Mann und Frau werden eins – oder doch nicht? Phallus und Vagina stehen einander in der Mitte des Bildes diametral gegenüber. Kaum ist erkennbar, zu welchem Körper welches Bein gehört, wie die deutlich ausgezeichneten Brüste links oder der Bauchnabel rechts mit der Anatomie der Figuren in Übereinstimmung zu bringen ist. Der linke, wohl weibliche Körper streckt einen Arm nach oben, während der rechte mit seinen Armen sein Gesicht verdeckt. Obwohl die Körper orgiastisch miteinander verschränkt sind, will doch kein rechtes Gefühl einer glücklichen Vereinigung aufkommen. „Die Umarmung“ ist das letzte Gemälde, das Pablo Picasso am 1. Juni 1971 fertig stellte.
Österreich | Wien: Albertina
22.9.2006 – 7.1.2007
Wie Werner Spies überzeugend zeigt, sind die zentralen Themen der Kunst des späten Picasso Liebe und Tod, Eros und Thanatos, eine Auseinandersetzung mit der ihm davonlaufenden Zeit, der zunehmenden Vereinsamung des Maler-Fürsten des 20. Jahrhunderts. Ohne ins Melodramatische oder Plakative abzugleiten, zeigt uns der gealterte Künstler Existentielles wie auch Persönliches.
Die Kreidezeichnung „Kopf (Selbstportrait), 30. Juni 1972“ lässt tief blicken: Weit aufgerissene Augen starren uns an. Die wuchtige Nase teilt das Gesicht, der Mund ist zu zwei Strichen zusammengepresst. Falten unter den Augen, an der Stirn und im Wangenbereich wirken wie eingemeißelt. Am meisten irritiert aber der starre Blick aus den ungleichen Augen. Dürfen wir in ihm Hoffnungslosigkeit oder gar Angst lesen? Das Auge ist dem Maler alles: wichtigstes Sinnesorgan und ausdrucksstarkes Motiv. Es ist in der Lage, wortlos zu sprechen, gilt seit der Antike als „Seelenfenster“. Zudem erschließen die Augen der Betrachter_innen die Malerei, indem sie über die Oberfläche der Bilder tasten. Ein Vergleich mit einer nahezu zeitgleichen Portraitaufnahme zeigt die Schonungslosigkeit, die Picasso seinem Selbstportrait hat angedeihen lassen: eingefallene Wangen, das von Falten tief zerfurchte Gesicht, der schmale Mund, die Betonung der „Denkerfalte“ zwischen den Augenbrauen finden sich auch in der Fotografie – nicht jedoch die großen Augen, die die Papierarbeit so beseelt erscheinen lassen. Sie bleiben geheimnisvoll.
Das „Alterswerk“1 Pablo Picassos ist in Südfrankreich, genauer ab Juni 1961 in seinem Landhaus Notre-Dame-de-Vie in Mougins, entstanden. Der Maler hatte sich dorthin mit seiner frisch angetrauten Frau Jacqueline Roque zurückgezogen, malte und zeichnete mehr als in den Jahrzehnten davor. Die Schaffenskraft des bereits über 80jährigen entfaltete sich zu einem ungeheuren Furor, den Werner Spies überzeugend mit Malen gegen die Zeit erklärt. Der Maler selbst fand dafür folgende Worte: „Ich habe den Eindruck, dass die Zeit immer schneller an mir vorüberzieht. Ich bin wie ein Fluss, der sich weiterwälzt und Bäume mit sich führt, die zu nahe an seinen Ufern wuchsen, oder tote Kälber, die man hineingeworfen hat, oder alle mögliche Mikroben, die in ihm gedeihen.“ Das Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit und darüber hinaus das Wissen um die Unabwendbarkeit dieses Schicksals führten zu einem künstlerischen Mitteilungsbedürfnis, das alles Gesehene noch heute übertrifft.
Picasso malte hauptsächlich in der Nacht, teilte sich die Zeit genau ein und gewährte sich für jedes Werk, sei es eine kleinformatige Graphik oder ein großformatiges Gemälde dieselbe Zeit. So sind die den Medien innewohnenden Unterschiede in der Ausführung erklärbar und deutlich an Werken wie „Weiblicher Akt mit Putto und Hahn, 20. September 1967“ und „Frau mit Vogel und Flötenspieler, 9. November 1967“ erkennbar. Neben dem „alten Wilden“, wie die Kunstkritik den gereiften Picasso scherzhaft getauft hat, der die Schnelligkeit der Ausführung als Teil des kreativen Prozesses respektierte, war der Graphiker Picasso an erzählerischen Details interessiert, arbeitete alle Formen differenziert aus.
Diese Arbeitsorganisation hatte einen eminenten Einfluss nicht nur auf die Ausführung der Werke, sondern auch auf die Inszenierung seiner Motive. Zwischen August 1959 und Juli 1962 bestimmte die Auseinandersetzung mit Manets „Frühstück im Grünen“ das Œuvre Picassos. Es entstanden in diesem Zeitraum 27 Gemälde und mehr als 150 Graphiken sowie mehrere Skulpturen. „Das Frühstück im Grünen, 29. Februar 1960“ zeigt drei Figuren in einer grünen Landschaft, die flächig gegeben sind. Die einzelnen Elemente der Komposition fügen sich ohne Überschneidungen nebeneinander, und doch ist der Tiefenraum noch nachvollziehbar. Die Geschichte wird detailreich erzählt.
„Matador und weiblicher Akt, 17. Oktober 1970“ ist ein typisches Werk des letzten Dezenniums von Picassos Schaffen: Die Figuren werden bildfüllend in den Vordergrund gerückt. Der Künstler beschäftigt sich nur mehr mit der menschlichen Gestalt, alles schmückende Beiwerk wird eliminiert. Matador und Musketier sind die männlichen Stars in der Mythenwelt des gealterten Malers. Als Symbol des Siegers präsentiert der Kämpe uns eine unbekleidete Frau wie einen Pokal.
Frauen spielten im Leben Picassos immer eine wichtige Rolle, scherzhaft wurde bereits formuliert, dass er seinen Malstil so oft wechselte wie seine Beziehungen (→ Picassos erste Frau: Olga Picasso / Museum Barberini: Picasso. Das späte Werk. Aus der Sammlung Jacqueline Picasso). So ist es nicht verwunderlich, dass das Thema Frau sein gesamtes Oeuvre durchzieht. „Der Maler und sein Modell, 3.-8. April 1963“ ist nur ein Beispiel des Facettenreichtums seiner Frauendarstellungen. Verletzlich wirkt die mädchenhaft zusammengekauerte Frau, und obwohl dem Modell gleich viel Platz eingeräumt wird wie dem Maler, bleibt doch die „althergebrachte“ Ordnung des aktiven, malenden Mannes und der passiven, betrachteten Frau bestehen. Das Verhältnis Picassos zu seinen Frauen war oftmals ein schwieriges, von intensiven Gefühlen von Glück aber auch Abschied geprägtes. Oder wie Picasso es selbst beschrieb: „Ich denke ständig an den Tod. Sie ist die einzige Frau, die mich nie verlässt.“ Wie schon gesagt: Mann und Frau werden eins – oder doch nicht?