Am 27. Mai 2020 – nach mehreren Wochen coronabedingter Verzögerung – öffnet mit der Albertina modern der zweite Standort der Albertina am Karlsplatz! Auf 2.500 m² gibt die Albertina einen konzisen Überblick über die österreichische Kunst von dreieinhalb Dekaden. Werke, die zwischen 1945 und 1980 entstanden sind, legen Zeugnis ab, so Generaldirektor Klaus Albrecht Schröder, über die hohe Qualität und Innovationskraft der hierzulande geschaffenen Kunst. Der Bogen wird in 13 Kapiteln vom Phantastischen Realismus zum Wiener Aktionismus, von der gestischen zur geometrisch-analytischen Abstraktion, der Op Art und der Konkreten Kunst, von Figuration zur Feministischen Avantgarde gespannt. Es wird nicht auf die Art Brut aus Gugging vergessen und mit dem Weg von der Skulptur zum Objekt und Franz Wests Passstücken (1976), von der Performance zur Aktionsfotografie die Entgrenzung der Medien angedeutet.
Österreich | Wien: Albertina modern
27.5. – 15.11.2020
Die Beobachtung, dass es nach 1945 in Wien die Tendenz gab, sich in Künstlergruppen lose zusammenzuschließen, floss in die Hängung von Klaus Albrecht Schröder ein. Das Team mit Brigitte Borchhardt-Birbaumer, Berthold Ecker, Elisabeth Dutz, Antonia Hoerschelmann und Angela Stief erarbeitete einen äußerst produktiven Überblick über die österreichische Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg und bis zur Postmoderne. Damit trägt die Albertina modern den in weiten Teilen bereits etablierten Kanon in die Öffentlichkeit, wobei jüngere Akzentverschiebungen – namentlich durch das Programm von Berthold Ecker im inzwischen in das Wien Museum eingegliederte MUSA (→ Die 70er Jahre: Expansion der Wiener Kunst) und die Förderung der feministischen Avantgarde von Gabriele Schor im Verbund – vorbildlich Rechnung getragen wurden. So wartet die Schau nicht nur mit den wegweisendsten Künstlerinnen und Künstlern aus dreieinhalb Jahrzehnten österreichischen Kunstschaffens auf, sondern bietet darüber hinaus noch einige Entdeckungen.
Die Neubegründung der Wiener Kunst nach Kriegsende ist eng mit jener Generation verbunden, die 1929 zur Welt kam und den Zweiten Weltkrieg knapp überlebte. Arik Brauer, Ernst Fuchs, Rudolf Hausner, Anton Lehmden und Wolfgang Hutter, ergänzt durch Curt Stenvert bilden daher den Auftakt zur Ausstellung. Bereits hier wird deutlich, dass das Kuratorenteam vor allem frühe Werke interessierte, mit denen neue Wege beschritten wurden. Dass die Erfahrungen von Krieg und Vernichtung sich wie ein Generalbass durch diese Werke ziehen, dann bei den Aktionisten verschlüsselt als Autoaggression wiederauftaucht und im Werk von Reimo Wukounig und Gottfried Helnwein aber auch den Anfängen der feministischen Kunst als offene Anklage in den 1970ern thematisiert werden, erstaunt nicht.
Die darauffolgende Abstraktion wirkt im Vergleich zu den bedeutungsschwangeren, surrealen Phantasien nahezu beruhigend. Die Formate wachsen, das Weiß der Leinwand strahlt, gestischer Farbauftrag und individuelle Handschrift bildeten einen Bruch mit der österreichischen Tradition, in der die Abstraktion zuvor kaum aufgenommen worden war. Zweifellos stand hinter dieser Neubewertung der „Weltsprache“ Abstraktion auch das Bildungsangebot der französischen und amerikanischen Besatzungsmächte. Darüber hinaus darf die Anziehungskraft von Paris nach Kriegsende nicht unterbewertet werden, reisten doch so unterschiedliche Künstlerinnen und Künstler wie Arik Brauer, Friedensreich Hundertwasser, Maria Lassnig und Arnulf Rainer dorthin.
