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Schirn analysiert den Montmartre Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900

Henri de Toulouse-Lautrec, Ambassadeurs, Aristide Bruant dans son cabaret, 1892, Farblithografie (Plakat), 135 x 93,5 cm. © Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen. Foto: L. Lohrich.

Henri de Toulouse-Lautrec, Ambassadeurs, Aristide Bruant dans son cabaret, 1892, Farblithografie (Plakat), 135 x 93,5 cm. © Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen. Foto: L. Lohrich.

Montmartre im 18. Arrondissement, Ort und Inspiration der Pariser Avantgarde. Die Schirn Kunsthalle Frankfurt nähert sich der Pariser Avantgarde um 1900 über jenen fast schon mythischen Ort, an dem sie ihre anti-akademischen und revolutionären Ideen in Malerei, Grafik und Plakatkunst umsetzte. Er ist höchste Erhebung im Pariser Becken, Gipsbergwerk, Arbeiterbezirk mit ärmlichen Behausungen, Ort der kommerziellen Unterhaltungsindustrie und halbseidene Gegend, ein Anziehungspunkt für die Bohème aber auch eine Pilgerstätte zum heiligen Dionysius. Neben dem allseits bekannten Künstler Henri de Toulouse-Lautrec (1864–1901), der wie kein Zweiter das Bild der Sänger und Sängerinnen, der leichten Mädchen und der Vergnügungslokale am Montmartre prägte, stehen Vincent van Gogh und Pablo Picasso im Zentrum einer Reihe von weniger bekannten Künstlern und zweier Künstlerinnen, die sich dem Esprit des Viertels hingaben und daraus Inspiration zogen.

Unter der Herausgeberschaft von Ingrid Pfeiffer und Max Hollein sind zehn Essays in dem Katalog versammelt, welche die historische Entwicklung des Viertels, seine soziale Struktur, die Unterhaltungslokale und Künstler_innen am Montmartre analysieren. Künstlerbiografien und eine historische Karte mit Adressen von Ateliers, Vergnügungsorten, Galerien etc. von Michael Raeburn ergänzen den Sammelband zu einer praktikablen Einführung in die Kunsttopografie des Montmartre. Künstler_innen der Avantgarde wohnten zwischen 1885 und 1910 nicht nur am Montmartre, sondern thematisierten ihn und das Leben der Bohème selbst. Ausstellung und Katalog sind daher von über 200 Gemälden, Druckgrafiken und Plakaten geprägt, in denen das Leben am Montmartre zwischen realistischen Schilderungen und sozialer Anklage dokumentiert wurde. Anstelle historischer Figuren der Historienmalerei wurden nun Wäschermädchen und Prostituierte, Absinthtrinker_innen und Zylinder tragende Bürgerliche, berühmte Sänger und Tänzerinnen zu den neuen Held_innen der Moderne. Dass in den Darstellungen auch Akrobaten und Clowns nicht fehlen durften, hatte einerseits mit dem berühmten Cirque Medrano zu tun und andererseits mit der Position des Künstlers als „artiste maudit“, als Außenseiter der Gesellschaft (siehe: Zirkus in der Kunst). Der Blick in die Vergangenheit wurde durch das Beobachten der Straßen und in die Lokale ersetzt.

Ingrid Pfeiffer, Kuratorin der Ausstellung, führt in ihrem Aufsatz den Esprit des Montmartre auf dessen anti-bürgerliche Struktur zurück: Anstelle von Boulevards fanden sich enge Gässchen und eine ärmliche Baustruktur. Die extrem hohe Dichte an Außenseitern, Künstlern, Prostituierten, Gaunern etc. hing mit den Vergnügungen am Hügel zusammen. Billige Mieten für Wohnungen und Ateliers lockten aufstrebende Künstler genauso an wie die Unterhaltungslokale die gutbürgerlichen Nachtschwärmer und zwielichtige Gestalten. Seine „Glanzzeit“ erlebte die „Butte“ in den Jahren zwischen 1885 und 1910, dann wurde der Montmartre vom Montparnasse abgelöst.

