Marie Laurencin

Wer war Marie Laurencin?

Marie Laurencin (Paris 31.10.1883 oder 1885–8.6.1956 Paris) war eine französische Lyrikerin und Malerin der Klassischen Moderne (→ Klassische Moderne). Laurencin war bekannt als Muse des Dichters Guillaume Apollinaire. Dieser charakterisierte die Person und ihr Werk 1910 als „grazil und charmant“, was bis heute das Urteil über die Künstlerin färbt. Ihre Gemälde bestechen durch einen weichen Pinselstrich, die Bevorzugung von Pastellfarben, gesteigert „weibliche“ bzw. „mädchenhafte“ Darstellungen, was feministische Analysen eher erschwert als erleichtert hat. Ihre Biografie entzieht sich genauso wie eine kunsthistorische „Einordnung“ ihres Werks.

Kindheit

Marie Laurencin wurde am 31. Oktober 1883 oder 1885 als uneheliches Kind in Paris geboren. Laurencins Mutter war die Näherin Mélanie-Pauline Laurencin, ihr Vater Alfred-Stanislas Toulet, ein Steuerrevisor, zu dem sie wenig Kontakt hatte und von dessen Vaterschaft sie erst 1913 erfahren haben will (acht Jahre nach seinem Tod).

Ausbildung

Bereits im Alter von 18 Jahren wurde Marie Laurencin von ihrer Mutter nach Sèvres geschickt, um in der Porzellanmanufaktur die Kunst der Porzellanmalerei zu erlernen. Ihre weitere Ausbildung erfolgte in Paris am Lycée Lamartine. Vermutlich zahlte ihr Vater dafür.

Zu ihren frühen Förder:innen gehörten ihre Mutter und ihr Zeichenlehrer, die sie in ihren nächtlichen künstlerischen Studien und dem Vorhaben, Malerin zu werden, unterstützten. 1905 veröffentlichte Laurencin eine Reihe von lyrischen Werken unter dem Pseudonym Louise Lalanne und schrieb sich an der Académie Humbert in Paris ein. Dennoch dürfte ihre Mutter die Zügel straff gehalten haben und die neuen Freunde nicht in ihrer Wohnung empfangen haben.

An der Académie Humbert traf sie 1905 auf Georges Braque und machte durch ihn 1907 die Bekanntschaft mit Pablo Picasso und Guillaume Apollinaire. Diese wurden zu ihren weiteren Förderern, und schon bald war Laurencin in kunsttheoretische Diskussionen eingebunden, die später zum Kubismus führten.
Picasso vollendete 1907 sein berühmtes Bild „Les Demoiselles d’Avignon“ (MoMA). Das Gemälde schockierte die Öffentlichkeit durch seinen unkonventionellen protokubistischen Stil und sein dreistes Thema eines modernen Bordells. Damals kursierte das Gerücht, Picasso habe die kauernde Figur rechts unten in „Les Demoiselles d’Avignon“ nach Laurencin gemalt. Picasso wurde wahrscheinlich durch den Roman „Les Onze Milles Verges“ (1907) von Guillaume Apollinaire (1880–1918) beeinflusst. In dem Text beschrieb Apollinaire grob eine Sexarbeiterin, die bei einer Explosion zerstückelt wurde. Da Apollinaire und Laurencin zu dieser Zeit in eine turbulente romantische Affäre verwickelt waren, wurde die Figur als kaum verschleierte Anspielung auf Laurencin interpretiert. Vielleicht stellt das Gruppenbild „Apollinaire und seine Freunde“ (1909, Centre Pompidou, Paris) einen feministischen Kommentar auf dieses Gerücht dar.1.

Marie Laurencin und Guillaume Apollinaire

Marie Laurencin lernte Guillaume Apollinaire während einer Ausstellung ihrer Bilder bei Clovis Sagot kennen; seit 1907 war sie mit Apollinaire verbunden. Im selben Jahr hatte sie ihre erste Ausstellung im Salon des Indépendants. Ihre erste Einzelausstellung fand 1908 in der Galerie von Berthe Weill statt. Im selben Jahr begleitete sie Apollinaire zu dem von Picasso ausgerichteten „Bankett für Rousseau“ im Bateau-Lavoir.

