Lucian Freud (1922-2011) verbindet viel mit Berlin, ist der Enkel von Sigmund Freud doch 1922 in dieser Stadt geboren worden. 1933 floh er gemeinsam mit seiner Familie nach London, wo der außergewöhnlich begabte, wenn auch Hierarchien abgeneigte Schüler sich der Kunst zuwandte. Die Radierungen des bedeutenden britischen Malers lassen einen „näheren Blick“ auf dessen Werk zu1: „Ich dachte, ich könnte mir etwas zu eigen machen, das vielleicht auf diese Weise nicht gesehen oder übersehen worden wäre.“2 (Lucian Freud) Die in Berlin präsentierten 50 Radierungen wurden von von Donald Marron gesammelt und gehören der UBS Art Collection.3 Nur das Aquarell „Selbstporträt“4 (1974) und die Gemälde „Doppelporträt“5 (1988-1990) und „Kopf eines nackten Mädchens“6 (1999) bilden Ausnahmen. Ergänzt wird die Firmensammlung durch zehn Zustandsdrucke der „Liegenden Figur“7 (1994) aus einer englischen Privatsammlung. Sie zeigt die langsame, von permanenten Korrekturen durchzogene Arbeitsweise des Briten mit deutschen Wurzeln.
Deutschland / Berlin: Martin-Gropius-Bau
22.7. - 22.10.2017
Dänemark / Humlebæk: Louisiana
3.9. - 29.11.2015
Erst mit sechzig Jahren im Jahr 1982 widmete sich Lucian Freud ernsthaft der Radierung.8 Immer handelt es sich um markante Darstellungen von Menschen, darunter auch seine Tochter Bella und die omnipräsente Mutter. In den Werken wollte sich der Künstler über ihr Wesen klar werden. Selten widmete sich der Londoner der Natur wie in „Landschaft“ (1993), „Garten im Winter“ (1999) oder „Distel“ (1985).
In Berlin gelingt der Vergleich zwischen Malerei und Druckgrafik durch die Gegenüberstellung des Gemäldes „Doppelporträt“ (1988/89) und der Radierung „Pluto“ (1988). Beide im gleichen Jahr begonnen, zeigt es den den Whippet-Hund und sein Frauchen Susanna Chancellor in inniger Verbindung. Das Gemälde besticht durch seinen pastosen Farbauftrag, für den der späte Freud berühmt ist, während die Radierung sparsam und die Linien betonend wirkt. Die Malerei von Lucian Freud ist eine langsam entwickelte (für die Vollendung eines Bildes benötigte Freud zwischen drei und 18 Monaten!), die gleichberechtigte Radierung konzentriert sich auf das Herausarbeiten des Umrisses, der Vergewisserung der Linie.
Anders Kold sieht in der Radierung „Das ägyptische Buch“9 (1994) eine zentrale Arbeit, in der sich Freud nicht nur mit dem Land seiner Kindheit auseinandersetzte, sondern auch mit seiner eigenen Kunst. Er nutzte eine Doppelseite mit schwarz-weiß Reproduktionen Pharaonenköpfen aus J.H. Breasteds „Geschichte Ägyptens“ (1936) als Quelle und deutete die Skulpturen aus dem Berliner Museum völlig um. Auch wenn er den räumlichen Kontext und den Status der Illustrationen als Abbilder nicht verheimlicht, werden unter der Hand von Lucien Freud aus steinernen Zeugnissen lebendige Gesichter.
Im Gegensatz dazu sind die Porträts meist ohne Umgebung aufgefasst, wenn doch handelt es sich um das Atelier von Freud. Da die meisten Personen nackt posieren und einige von ihnen auch schlafen, sind sie weder sozial noch räumlich einzuordnen. Was er von diesen Modellen für seine Werke übernahm, überließ er seinem Urteil. Seiner Ansicht nach war es unmoralisch etwas zuzufügen, aber nicht verwerflich, etwas wegzulassen.10 Aber er näherte sich ihnen mit unnachgiebiger Beobachtungsgabe und Intensität der Wiedergabe. In seltenen Fällen scheinen die Gesichter das Bildformat zu sprengen, besonders bei „Cerith“ (1989), dessen Ausdruck er mit Pastellkreide noch verstärkte. Und doch ist seine Tochter „Bella in ihrem Pluto T-Shirt“11 (1995) die einzige, die ein Lächeln andeutet.
Sonst ist in seinen Radierungen alles da, was das Werk Lucian Freuds auszeichnet: Er widmete sich mit Hingabe alterndem Fleisch, Hängebrüsten, Falten und Flecken, die in der medialisierten Welt des späten 20. Jahrhunderts längst aus der öffentlichen Wahrnehmung entfernt worden waren.12 Und dabei war er weit entfernt von Mitgefühl oder gar Sentimentalität. Vor allem in den Bildern seiner eigenen Mutter oder auch dem scheinbar starken, jedoch an AIDS erkrankten Leigh Bowery wird dieser Zugang deutlich. Der Londoner Performance-Künstler Bowery war auch das Modell für „Liegende Figur“ (→ EXTRAVAGANZA: Staging Leigh Bowery). Die ersten beiden Zustände zeigen, wie Freud die kaum sichtbaren Gesichtszüge mit Pastell und Kreide herausarbeitete und gleich wieder verwischte. In dieser Abfolge wird Zeit sichtbar. Zeit, die sich der Künstler selbst nicht gab. Er arbeitete ohne Unterlass in seinem Atelier und wünschte sich sogar, mit dem Pinsel in der Hand zu sterben. Davor schuf er mit Hingabe ein figuratives Werk, das zu den besten seiner Zeit gehört und gleichzeitig aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Während sich Freunde wie Francis Bacon der Zerstörung des menschlichen Körpers verschrieb und Frank Auerbach die Abstraktion hoch hielt, blieb Lucian Freud der realistischen Malerei treu. Dass es ihm gelang, damit Aussagen über die Existenz des Menschen und dessen psychischer Verfasstheit zu treffen, wird nicht nur in den Gemälden, sondern auch den Radierungen aus seinem Spätwerk klar.
Michael Juul Holm, Anders Kold (Hg.)
mit Beiträgen von A. Kold, R. Cork
112 S., Kopenhagen 2015
Strandberg Publishing
Anders Kold, Freud’s Man and Beast, S. 6-11.
Richard Cork, Lucian Freud: The Trenchant Gaze, S. 12-26.