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Alberto Giacometti. Der Ursprung des Raumes Skulpturen schaffen Raum

Alberto Giacometti, Der Ursprung des Raumes, Hatje Cantz (Cover).

Alberto Giacometti, Der Ursprung des Raumes, Hatje Cantz (Cover).

Gemeinsam erarbeiteten das Kunstmuseum Wolfsburg (D) und das Salzburger Museum der Moderne (A) eine Ausstellung über den Bildhauer und Maler Alberto Giacometti (1901–1966), in der das Thema „Raum“ eine zentrale Stellung einnimmt. Wie Markus Brüderlin in der Einführung des Katalogs betont, sei es nötig, das „Raumproblem“ als neue inhaltliche Dimension zu entwickeln und dies über spezielle Ausstellungsarchitektur zu vermitteln. Die Ausstellung wird vom 26. März bis zum 3. Juli 2011 in Salzburg zu sehen sein.

„Der Raum existiert nicht, man muss ihn schaffen“

Markus Brüderlin baut sein Konzept auf einen wichtigen Satz Giacomettis: „Der Raum existiert nicht, man muss ihn schaffen“ (1949). Zwischen 1939 und 1945 hatte sich der Künstler kaum stecknadelgroße Skulpturen erarbeitet, entwickelte in den späten 40ern seine berühmten, stehenden und gehenden Figuren und wandte sich von den 50er Jahren bis zu seinem Tod 1966 Köpfen und Büsten zu. Bereits 1977 attestierte Gottfried Boehm den Skulpturen Giacomettis, dass sie einen „eigenen, plastischen Raum“ kreieren würden; d.h. nicht einfach im Raum stünden, sondern ihrerseits durch ihre unterschiedlichen Größen und ihre unruhigen Oberflächen Raum schaffen würden. Die Leere des Raumes, die durch die hieratisch aufgeladenen, masselosen Skulpturen Giacomettis besonders spürbar wird, wird daher mit dem Heideggerischen „Leere ist nicht nichts“ in Verbindung gebracht. Eine weitere Strategie Bürderlins ist, Giacometti in Zusammenhang mit Künstlern wie Barnett Newman und Bruce Nauman zu bringen (→ Piet Mondrian - Barnett Newman - Dan Flavin). Giacometti und Newman verbindet der Begriff der „Erhabenheit“, der auch Zeitlosigkeit und die Suche nach dem Absoluten beinhaltet. Ferne und Nähe würden in den Figuren Giacomettis konvergieren genauso wie die Benjaminschen Begriffe von „Aura“ (= Empfinden von Ferne eines nahen Objektes) und „Spur“ (= Empfinden von Nähe eines entfernten Objektes). Potentielle Bewegungen, eingefroren in den Skulpturen (siehe Abb. 1 „Taumelnder Mann“, 1950), suggerieren Raum und Zeitlichkeit. Eine ähnliche Funktion haben auch die innerbildlichen Rahmen, die Sockel und die Käfige im Schaffen Giacomettis. Diese „Verkörperung von Raum“ und die „Verräumlichung von Körpern“ wäre, so Brüderlin, ein bedeutender Beitrag Giacomettis zu Entwicklung der raumästhetischen Kunst der Gegenwart.

 

 

Raumfragen

Gottfried Boehm referiert in seinem Katalogbeitrag, dass Raum erst seit dem 18. Jahrhundert in der Kunsttheorie thematisiert wurde (z.B. Lessing, Kant, Hildebrand). Erst im 20. Jahrhundert sei Raum jedoch keine fixe Größe mehr, sondern würde in Bezug zum Messenden gesetzt. Giacometti begann Mitte der 1930er Jahre aus der Unmöglichkeit eine Figur in ihrer Gesamtheit zu erfassen deren Form zu verflüssigen. Durch unruhige Oberflächen und hyperschlanke Gestalten schuf er „Äquivalente der Leere“ und nach Jean-Paul Sartre die „absolute Distanz“.

Toni Stooss zeichnet in seiner kunsthistorischen Analyse die stilistische Entwicklung des Bildhauers nach, wobei der Fokus auf den Porträts der Spätzeit liegt. Ab 1950/51 arbeitete Giacometti systematisch an Porträtbüsten, die Stooss in Stilvarianten wie dem „Kreuzschema“ (um 1950) oder den „vibrierenden Figurenstil“ einteilt.

 

 

Erst am Ende des Katalogs findet sich der Artikel mit dem rezentesten Ansatz: „Alberto Giacometti und die Erfindung des Virtual Space“ von Brüderlin und Wallner. Auch wenn sich die „Wurzeln des elektronischen Cyberspace und Giacomettis skeptischer Untersuchung des Raums“ deutlich unterscheiden, wie die Autoren festhalten, so würde doch seine Idee des imaginären Raums mit der Entdeckung virtueller „Räumlichkeiten“ zusammenfallen. Die Anonymität mancher Figuren Giacomettis, sein Versuch, Zeit als Raum darzustellen (damit wird alles Vergangene gleichzeitig fassbar aber räumlich differenziert), und die Frage nach der Identität des Individuums sind jene Anknüpfungspunkte, die das Werk des Schweizers mit dem Cyberspace verbinden. So verdient dieser neue Ansatz um eine neue Lektüre von Giacomettis Werk ist, so inkongruent wirkt dennoch der Text. Dies hat vornehmlich mit dem undifferenzierten Einsatz der Begriffe Cyberspace, Virtuelle Realität und Virtueller Raum und der Argumentationsmethode der Autoren zu tun. Sie zitieren den Künstler wörtlich und versuchen dann - wenn auch mit aller Vorsicht - Giacomettis Selbstanalysen mit den Konzepten des virtualisierten Raumes parallel zu lesen: ein komplexes Problem zu einfach abgehandelt!

Fazit: Der ambitionierte Versuch, einen bekannten Künstler neu zu betrachten, führte zu einer interessanten Ausstellung und einem Buch mit methodisch sehr unterschiedlichen Texten (von einer stark philosophisch geprägten Diskussion über traditionell kunsthistorischen Aufsätzen). Wenn auch sicher noch nicht das letzte Wort vom „Raumproblem“ gesprochen ist, so verdient das Ausstellungsprojekt für das Eröffnen eines neuen Diskursfeldes dennoch Beachtung.

 

Alberto Giacometti. Der Ursprung des Raumes: Ausstellungskatalog

Markus Brüderlin & Toni Stooss (Hg.)
mit Texten von G. Boehm, M. Brüderlin, Th. Schütte, T. Stooss, J. Wallner
Gestaltung von Double Standards
2010. 256 Seiten, 230 farbige Abb., 25,20 x 31,60 cm, geb. mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-7757-2714-3 (dt)
€ 39,80 [D] / 56,90 CHF
Hatje Cantz

Markus Brüderlin: Einführung – Skulptur und Höhle und der Ursprung des Raumes. Giacomettis Revolutionierung des plastischen Raumbegriffs, S. 14-37.
Gottfried Boehm: Der Dämon der Leere. Alberto Giacomettis Räume, S. 40-49.
Toni Stoos: Porträts im Raum. Eine Annäherung an die Büsten Alberto Giacomettis, S. 184-201.
Julia Wallner im Gespräch mit Thomas Schütte: Giacometti wollte immer etwas anderes, S. 208-211.
Markus Brüderlin und Julia Wallner: Alberto Giacometti und die Erfindung des Virtual Space, S. 214-219.
Jean-Paul Sartre: Die Suche nach dem Absoluten, S. 232-237.
Jean-Paul Sartre: Die Gemälde Giacomettis, S. 238-243.

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Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.