Carlo Carrà (1881–1966) im Palazzo Reale – Mailand feiert den bedeutenden italienischen Künstler und Kunstschriftsteller des 20. Jahrhunderts. Es handelt sich um die dritte große Retrospektive, die dem Maler und Akademieprofessor der Brera gewidmet wird. Mehr als 100 Gemälde, Schriften und ergänzendes Filmmaterial wurden aus ganz Italien und der Welt zusammengetragen. Die Ausstellung zeichnet Carràs künstlerische Entwicklungsstufen geradlinig nach.
Italien | Mailand: Palazzo Reale
4.10.2018 – 3.2.2019
„Die Kunst ist ein Dialog zwischen dem Menschen und seiner Seele“ (Giuseppe Ungaretti erinnert sich an das Motto von Carlo Carrà, 1920)
Carlo Carrà stammte aus Quargnent (Alessandria) im norditalienischen Piemont. Der Künstler lernte in Valenza Stuckateur und zog 1895 im Alter von 14 Jahren nach Mailand. Dort belegte er, zunächst berufsbegleitend, die Abendschule der Akademie in Brera. In der Galerie Grubicy lernte er er die Kunst Giovanni Segantinis kennen und war tief beeindruckt. Noch lebte Carlo Carrà von seiner Arbeit als Stuckateur – im Jahr 1898 arbeitete er an einer Kirche in Monza.
Im Jahr 1900 fuhr Carlo Carrà zur Weltausstellung nach Paris. Er bewunderte die französischen Romantiker im Louvre, Courbet begeisterte ihn im Petit Palais. Im Luxemburg-Pavillon sah Carrà zum ersten Mal die französischen Avantgardekünstler des Impressionismus – Pierre-Auguste Renoir, Paul Cézanne, Camille Pissarro, Alfred Sisley, Claude Monet, Paul Gauguin. Seine Bildungsreise führte ihn weiter nach London: Hier beeindruckten ihn die Gemälde von John Constable und William Turner.
Zurück in Italien wandte sich Carrà vermehrt der Malerei zu. Erst 1904/05 konnte er die Kunstgewerbeschule im Castello Sforzesco besuchen. Seine frühen Landschaften sind vom lombardischen Naturalismus und impressionistischen Divisionismus geprägt (→ Postimpressionismus | Pointillismus | Divisionismus). In diesem Sinne trug er subtil abgetönte, farbige Striche voneinander getrennt auf. Das führt dazu, dass Carràs Bilder erst aus der Distanz wirken. Rasch stellte sich ein erster Erfolg ein: 1905 gewann Carlo Carrà zwei Preise der Kunstgewerbeschule. Sein Onkel gab ihm daraufhin Geld, so dass er ab dem folgenden Jahr ganztags Malerei an der Accademia di Brera studieren konnte. Damit beginnt auch die Ausstellung im Palazzo Reale: Die „Allegorie der Arbeit” (1905), ein frühes monumentales Werk, eröffnet die Schau.
Die Besucher erwarten Stadtszenerien, wie „Notturno a Piazza Beccaria [Nacht auf dem Platz Beccaria]” (1910), „Uscita da teatro [Theaterausgang]” (1909/10) oder „Stazione a Milano [Haltestelle in Mailand]” (1910/11). Carràs Koloristik ist in dieser Schaffensphase bunt und intensiv. Einige Werke im ersten Saal zeigen wie sehr Carrà noch experimentierte. Objekte werden kubistisch fragmentiert, es wird mit Zeitungsartikeln und lautmalerischen Wortspielen collagiert. „Per la strada (Parco Tot)“ (1914) oder „Composizione grafica buuu” (1914) spucken wie Werbeplakate Botschaften aus. Die schwarz-weißen Drucke hängen neben klassischen Ölgemälden, Tuschezeichnungen und Temperamalerei auf Pappe. Die Großstadt als zersplittertes Gewimmel steht, wie für den Futurismus charakteristisch, im Zentrum der Beobachtung.