War Marie Laurencin im Kreis der Künstler als Muse und Geliebte akzeptiert, so wandelte sie diese Erfahrung im Gruppenporträt „Apollinaire et ses amis“ (1908, Baltimore Museum of Art; zweite Fassung im Centre Georges Pompidou, Paris). Es zeigt Picasso, Laurencin, Apollinaire, Fernande Olivier und Picassos Hund Fricka; Picasso ist an das untere Ende gedrängt und im Profilporträt wiedergegeben. Obwohl Apollinaire Guillaume im Zentrum der Komposition sitzt, gibt sich Laurencin als Stehende eine mächtige Position. Die Blume in ihrer Hand verweist auf eine Darstellung der Jagdgöttin Artemis aus dem gleichen Jahr. Die Kunstsammlerin Gertrude Stein kaufte das erste Bild aus der Serie. Diese Erwerbung machte Laurencin in der Avantgarde-Szene bekannt. Jean Cocteau formulierte freundschaftlich: „Arme Hindin, zwischen den Fauves und den Kubisten gefangen“, und Rodin bezeichnete sie als „Fauvette“. Stein vermerkte später in ihrer Autobiografie über Laurencin:

„Jeder nannte Gertrude Stein Gertrude, oder zumeist Fräulein Gertrude, jeder nannte Picasso Pablo und Fernande Fernande und jeder nannte Guillaume Apollinaire Guillaume und Max Jacob Max aber jeder nannte Marie Laurencin Marie Laurencin.“2

Das Bild, das Henri Rousseau von Laurencin und Guillaume malte, entstand im folgenden Jahr und trägt den Titel „Muse und Dichter“ (1909, Puschkin Museum). Im gleichen Jahr zeigt sich Laurencin selbst einmal mehr inmitten des oben genannten Gruppenporträts rund um Apolliniare Guillaume: rechts Picasso, Maurice Cremnitz, Marguerite Gillot und die Klavier spielende Laurencin; links: Gertrude Stein im Profil neben Fernande Olivier und einer unbekannten Frau.

1912 hatte Marie Laurencin eine Ausstellung in der Galerie Barbazanges zusammen mit Robert Delaunay, sowie 1913 auf der Armory Show in New York. Im gleichen Jahr war sie in der La Maison Cubiste, Le Salon Bourgeois im Salon d'Automne beteiligt.

Die Beziehung zu Apollinaire endete nach dem Tod der Mutter im Jahr 1913. Sie blieben jedoch bis zu seinem Tod im November 1918 in Verbindung: Apollinaire starb an der Spanischen Grippe, was Laurencin in Verzweiflung stürzte. Ebenfalls 1913 schloss sie einen Vertrag mit dem legendären Pariser Kunsthändler Paul Rosenberg, der sie bis zum Jahr 1940 vertrat. Im selben Jahr erschienen Apollinaires Gedichtband „Alcools“, in dem sich mehrere Gedichte auf sie beziehen, sowie „Les Peintres Cubistes“, in dem Laurencin genannt wird.

Trotz der langen Zeit, die Laurencin mit den kubistischen Künstlern geteilt hatte, entwickelte sie ihren eigenen Stil, der frei von den kunsttheoretischen Überlegungen des Kubismus blieb. Sie beschäftigte sich in ihren Bildern auf luftige und fast blasse Art mit lyrischen Motiven, wie zum Beispiel grazilen jungen Mädchen, umsäumt von Blumen oder begleitet von Katzen und Hunden. Laurencin ist bekannt für die zarte Abstufung ihrer pastellartigen Farbauswahl. Hierfür verwendete sie eine einfache Palette von Farben, die nur Schwarz, Weiß, Kobaltblau, Ocker und smaragdgrünes Grün enthielt. Meist bediente sie sich der Wasser- oder Pastellfarbe.