Paris, die Stadt der Liebe und der Kunst

Im Jahr 1900 verfasste Georges d`Avenel eine Artikelserie über die Mechanismen des modernen Lebens, in der er über die Pariserin schrieb: „Sie ist eine Ikone, die sexy und zugleich unerreichbar sei, eine Göttin und gleichzeitig eine Dirne, […] halb Märchenprinzessin, halb Straßenmädchen.“1 Wenn damit auch sicherlich nicht die Dame von Stand und die großbürgerliche Tochter beschrieben werden sollte, so spiegelte der Autor doch die Konstruktion eines Klischees wieder, das am Ende des 19.Jhs die prekäre finanzielle Situation von Frauen aus dem Proletariat auslöste. Auffallend sind die vielen Darstellungen von käuflichen Damen bei Edgar Degas, Henri de Toulouse-Lautrec, Jean-Louis Forain (Reims 1852 –1931 Paris). Diese Menge lässt sich, wie Pfeiffer betont, mit der schwierigen finanziellen Lage vieler Arbeiterinnen begründen, deren Lohn nicht zum Überleben reichte, und die deshalb in die Gelegenheitsprostitution abrutschten. Als „femmes de brasserie“, „grisette“ (lebenshungrige Frauen als Gefährtinnen), „lorette“ oder „gigolette“ (Prostituierte) bezeichnet, werden sie von den Künstlern im Café sitzend, im Bordell posierend, d.h. mehr oder weniger direkt bei ihren erotischen Tätigkeiten gezeigt. Während die Einblicke ins gutbürgerliche und reich ausgestattete Bordell im Werk von Toulouse-Lautrec eine gewisse Beiläufigkeit haben, werden die Schilderungen nach der Jahrhundertwende explizierter, ungeschönter und weniger romantisiert.

Der Montmartre, kein Ort für Malerinnen?

Während Künstler die Atmosphäre des Vergnügungsviertels mit alle seinen Schattenseiten schätzten, war die gesellschaftliche Zusammensetzung der Grund, warum kaum Künstlerinnen wie beispielsweise Mary Cassatt am Montmartre verkehrten. Dass sich unter den 26 in Frankfurt ausgestellten Künstler_innen nur zwei Frauen befinden, entsprach nicht nur der Ansicht, dass der Montmartre kein Platz für eine bürgerliche Frau wäre, sondern verdeutlicht auch das zeitgenössische Vorurteil, dass eine Frau Modell aber keine Künstlerin sein könne. Die Ausnahmen am Montmartre sind Suzanne Valadon und die heute weniger bekannte Marie Laurencin (neben Hunderten von freischaffenden Künstlerinnen und Illustratorinnen der Zwanziger Jahre in Paris → Paris | Musée du Luxembourg: Pionierinnen. Künstlerinnen im Paris der 1920er). Sie demonstrieren in ihren Werken Eigenständigkeit und in ihren Leben Selbstbestimmung, was wohl mit dem Soziotop Montmartre zu tun hatte.

Suzanne Valadon (Bessines-sur-Gartempe 1865–1938 Paris) war anfangs Modell von Puvis de Chavanne, Renoir und Toulouse-Lautrec, mit dem sie auch ein Verhältnis hatte. Mit der Geburt ihres unehelichen Sohnes, dem späteren Künstler Maurice Utrillo (1883–1955), begann Suzanne im Jahr 1883 selbst zu zeichnen. Toulouse-Lautrec schickte die begabte Autodidaktin zu Degas, der sie unterstützte und mit der Kunsthändlerin Berthe Weill in Kontakt brachte.

Marie Laurencin (Paris 1883–1956 Paris) bewegte sich im Kreis von Pablo Picasso, Fernande Olivier und Guillaume Apollinaire, mit dem sie zwischen 1907 und 1913 eine Beziehung hatte. Die in Sèvres als Porzellanmalerin ausgebildete Künstlerin entwickelte eine lyrische Variante des Kubismus und verewigte sich 1908 mit ihren heute so berühmten Freunden in einem Gruppenporträt.