Von Mailand breitete sich 1909/10 der Futurismus aus, jene italienische Avantgarde, welche das Leben des beginnenden 20. Jahrhunderts in seiner Dynamik, Bewegung und Fortschrittlichkeit zu fassen suchte (1909–1916). Carrà schloss sich der progressiven Bewegung 1910 an und gehörte neben Umberto Boccioni, Luigi Russolo, Giacomo Balla und Gino Severini zu ihren Hauptvertretern1: Als Gruppe erklärten sie allen Institutionen den Krieg, welche an der „Tradition, dem Akademismus“ und der „geistigen Trägheit“ festhielten. Er studierte selbst Revolutionstheorien und lernte den Anarchisten Angelo Galli kennen (gest. 1904), dessen Tod er 1910/11 in dem futuristischen Gemälde „Funerali dell’ anarchico Galli“ (MoMA) fassen würde. Carràs Bekanntenkreis erweiterte sich um Libertäre und Sozialisten wie Aldo Palazzeschi und viele andere.
Im März 1915 unterstützte Carrà noch die Kriegsinterventionisten, er publizierte seine „Guerrapittura. Futurismo politico, dinamismo plastico, 12 disegni guerreschi, parole in liberta”. Das Buch beginnt mit 12 Reproduktionen von Kriegszeichnungen, gefolgt von Collagen, politischen Fragmenten, „Worte in Freiheit [parole in libertà]“, theoretischen Schriften zur Kunst und zwei politisch-futuristischen Plakaten. Hierin propagierte er besonders vehement die Gleichsetzung von Kunst und Krieg, sah im Weltkonflikt eine Möglichkeit zur Katharsis. Am 23. Mai 1915 wechselte Italien vom Dreibund und einer neutralen Haltung zu den Entente-Mächten, mit denen es gemeinsam in den Krieg gegen Deutschland und Östereich-Ungarn eintrat. Carlo Carrà brach daraufhin im Juli 1915 so überraschend wie abrupt die futuristische Schaffensphase ab und wandte sich der klassischen Florentiner Kunst zu – besonders Giotto di Bondone begeisterte ihn nun. Giovanni Papini erklärte er einfach, er kehrte zu primitiven, konkreten Formen zurück, weil er sich fühlte wie ein Giotto seiner Zeit.2
„Der schreckliche Krieg hat mit seiner mächtigen Stimme zu mir gesprochen. Er hat mir die Aufgabe klargestellt, die mir von der Natur gesandt ist. […] Wie viele geistige Güter hat mir dieser Krieg schon gebracht. Ich weiß jetzt, dass meine Pflicht und meine Tat das Singen sind: tragisch singen, singen, bis das Herz zerbricht. Diese meine Pflicht als Künstler besitzt mich heute und für immer. Ich weiß, dass es die größte der Pflichten ist. Das Schicksal hat gesprochen: Du musst.“ (Carlo Carrà)
1917 traf Carlo Carrà in einer Klinik außerhalb von Ferrara auf Giorgio de Chirico und dessen Bruder Alberto Savinio. Gemeinsam gründen sie die Metaphysische Schule [pittura metafisica → Giorgio de Chirico: Das Geheimnis der Arkade]. Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs, welchen die Futuristen als die Realisierung ihrer Ideen begrüßt hatten, bedeutet zugleich die Abkehr vieler Futuristen vom ursprünglichen Bekenntnis.3 An einer Wand findet sich ein Zitat von Carrà: Die metaphysische Malerei sei eine Suche, um Realität und innere Anschauungen im Bild enger zusammenzubringen.
„Madre e figlio [Mutter und Sohn]” (1917) – eine gesichtslose Holzpuppe, ein Manichino, im Matrosenanzug, wohl der titelgebende Sohn, darunter liegen Würfel, Ball und eine Spielzeugorgel. Der Junge wird mit einem Maßband vermessen. Die „Büste“ seiner Mutter, ebenfalls ein Manichino, im Harnisch steht rechts neben ihm im Bild. Die beiden leblosen Figuren befinden sich in einem den Blick verengenden Schachtelraum. Der Betrachter gerät ins Rätseln über die verschiedenen Bildobjekte.