1912 machte Laurencin die Bekanntschaft des deutschen Schriftstellers Hanns Heinz Ewers, der ihr im selben Jahr sein Stück „Das Wundermädchen von Berlin [La Jeune fille miraculeuse de Berlin]“, ein Revolutionsdrama aus dem Jahr 1848, widmete. Mit ihm führte sie bis 1920 eine Beziehung. Im Herbst 1913 lernte sie den deutschen Maler Baron Otto von Wätjen kennen, der Stammgast im Café du Dôme war. Am 22. Juni 1914 heiratete das Paar in Paris und Laurencin wurde deutsche Staatsangehörige. Um einer Ausweisung zuvorzukommen, zogen beide zu Beginn des Ersten Weltkriegs nach Spanien, wo Laurencin in Andalusien im Sommer 1915 und im Sommer 1916 erneut mit Ewers zusammentraf. Zwischen Januar und März 1917 gab sie zusammen mit Francis Picabia, Albert Gleizes und Arthur Cravan die dadaistische Zeitschrift „391“ heraus, in der sie ihre Gedichtsammlung „Le petit Bestiaire“ veröffentlichte. 1918 zog das Ehepaar nach Düsseldorf. 1921 ließ sich Laurencin scheiden und kehrte nach Paris zurück. Am 18. April 1922 wurde ihr die französische Staatsbürgerschaft wieder zuerkannt.

Schule von Paris

In den 1920er Jahre vertraten die Galerien Paul Rosenberg in Paris, Alfred Flechtheim in Deutschland und John Wuinn in New York die erfolgreiche Künstlerin. Bis in die 1940er Jahre hinein sicherten Auftragsarbeiten wohlhabender Sammler:innen die wirtschaftliche Basis von Laurencin. Die Künstlerin war als Porträtistin der haute monde, dass sie sich 1925 ein Schloss kaufen konnte.

Ab 1924 beschäftigte sich die Künstlerin mit Bühnenbildentwürfen. In dieser Zeit entstanden beispielsweise eine Bühnendekoration zu Djagilews Ballett „Les Biches“ für die Ballets Russes mit einer Choreografie von Bronislava Nijinska, oder 1928 ein Bühnenbild für die Comédie-Française. Außerdem veröffentlichte sie einige Buchillustrationen, unter anderen zu Lewis Carrolls Kinderbuch „Alice im Wunderland“. Von 1932 bis 1935 gab sie Unterricht an der Kunstakademie Villa Malakoff im 16. Arrondissement von Paris. Am 31. Juli 1935 wurde ihr das Band der Légion d’honneur verliehen. 1942 erschien ihr Memoiren- und Gedichtband „Le Carnet des nuits“.

Tod

Im Jahr 1950, sechs Jahre vor ihrem Tod, bestimmte Marie Laurencin, dass 50 Jahre lange (bis 2000) nichts über sie publiziert werden dürfte. Damit wollte sie sich – so wird vermutet – einer eindeutigen kulturellen Fixierung entziehen.3 Dass die Kunstkritik nicht immer mit ihrer Kunst sorgsam umging, zeigt ein Kommentar von Carl Einstein aus dem Jahr 1926. Um Amedeo Modigliani ins rechte Licht zu rücken, schrieb Einstein:

„Wenn man aber die kosmetischen Allüren der Laurencon nennt, sollte dies verpudert schwatzhafte Geschlecht lernen, den Namen des adeligen Bettlers Modigliani mit Ehrfurcht nennen zu dürfen.“4

Und etwas weiter sieht er den Einfluss von Henri Rousseau in Laurencins „blasierten Dekors“ (während Rousseaus Einfachheit als raffiniert eingestuft wird).5

Marie Laurencin starb in der Nacht zum 8. Juni 1956 an Herzversagen. Wunschgemäß wurde sie in einem weißen Kleid auf dem Pariser Friedhof Père-Lachaise bestattet, in der einen Hand hielt sie eine Rose, und Liebesbriefe Apollinaires bedeckten ihr Herz. Der Nachlass ging zum Teil an Suzanne Moreau-Laurencin, die 1925 als Dienstmädchen eingestellt worden war und die sie 1954 adoptiert hatte, zum größeren Teil an die Stiftung der Waisen von Auteuil.