Montmartre, ein Ort der Veränderung und des Vergnügens

Welche Veränderungen „la Butte“, der 130 Meter hohe Hügel von Montmartre, zwischen 1860 und 1910 durchmachte, fasst Chloë Langlais spannend zusammen. Ab 6.Juni 1859 eingemeindet, konnten wegen des Gipsgrundes keine größeren baulichen Veränderungen durchgeführt werden. Nach dem Niederschlag der Pariser Kommune 1871, die vom Montmartre ausging, verhinderte der weiche Untergrund eine radikale Veränderung durch Baron Haussmann. Zwei Jahre später, 1973, wurde der Bau der neobyzantinischen Basilika Sacré-Cœur als nationales Projekt beschlossen und der Bau zur „Abbüßung der Verbrechen der Kommunarden“ zwischen 1875 und 1914 umgesetzt (Weihe 1919).

Die um 1900 etwa 40 Lokale, Varietés und Cabarets am Montmartre sind Legende, die wenigsten existieren noch wie das Moulin Rouge (1889 mit einer Windmühlen-Attrappe und einem Elefanten aus Papiermaché eröffnet). Dazu kamen das Moulin de la Galette, das Chat Noir (1883-1897), das Cabaret Mirliton von Aristide Bruant (ab 1885), der Divan japonais, das Théâtre de l`Œuvre (ab 1893, 1896 Spielort des Ubu roi), das Théâtre Libre (ab 1887), das Hippodrome, mit 6000 Sitzen das größte Kino der Welt. Doch erst die Grafiker Jules Chéret (Paris 1836–1932 Nizza, JULES CHÉRET. Pionier der Plakatkunst) und Theophile-Alexandre Steinlen (Lausanne 1859–1923 Paris) prägte mit ihren Plakatentwürfen die Images der Etablissements. Steinlens sozialistische Gesinnung lässt sich aus vielen Darstellungen der sog. Kleinen Leute am Montmartre ablesen, wie in dem 1895 entstandenen Gemälde „Le 14.Juillet 1895“. Während die Impressionisten wie Claude Monet den Nationalfeiertag von hoch oben als Spektakel der Fahnen und der undifferenzierbaren Massen sahen, bewegt sich Steinlen inmitten der singenden Demonstranten.

Da besagte Künstler_innen nicht damit rechnen durften, ihre Werke in den heiligen Hallen des Pariser Salons zu präsentieren, wurden alternative Vermarktungsstrategien der Impressionisten und der Post-Impressionisten zu wichtigen Bezugspunkten der jungen Künstler. Edouard Manet, Pierre-Auguste Renoir und Degas wohnten bereits in Montmartre,2 als Henri de Toulouse-Lautrec und Vincent van Gogh, Kees van Dongen und Pablo Picasso sich entschieden dorthin zu ziehen. Eine Liberalisierung der Zensur ermöglichte zehn Jahre nach dem Deutsch-Französischen Krieg und der Pariser Kommune die Produktion von Kunst- und Literaturzeitschriften (ab 1881), die auch von oben genannten Vergnügungsstätten herausgegeben wurden. Künstler wie Lokalbesitzer nutzten diese neue Medienlandschaft, um, so Peter Kropmanns, ihr Selbstbild zu konstruieren und das Fremdbild mitzubestimmen. Durch die höhere Alphabetisierungsrate der Pariser Bevölkerung erreichten beide so ein größeres Publikum bzw. eine größere Käuferschicht.

Kunst und Politik: Henri de Toulouse-Lautrec, Vincent van Gogh, Pablo Picasso am Montmartre

Dass sich Künstler wie Toulouse-Lautrec (1864–1901), van Gogh (1853–1890) oder Picasso (1881–1973) so wohl fühlten am Montmartre, hatte auch mit der Ablehnung ihrer Arbeiten durch das bürgerliche Paris zu tun. Vor allem von Vincent van Gogh ist dokumentiert, wie sehr er sich mit den Benachteiligten solidarisierte und daraus den Vorteil der Unabhängigkeit ableitete:

„Besagter unterwürfiger Hure gehört mehr meine Sympathie als mein Mitleid. Ausgestoßen und abgelehnt von der Gesellschaft, wie Du und ich es als Künstler sind, ist sie gewisslich unsere Freundin und Schwester. Und in dieser Stellung als Auswurf findet sie – wie auch wir selbst – eine Unabhängigkeit, die, genau betrachtet, auch ihre Vorteile hat.“3

Neben der Identifikation mit der proletarischen Bevölkerung am Montmartre bot das Viertel aber auch noch die Möglichkeit alternativer Ausstellungsflächen. Vincent van Gogh war Ende Februar 1886 bei seinem Bruder eingezogen und verließ ihn knapp zwei Jahre später, 1888, in Richtung Arles. Im Atelier von Cormon lernte er Henri de Toulouse-Lautrec kennen und freundete sich mit ihm an. Van Gogh interessierte sich für den dörflichen Montmartre und malte vor allem Landschaften, in denen er Impressionismus, Pointillismus und Japonismus aufarbeitete. Hoffte er vielleicht, seine pittoresken Motive mit den berühmten Windmühlen und den Tanzlokalen an Touristen verkaufen zu können? Im Café von Agostina Segatori stellte er seine japanischen Drucke aber auch seine eigenen Bilder aus. Im November 1887 hatte er gemeinsam mit Toulouse-Lautrec, Bonnard, van Dongen und Anguetin eine Ausstellung im Grand-Bouillon-Restaurant du Chalet, die von Paul Gauguin, Georges Seurat (→ Georges Seurat), Guillaumin und Pissarro besucht wurde. Das Nachtleben, so lässt sich im Vergleich mit Toulouse-Lautrec deutlich feststellen, taucht in van Goghs Bildwelt nicht auf.

Toulouse-Lautrec: Alter Adel im Arbeiterviertel

Henri de Toulouse-Lautrec steht noch deutlicher als sein Freund van Gogh im Zentrum der Ausstellung, hat er doch das Leben am Montmartre zum wichtigen Thema seiner Kunst gemacht. Bereits Mitte der 1880er Jahre waren realistische Szenen aus dem modernen Pariser Leben nichts Außergewöhnliches mehr, finden sich doch in den Œuvres von Jean-Louis Forain, Adolphe Willette und Jean-François Raffaëlli pittoresk-humoristische Szenen aus den Vergnügungslokalen des Montmartre. Darüber hinaus widmete sich Edgar Degas (Paris 1834–1917 Paris) in ca. 200 Monotypien dem Leben der Prostituierten und fasste sie unter dem Titel „Scènes de maisons closes“ zusammen. Diese Blätter wurden 1934 in einer von Ambroise Vollard organisierten Ausgabe als Illustrationen in Guy de Maupassants Erzählung „La Maison Tellier“ (Erstpublikation 1880) veröffentlicht.

Um Malerei zu studieren, war Toulouse-Lautrec 1882 nach Paris gekommen. Für die ersten beiden Jahre wohnte er mit seiner Mutter in Faubourg, entschloss sich jedoch 1884 sein Atelier nach Montmartre zu verlegen. Im Jahr 1886 wollte der junge Künstler mit aristokratischer Vergangenheit unbedingt Erfolg als Illustrator feiern und schilderte in seinen Zeichnungen v.a. das Nachtleben im Viertel. Toulouse-Lautrecs Werke lassen sich als künstlerische Antwort auf den politischen Anarchismus im Paris der Belle Époque verstehen. Indem er der besseren, bürgerlichen Gesellschaft den aktuellen gesellschaftlichen Zustand vor Augen führte, sollten ein kritisches Bewusstsein und ein Bedürfnis nach Gerechtigkeit entstehen, so die Theorie. Wenn man dieser Beobachtung allerdings Toulouse-Lautrecs Plakate und Illustrationen entgegenhält, ist er doch auch Lieferant für Bilder des Vergnügens, der Erotik und des Begehrens.

Das finanzstarke Großbürgertum aber auch die Mittelschicht und Touristen waren das Zielpublikum der Lokalbetreiber und daher auch von Toulouse-Lautrecs Kunst. Erst die folgende Generation, darunter Pablo Picasso in seiner Blauen Periode, werden den Bildern jedwede Schönheit rauben und die Misere als solche unverkennbar umsetzen. Somit kam es in den 1890er Jahren analog zu den anarchistischen Anschlagsserien in Paris zu einer Radikalisierung der Sujets in der bildenden Kunst.

