaggio Artigiano, die Künstler während Arbeitsbesuchen nutzten. So hielt sich etwa der Römer Mario Schifano mehrere Jahre hindurch immer wieder in Modena auf, um Bilder zu malen. Als Basquiat nach Modena kam, traf er auf mehrere Hinterlassenschaften Schifanos: Neben vollendeten Gemälden fand er auch vorbereitete sowie noch nicht benutzte Leinwände vor. Von deren außerordentlicher Größe angesprochen, verwendete er sie für seine eigenen Bilder.
Basquiats Modena-Bilder messen jeweils mindestens zwei mal vier Meter, sind grösser und anders als alles, was Basquiat bis dahin gemalt hatte. Durch die rückseitig angebrachte Ortsbezeichnung „Modena“ in Verbindung mit seiner Signatur kennzeichnete er diese Arbeiten als zusammengehörende Werkgruppe:
Die monumentale Größe von zwei mal vier Metern und das Arbeiten mit großen Figuren vor buntem Hintergrund, rinnende Farbschlieren und expressive Gestaltung verbindet die Werke stilistisch wie formal. Der Künstler verbindet in den Gemälden jenen scheinbar kindlichen Strich samt vereinfachter Darstellungsweise mit teils durchgestrichenen Wortlisten und roher Malerei. Das Kalligrafisches Linienspiel ermöglicht das Hervorheben und gleichzeitige Verschleiern von Umrisslinien des an Comics-Figuren erinnernden Personals. Im Sommer 1982 zeigt sich Jean-Michel Basquiat bereits im Vollbesitz seiner Kunst. Binnen weniger Monate hatte er einen Personalstil entwickelt, der sowohl kräftig als auch wütend, direkt und roh, einfach aber auch verdichtet wirkt. Die Nähe des New Yorker Shootingstars zum Neo-Expressionismus, seine Auseinandersetzung mit dem Werk von Cy Twombly, von Jackson Pollock (dripping) und afrikanischer Kunst führt zu einer sensualistischen, wilden Malerei, in der Basquiat zunehmend gesellschaftspolitische Fragen reflektierte. In Modena lässt er den Teufel, einen Engel, zwei Kühe, eine Frau und eine antike Statue, einen Jungen mit Hund aber auch zwei profitorientierete Figuren auftreten. In den Fondation Beyerle werden sieben der acht Bilder wie ein Fries in einem Saal einander gegenübergestellt, eingeleitet von „Untitled (Woman with Roman Torso [Venus])“.
Unstimmigkeiten zwischen den Galerist:innen Annina Nosei, die seit Ende 1981 Basquiats Vertreterin in New York war, und Emilio Mazzoli führten zur Aufgabe der geplanten Ausstellung in Modena. In einem Interview mit der New York Times äußerte sich Basquiat 1985 nachträglich frustriert zu seinem zweiten Modena-Aufenthalt:
„Sie hatten es für mich so eingerichtet, dass ich innerhalb einer Woche acht Gemälde für die Ausstellung in der Woche darauf anfertigen musste. Das war eines der Dinge, die ich nicht mochte. Ich habe sie in dieser großen Lagerhalle angefertigt. Annina, Mazzoli und Bruno waren da. Es war wie eine Fabrik, eine üble Fabrik. Ich hasste es. Ich wollte ein Star sein, kein Galeriemaskottchen.“2Basquiat im Gespräch mit Cathleen McGuigan, in: New Art, New Money. The Marketing of an American Artist, in: The New York Times Magazine, 10.2.1985, S. 20–28, 32–35, 74, hier S. 34; zitiert nach: Iris Hasler, Jean-Michel Basquiat in Modena, in: Basquiat. The Modena Paintings, hg. v. Sam Keller und Iris Hasler für die Fondation Beyeler (Ausst.-Kat. Fondation Beyeler, Riehen/Basel, 11.6.–27.8.2023), Berlin 2023, S. 19–27, hier S. 22.3
Mazzoli bezahlte Basquiat für die entstandenen Gemälde, bevor dieser nach New York zurückkehrte. Die acht in Modena gemalten Bilder wurden schließlich über Annina Nosei verkauft: Bruno Bischofberger erwarb vier Gemälde – „Profit I“, „Boy and Dog in a Johnnypump“, „Untitled [Woman with Roman Torso (Venus)]“, „The Guilt of Gold Teeth“. Die anderen gelangten in verschiedene internationale Sammlungen, darunter jene des römischen Galeristen Mario Diacono. Heute befinden sich alle acht Bilder in unterschiedlichen Privatsammlungen in den USA, Asien und der Schweiz. Auch das Projekt der Galleria d’Arte Emilio Mazzoli wurde bisher nicht aufgearbeitet. Dabei gehören die in Modena geschaffenen Gemälde nicht nur zu den bedeutendsten Bildschöpfungen im Œuvre Basquiats und zu den wertvollsten Kunstwerken überhaupt, sondern auch die schließlich gescheiterte Projektidee stellt ein besonderes Ereignis in seiner künstlerischen Karriere dar.
VIDEO: Basquiat über seine Kunst im Jahr 1982