Nachdem 1953 die Strohkoffer-Galerie des ART CLUB geschlossen wurde, übernahm neben der Galerie Würthle (geleitet von Fritz Wotruba) die 1954 gegründete Galerie St. Stephan (ab 1963 Galerie nächst St. Stephan) die Vermittlung zeitgenössischen, avantgardistischen Kunstschaffens in Wien. Erst 1962 folgte mit der Eröffnung des Museums des 20. Jahrhunderts durch Werner Hofmann (heute: Belvedere 21) der erste institutionelle Schritt. Aus diesem Grund ist die Position von Monsignore Otto Mauer, dem Begründer und Leiter der Galerie nächst St. Stephan, nicht überzubewerten. Die als „Gruppe St. Stephan“ titulierten vier Maler Wolfgang Hollegha, Markus Prachensky, Josef Mikl und Arnulf Rainer bestimmten das Ausstellungsprogramm mit ihren abstrakten Kompositionen. In der Albertina modern ergänzen noch der ältere Max Weiler (→ Max Weiler. Die Natur der Malerei), Hans Staudacher sowie die Plastiker und Wotruba-Schüler Rudolf Höflehner, Otto Eder und Andreas Urteil die Präsentation.
Der Übergang zum Wiener Aktionismus gelingt mithilfe zweiter Künstler-Räume für Friedensreich Hundertwasser und Arnulf Rainer. Friedensreich Hundertwassers bedeutungsvolle Spirallinien werden mit fragilen Drahtskulpturen Oswald Oberhubers formal in Beziehung gesetzt, obwohl Hundertwasser als Einzelphänomen zu gelten hat und sich völlig unabhängig machte. Die einzige „Verbindung“ ging er ein mit Ernst Fuchs und Arnulf Rainer, als sie 1959 die äußerst wenig erfolgreiche Kunstschule PINTORARIUM gründeten. Der subjektive Duktus aus Hundertwassers Spiralen ist bei Rainers Zentralisation von 1951 einem expressiven, ungezügelten Ausdruck gewichen, dem in einem dialektischen Schritt 1953 strenge Proportionsstudien folgten.
Der Wiener Aktionismus bricht – so vorbereitet – nicht so heftig ein, wie es wohl den Zeitgenossen vorgekommen sein musste. Günter Brus, Otto Muehl, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler werden in der Albertina modern in Verbindung gebracht mit Arnulf Rainers „Face Farces“ (1968/69) sowie der Abstraktion von Alfons Schilling. Von der Leinwand wechselten die Künstler auf ihre Körper (v.a. Brus, Schwarzkogler). Nitsch machte den Ritus der katholischen Kirche und das gemeinschaftliche Erleben für seine Kunst fruchtbar, während Adolf Frohner Materialerfahrungen nicht vor Publikum vollziehen wollte. Dass der Objektkünstler und gestisch-abstrakte Maler Alfons Schilling in Österreich wenig bekannt ist, hat mit seinem langjährigen Aufenthalt in New York zu tun (1962–1986).
Ein ähnliches Schicksal hätte wohl auch die Kärntner Künstlerin Kiki Kogelnik erfahren, wenn sie nicht in den 1990ern Glasköpfe in Murano fertigen lassen, die unglaublich populär waren und sind. Sie ist in der Abteilung „Pop in Austria“ übrigens die erste Künstlerin neben Ingeborg G. Pluhar und vor allem jene, die in direkter Auseinandersetzung mit den „Erfindern“ der amerikanischen Pop Art leuchtend bunte Objekte und Gemälde als Kritik an herrschenden Verhältnissen schuf. Die österreichische Pop Art nimmt den Konsumkult auf und verdreht ihn ins Fetischhafte (durchaus mit expliziten Anleihen und subversiven Formspielen) oder überspitzt Kindliche, wie es vor allem bei Christian Ludwig Attersee und Cornelius Kolig bzw. Peter Pongratz zu finden ist. Robert Lettner und Robert Klemmer zählen zu den Entdeckungen der Ausstellungsmacher. Dabei ist Klemmers „Die Hochzeit des Klemmers“ von 1963/64 aus der Sammlung Ph. Konzett eine äußerst frühe Auseinandersetzung mit der Medienwelt.
Gleichzeitig mit dem Wiener Aktionismus und dem österreichischen Pop arbeiteten Künstlerinnen und Künstler auch mit konstruktivistischen, konkreten und kinetischen Ausdrucksweisen (→ Op Art und Konkrete Kunst in Wien). Diese international vernetzten Kunstschaffenden, zu denen Marc Adrian, Roland Goeschl, Richard Kriesche, Dóra Maurer, Hermann J. Painitz und Helga Philipp zählen, führten die Malerei auf ihre grundlegendsten Elemente zurück und wandten sich spannenden Bewegungseffekten zu, die in der Folge auch zu Experimenten der Computerkunst führten. Der Kontrast zur Art Brut und der Figuration eines Franz Ringel oder einer Maria Lassnig, einer Florentina Pakosta und der Indesit-Serie von Martha Jungwirth in den angrenzenden Räumen könnte nicht größer sein.