„La Musa metafisica” (1917) zeigt einmal mehr eine gesichtslose Grisaille-Figur, welche Ball und Tennisschläger wie Attribute in den Händen hält. So gewinnt die adrett gekleidete Figur allegorischen Charakter, heißt sie doch auf Deutsch übersetzt „Die metaphysische Muse“. Daneben steht eine leuchtend-farbige Zielscheibe, dahinter eine mit Treffern punktierte Karte. Im Hintergrund stehen ein farbiger Zylinder und eine gemalte Stadtansicht, ein Leinwandgemälde. Die Komposition löst Verwirrung aus. Carlo Carrà malte in grellen rot-orangen Tönen und verwendete ein giftiges Grün. Daneben setzte er aber auch gedeckte Farben ein – Braun, Ocker, Grau und weitere gedämpfte Mischfarben. So gelingt es ihm, alltägliche Gegenstände in ein anderes, rätselhaftes Licht zu rücken. Höhe- und auch Endpunkt dieser metaphysischen Experimente ist Carràs kunsttheoretische Schrift „Pittura metafisica”, die 1918 erschien.
Vergleichbar den Stilentwicklungen bei Pablo Picasso, Georges Braque, Fernand Leger und den Künstlern der Neuen Sachlichkeit wandte sich auch Carlo Carrà ab 1916 in seiner metaphysischen Phase der Neubegründung der Kunst in der Auseinandersetzung mit der Tradition zu (→ Unheimlich real. Italienische Malerei der 1920er Jahre). Nachdem der Krieg geschlagen war, und er 1919 geheiratet hatte, beruhigte sich sein zuvor politisiertes Leben. Zur gleichen Zeit begegnete er erstmals Giorgio Morandi, dem Maler der ruhigen Stillleben, den er zeitlebens als Mensch und Künstler sehr schätzte. Ab 1920 zog sich Carrà aus dem gesellschaftlichen Leben zurück.
1921 entstand, während eines Sommeraufenthalts in Ligurien, sein berühmtestes Werk – „Il pino sul mare” (Privatsammlung). Eine Pinie steht am Wasser. Zu sehen sind eine Pinie, lehmiger Boden, Meer, viel Himmel und ein weißes Laken, welches auf einem Wäscheständer trocknet, Haus und Fels. Dieses Gemälde war der Auftakt für Carràs längste Schaffensphase. Der Maler wandte sich in seinem reifen Werk ganz der Landschaftsmalerei zu. Die folgenden Ausstellungssäle im Palazzo Reale zeigen Carràs stimmungsvolle, atmosphärische Landschaften in allen Variationen: Seestücke, Wiesen, Flussmündungen, Schiffsszenerien.
Ein Saal widmet sich der beiden 1938 fertiggestellten Fresken im Palazzo di Giustizia in Mailand: „Giudizio universale [Jüngstes Gericht]“ und „Giustiniano libera lo schiavo [Justinian befreit den Sklaven]“. Die Darstellungen von Christus und Justinian sind als Fotoabzüge im Raum installiert. Kartons für einzelne Figuren in Form von monumentalen Kohlezeichnungen demonstrieren, wie Carlo Carrà die Komposition entwickelte, wie er mit den Körpern und deren Volumina im Raum arbeitete.
Carrà thematisierte in seinem späten Werk den menschlichen Körper. Archaische, große, den Raum einnehmende Figurengruppen, nackte Badende, Gruppen nackter Männer oder Frauen wirken urwüchsig und mit Hilfe ihrer wuchtigen Volumina, die das Meer zerteilen und die Fläche strukturieren. Sie strahlen Ruhe aus und sind von monumentaler Kraft. Die Körper wirken massig und dabei doch leise, umgänglich, den sie umgebenden Raum mäßigend und von beruhigender Schönheit.
1941 wurde Carrà als Professor an die Accademia di Brera berufen. 1942 widmet ihm die Pinakothek der Brera eine erste Retrospektive, im gleichen Jahr erschien eine Autobiographie. 1950 durfte Carrà auf der Biennale in Venedig einen eigenen Raum bestücken, 1955 und 1964 war er auf der documenta I und der documenta III in Kassel vertreten. Am 13. April 1966 starb Carlo Carrà in Mailand. Was von ihm blieb? Das italienische Novecento verdankt dem bedeutenden Maler und Lehrer stilbildende Impulse.
Kuratiert von Maria Cristina Bandera.