Rezeption

Marie Laurencin galt als eine der berühmtesten Künstlerinnen ihrer Zeit. Sie wird genannt in Heimito von Doderers Roman „Ein Mord, den jeder begeht“ (1938), in Joe Dassins Chanson „L’Été Indien“ (1975).

Die wissenschaftliche Wiederentdeckung von Marie Laurencin und ihrem Werk begann mit der Zweiten Frauenbewegung in den 1970er Jahren in den USA und Großbritannien. Während der 1980er/90er war Marie Laurencin vor allem in Japan sehr gefragt.
Im Jahr 1983, anlässlich des 100. Geburtstags von Marie Laurencin, eröffnete das Musée Marie Laurencin in Nagano, Japan. 100 Werke stammten bei der Gründung der Sammlung von Direktor Masahiro Takano. Das Museum wurde Ende September 2011 geschlossen und im Juli 2017 in Tokio neu eröffnet. Gegenwärtig umfasst es mehr als 600 Werke der Künstlerin.6

Literatur zu Marie Laurencin

  • Elizabeth Louise Kahn, Marie Laurencin. Une Femme Inadaptée in Feminist Histories of Art, Hants / Burlington 2003.

Beiträge zu Marie Laurencin

22. Oktober 2023

Philadelphia | Barnes Foundation: Marie Laurencin Sapphisches Paris | 2023/24

Marie Laurencins sapphisches Paris zeigt die Gemälde der Künstlerin von Selbstporträts bis zu gemeinschaftlichen Dekorationsprojekten.
2. September 2023
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Überblick zur Entwicklung des Fauvismus mit weiblicher Beteiligung! Das Kunstmuseum Basel stellt die Malerinnen Émilie Charmy und Marie Laurencin vor und gibt erstmals Einblick in die Aktivitäten der Galeristin Berthe Weill.
6. Mai 2023
Picasso, Buste d´Homme, 1969, Detail (Horten Collection, Wien)

Wien | Horten Museum: Picasso, Chagall, Klein und ihre Zeit Rendez-vous in Paris und der Côte d’Azur | 2023

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16. Februar 2022
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2. Februar 2022
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Schirn analysiert den Montmartre Esprit Montmartre. Die Bohème in Paris um 1900

Die Schirn Kunsthalle Frankfurt nähert sich der Pariser Avantgarde um 1900 über jenen fast schon mythischen Ort an, an dem sie ihre anti-akademischen und revolutionären Ideen in Malerei, Grafik und Plakatkunst umsetzte: dem Montmartre im 18. Arrondissement. Er ist höchste Erhebung im Pariser Becken, Gipsbergwerk, Arbeiterbezirk mit ärmlichen Behausungen, Ort der kommerziellen Unterhaltungsindustrie und halbseidene Gegend, ein Anziehungspunkt für die Bohème aber auch eine Pilgerstätte zum heiligen Dionysius. Neben dem allseits bekannten Künstler Henri de Toulouse-Lautrec (1864–1901), der wie kein Zweiter das Bild der Sänger und Sängerinnen, der leichten Mädchen und der Vergnügungslokale am Montmartre prägte, stehen Vincent van Gogh und Pablo Picasso im Zentrum einer Reihe von weniger bekannten Künstlern und zweier Künstlerinnen, die sich dem Esprit des Viertels hingaben und daraus Inspiration zogen.
  1. So eine  - zugegeben verführerische - These von Julia Fagan-King.
  2. „Everybody called Gertrude Stein Gertrude, or at most Mademoiselle Gertrude, everybody called Picasso Pablo and Fernande Fernande and everybody called Guillaume Apollinaire Guillaume and Max Jacob Max but everybody called Marie Laurencin Marie Laurencin.”
  3. Elizabeth Louise Kahn, Marie Laurencin. Une Femme Inadaptée in Feminist Histories of Art, Hants / Burlington 2003, S. XX.
  4. Zit. n. Carl Einstein, Die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts, Berlin 1926, S. 47.
  5. Ebenda, S. 49.
  6. Ein Gemälde der Sammlung, das den Kunsthändler Alfred Flechtheim darstellt, soll sich als Fälschung vonWolfgang Beltracchi aus dem Umkreis der Sammlung Jägers herausgestellt haben.