Die Entwicklung von der Plastik bzw. Marmorskulptur (der phänomenale Sonny Liston (1965) von Alfred Hrdlicka) zur Objektkunst wird kompakt anhand von Werken von Wander Bertoni, Padhie Frieberger, Bruno Gironcoli, Walter Pichler durchdekliniert. Bertonis abstrakte Skulpturen treffen auf Assemblagen von Frieberger, Gironcolis sich eigentlich bewegende, unter Strom stehende Plastik (aufgrund alter Elektrik allerdings nicht in Betrieb) sieht man konfrontiert mit Pichlers architektonischem Bett.
Im Untergeschoss kommt die unterschwellige Auseinandersetzung mit der NS-Herrschaft und den Gräueltaten zum Ausbruch. Wichtige künstlerische Aussagen dazu trafen auf einer symbolischen Ebene Eduard Angeli (Schlacht von Gallipoli 1915) und sehr viel offensichtlicher Gottfried Helnwein und Reimo Wukounig. Gottfried Helnwein kaufte sich 1971 im österreichischen Magazin „Profil“ eine Doppelseite, um dort einen bissigen Kommentar zu den Euthanasie-Morden an Kindern am Spiegelgrund zu veröffentlichen. Der früh zum Vollweisen gewordene Künstler Wukounig stellte bereits in den 1970ern den Missbrauch in österreichischen Kinderheimen dar.
Den „Weg“ in den Feminismus bereitet eine Textarbeit von Peter Weibel: Das Wort RECHT ließ er mannigfaltig auf den Fußbodenkleben – das Publikum schreitet darüber und tritt darauf. Die Rechte der Frau fordern in der Folge VALIE EXPORT und die Künstlerinnen der Feministischen Avantgarde ein. Die Vorkämpferin des „feministischen Aktionismus“ nutzte Ende der 1960er den öffentlichen Raum, um mit durchaus provokanten Aktionen auf Zwänge und Tabus hinzuweisen. Auf VALIE EXPORT folgte eine Generation von Künstlerinnen, die Anfang der 1970er Jahre ihr Studium abgeschlossen haben und danach schnell an die gläserne Decke und Geschlechtererwartungen stießen. Befeuert von der in den USA beginnenden Debatte um die Rechte der Frau, schlossen sie sich 1977 zu IntAkt zusammen. Als Maria Lassnig als erste Künstlerin Österreichs eine Professur an der heutigen Angewandten erhielt, schien das Ziel vorerst erreicht. Doch zuvor hatten sie gesellschaftliche Erwartungen an Frauen – Stichwort der „3 K“ Kinder, Küche, Kirche – zu überwinden, indem sie sie pointiert und mit viel Humor zum Thema ihrer Werke machten. In diese „weibliche Welt“ ist der international renommierte Franz West eingebettet. Oder besser gesagt: die Künstlerinnen der „feministischen Avantgarde“ (ein Begriff von Gabriele Schor) werden auf die gleiche Ebene wie West gehoben!
Etwa 360 Werke von knapp 100 Künstlerinnen und Künstlern bilden die Entwicklungsgeschichte der österreichischen Kunst bis zur Postmoderne ab. Wie bereits oben angedeutet, finden sich einige Überraschungen darunter. Am wichtigsten scheint mir aber die Verankerung der feministischen Kunst und der Art Brut im institutionellen Kontext der Albertina zu sein. Als eine der geschichtsträchtigsten Kunstinstitutionen des Landes sieht Direktor Schröder die Funktion der Albertina auch darin, der österreichischen Kunstszene zu internationaler Wahrnehmung zu verhelfen. Was für Gustav Klimt und Egon Schiele schon gelungen ist, sollte mit „The Beginning“ weitergeführt werden.
Jede Definition eines Kanons muss gleichsam einen Widerspruch herausfordern. Worauf legten die Verantwortlichen besonderes Gewicht? Was ist vielleicht überrepräsentiert? Was fehlt? Wo wurden die Grenzen gezogen, sind doch weder Platz noch Ressourcen beliebig verfügbar? Vorausschickend soll festgehalten werden, dass der Überblick den Namen wahrhaft verdient. Alle wichtigen Künstlerinnen und Künstler sind mit monumentalen Werken vertreten – nur die Künstler der Art Brut überraschen durch Kleinformatiges.
Die Neuerer der österreichischen Kunst nach 1945 zu zeigen, schließt jene Künstler aus, die in diesen Jahren als Lehrende tätig waren. Eine Plastik Wotrubas steht am Eingang, eine Abstraktion Max Weilers hat es in die Gruppe der Galerie (nächst) St. Stephan geschafft (→ Max Weiler. Die Natur der Malerei). Wer Albert Paris Gütersloh als Lehrer der Phantasten oder Oskar Kokoschka als Initiator der „Schule des Sehens“ in Salzburg sucht, wird allerdings enttäuscht.