Toulouse-Lautrec: Vom Moulin Rouge ins Bordell

Für das Moulin Rouge entwarf Toulouse-Lautrec 1891 sein erstes, lithografiertes Plakat, das ihn als den Nachfolger von Jules Chéret in Paris empfahl. Die bürgerliche Zeitung „Le Paris“ publizierte daraufhin eine zweispaltige Abhandlung über den Künstler, worauf dieser stolz seiner Mutter berichtete: „Paris, eine sehr republikanische Zeitung (sagen Sie der Familie nichts davon), ist sogar so weit gegangen, mit zwei Spalten zu widmen, in denen alles über meine Person enthüllt wurde, ohne ein Detail auszulassen.“4 Dieser erste Erfolg und die bereits seit den 1880ern einsetzende Affichomanie, die Würdigung der Plakate als eigenständige und v.a. moderne Kunstform, ermöglichten, dass Toulouse-Lautrec seine Plakate kommerziell verwerten konnte. Er stellte die 26 zwischen 1891 und 1896 entstandenen Plakate gleichberechtigt neben seinen Gemälden aus und ließ Sonderdrucke anfertigen, die teils ohne Text, aber dafür mit Signatur und Auflagenzahl versehen und dadurch wie großformatige Originalgrafiken behandelt wurden. Ab 1892 lithografierte Toulouse-Lautrec im Auftrag von Boussod, Valadon & Cie. in Farbe und wählte für die Darstellungen aus dem Moulin Rouge, Porträts von leicht wiedererkennbaren Bühnenstars, Sänger_innen, Tänzer_innen und Schauspieler_innen, die ihm ein Jahr später den Durchbruch als Grafiker bereiteten. Nach 1895 spielte die „Butte“ nur noch eine geringe Rolle in Toulouse-Lautrecs Kunst, denn er wandte sich den Prostituierten in besseren Bordellen mit stilvollen Einrichtungen zu. Ab nun gab er nahezu private Einblicke in das Leben der Dirnen.

Pablo Ruiz Picasso. Der Katalane in Paris

Während Vinyet Payella in seinem Beitrag auf die Menge von katalanischen Künstlern am Montmartre eingeht (Santiago Rusiñol, Ramon Casas, Andreu Solà i Vidal, Enric Clarasó, Ramon Canudas, Darío de Regoyos, Ignacio Zuloaga, Paco Durrio, Daniel Urrabieta Vierge, Ramon Pichot, Isidre Nonell, Ricard Canals, Joaquim Sunyer, Josep M. Sert, Pablo Ruiz Picasso, Carlos Casagemas) und damit die Bedeutung von Paris als Welthauptstadt der Kunst im späten 19. Jh bekräftigt, widmet sich Robert McD. Parker dem Aufenthalt von Picasso am Montmartre.

Pablo Picasso lebte von April 1904 bis Oktober 1912 am Montmartre, wohnte und arbeitete bis September 1909 im bekannten „Bateau-Lavoir“, einem zweistöckigen Atelierhaus, das 1889 errichtet worden war. Die Zeit in Montmartre ist jene gemeinsam mit Fernand Olivier, die als Modell und Künstlerin arbeitete. Hier entstanden Picassos Gemälde der Blauen und der Rosa Periode, aber auch „Les Desmoiselles“, für die der Künstler 20 Jahre lang keine Käufer fand. Hier genoss der Künstler die „Aura von Sex und Crime“, den relativ einfachen Zugang zu Opium und erlebte auch die Schattenseiten von Abhängigkeit und Drogentod. In seinen Werken – v.a. der Blauen Periode (→ Pablo Picasso: Blaue Periode) – nahm er wie auch sein Freund Amedeo Modigliani (Livorno 1884–1920 Paris) die Misere des Proletariats in seine Bilder auf. In der Zeit der Rosa Periode wandte sich Picasso Gauklern, Seiltänzer_innen und Harlekins zu. Als die Geschwister Stein auf ihn aufmerksam wurden, begann er finanziellen Erfolg zu haben. Picasso wie auch Modigliani verließen den Montmartre um 1910 in Richtung Montparnasse, der damit seine Vorrangstellung als Ort der Moderne und des Vergnügens endgültig verlor.

Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900

Den Montmartre im Zeitraum zwischen 1885 und 1910 als Ort der Bohème und des Vergnügens zu beleuchten, ist eine genauso intelligente Entscheidung wie eine große Reihe von Künstler_innen zu zeigen, die einem größeren Publikum nicht so bekannt sein dürfte. Neben den Gassenhauern Degas, Toulouse-Lautrec, Picasso und Amedeo Modigliani finden sich mit Valadon und Laurencin die einzigen beiden Künstlerinnen, die neben Fernand Olivier Karriere machen konnten. Mit Werken von Pierre Bonnard, Émile Bernard (1868─1941)Félix Vallotton und Louis Anquetin ist der Cloisonnismus und der Synthetismus vertreten, während die Künstler Georges Rouault und Kees van Dongen um 1905 gemeinsam mit den Fauvisten (→ Matisse und die Künstler des Fauvismus) in die Geschichte eingehen werden.

Zu den vielen in Vergessenheit geratenen Künstlern in der Schau zählen Louis Anquetin, Auguste Chabaud, der früh verstorbene Henri-Jacques-Edouard Evenepoel, Jean-Louis Forain, Henri-Gabriel Ibels, Max Jacob und Alexis Mérodack-Jeanneau. Die Plakatkunst ist gut durch Toulouse-Lautrec, Théophile-Alexandre Steinlen sowie Jules Chéret abgedeckt, während die Betonung der katalanischen Fraktion am Montmartre, vertreten durch Ramon Casas, Santiago Rusiñol und Joaquim Sunyer i de Miró - doch eher erstaunt. Deren Werke sind deutlich dem Realismus zuzurechnen und geben daher eine wenn schon nicht deskriptive so pittoreske Folie für die Modernität der berühmteren Zeitgenossen ab. Die Ausstellung „Esprit Montmartre“ ist daher eine gute Einführung in das Soziotop eines Künstlerviertels, das mit Hilfe der bildenden Künstler kommerziell vermarktet wurde. Mit dem Klischee der armen aber glücklichen Bohème wird genauso aufgeräumt wie mit der Romantisierung der Dargestellten als selbstbewusste Außenseiter der Gesellschaft. Der Montmartre als „andere Welt“ war Kulisse für ein Schauspiel, da seine Akteure von der Verstellung lebten. Der Hügel ist kein exotischer, anti-bürgerlicher Ort, wie er in Beschreibungen der Zeit vermarktet wurde, befindet er sich doch mitten in Paris. Stattdessen zeigt sich ein Bild einer Vergnügungsindustrie, deren Tempo das Leben vieler bestimmte und Künstler_innen verschiedener Generationen über Jahrzehnte aus unterschiedlichen Blickwinkeln faszinierte.

Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900: Ausstellungskatalog

Ingrid Pfeiffer und Max Hollein (Hg.)
Mit Essays von N. Bakker, M. A. Castor, Ph. D. Cate D. Devynck, A. Hopmans, P. Kropmanns, C. Langlais, V. Panyella, R. McD. Parker, I. Pfeiffer
320 Seiten, ca. 320 farbige Abb.
24 x 29 cm, Hardcover
ISBN 978-3-7774-2196-4
HIRMER

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  2. Zu den ersten Künstlern am Montmartre zählten bereits um 1830 Vernet, Géricault und Corot.
  3. Zit. n. Ingrid Pfeiffer: Esprit Montmartre. Die Bohème und der Blick auf ein wenig vertrautes Paris, in: Ingrid Pfeiffer, Max Hollein (Hg.): Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900 (Ausst. Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt 7.2.-1.6.2014), München 2014, S. 33.
  4. Zit. n. Rinhold Heller: Toulouse-Lautrec. Der Maler vom Montmartre, München 1997, S. 69.
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.