Der Gang durch die Kunst- und Stilgeschichte Österreichs in der Albertina Modern ist von der Dominanz der Malerei geprägt, Skulptur und Objektkunst ergänzen die Arbeiten an den Wänden. Einzig zwei Räume sind gänzlich der Bildhauerei gewidmet, die allerdings im 20. Jahrhundert die radikalsten Veränderungen durchmachte, um in den 1960er Jahren im Happening und in Installation oder Lichtkunst weitergeführt zu werden. Für die so bedeutende österreichische Architekturszene ist weiterhin einzig das Architekturzentrum zuständig.
Die Idee, österreichische Kunstschaffende in altbekannten Gruppen (Phantasten, Galerie (nächst) St. Stephan, Aktionisten, die Feministinnen etc.) und einige wenige Künstlerräume (Lassnig, Rainer) zu strukturieren, geht prinzipiell auf. Oswald Oberhuber und Friedensreich Hundertwasser bzw. Franz West und die Feministische Avantgarde nebeneinander aufzustellen, liegt nur in der Chronologie der Werke begründet – bei Oberhuber/Hundertwasser wohl auch an der formalen Ähnlichkeit der Arbeiten bei allerdings gänzlich unterschiedlicher Aussage und Bedeutung. Am schwersten wiegt sicherlich der Verzicht auf die neuen Medien, die spätestens seit den 1970er Jahren den Kunstdiskus maßgeblich mitprägten: Fotografie, Avantgardefilm, Video und Computerkunst schafften es nicht in die Auswahl, was Direktor Schröder mit dem Hinweis auf die Konzentration auf „bildende Kunst“ argumentierte. Einzig Fotografien von Aktionen der 1960er Jahre und der feministischen Künstlerinnen VALIE EXPORT und Margot Pilz sowie die VALIE EXPORTS Video-Installation „I (beat [it]) II“ von 1980 erinnern an mediensprengende Konzepte und Haltungen.
Fazit: Gut gemachter Überblick über die Malerei- und Bildhauereigeschichte Österreichs (Wiens), der bewusst macht, dass eine ständige Präsentation dieses Kanons auf so breiter Basis (!) schmerzlich vermisst wird.
Marc Adrian | Eduard Angeli | Christian Ludwig Attersee | Joannis Avramidis | Josef Bauer | Renate Bertlmann | Wander Bertoni | Lieselott Beschorner | Hans Bischoffshausen | Arik Brauer | Günter Brus | Linda Christanell | Otto Eder | VALIE EXPORT | Gerda Fassel | Padhi Frieberger | Adolf Frohner | Ernst Fuchs | Bruno Gironcoli | Roland Goeschl | Jorg Hartig | Johann Hauser | Rudolf Hausner | Gottfried Helnwein | Wolfgang Herzig | Rudolf Hoflehner | Wolfgang Hollegha | Alfred Hrdlicka | Friedensreich Hundertwasser | Wolfgang Hutter | Hildegard Joos | Martha Jungwirth | Birgit Jürgenssen | Robert Klemmer | Kiki Kogelnik | Cornelius Kolig | Richard Kriesche | Auguste Kronheim | Maria Lassnig | Anton Lehmden | Robert Lettner | Karin Mack | Dóra Maurer | Josef Mikl | Otto Muehl | Hermann Nitsch | Oswald Oberhuber | Hermann J. Painitz | Florentina Pakosta | Max Peintner | Friederike Pezold | Helga Philipp | Walter Pichler | Margot Pilz | Ingeborg G. Pluhar | Peter Pongratz | Markus Prachensky | Arnulf Rainer | Franz Ringel | Alfons Schilling | Rudolf Schwarzkogler | Hans Staudacher | Curt Stenvert | Ida Szigethy | Erwin Thorn | Oswald Tschirtner | Andreas Urteil | August Walla | Peter Weibel | Max Weiler | Susanne Wenger | Franz West | Fritz Wotruba | Reimo Wukounig | Franz Zadrazil | Ernst Zdrahal
Klaus Albrecht Schröder (Hg.)
mit Beiträgen von Brigitte Borchhardt-Birbaumer, Elisabeth Dutz, Berthold Ecker, Robert Fleck, Antonia Hoerschelmann, Verena Krieger, Konrad Paul Liessmann, Thomas Mießgang, Klaus Albrecht Schröder und Angela Stief
496 Seiten, 650 Abbildungen in Farbe
28,5 × 24,5 cm, gebunden
ISBN 978-3-7774-3509-1
HIRMER VERLAG