Artemisia Gentileschi (1593–1652), die berühmteste Malerin des Barock, wurde 1638 von König Karl I. nach London eingeladen und schuf dieses spannende und hochkomplexe Selbstporträt vielleicht in England. Darin zeigt sie sich eindeutig als Malerin bei der Arbeit und gibt zugunsten der Lebendigkeit ihres Bildnisses repräsentative Posen auf. Gentileschi identifiziert sich hier mit der weiblichen Personifikation der Malerei; das Gemälde wurde als „Allegorie der Malerei“ in Karls‘ Inventar aufgenommen. Damit erfand Artemisia Gentileschi ein selbstbestimmtes und originelles Selbstbild, was ihren männlichen Zeitgenossen verwehrt bliebt!
Die Malerin hält einen Pinsel in ihrer von uns aus gesehenen linken Hand und einen Pinsel in der Rechten. Ihre Haltung ist angestrengt, blickt sie doch vermutlich an der Leinwand vorbei auf ein außerhalb des Bildfeldes liegendes Objekt oder Subjekt. Die Bewegungsrichtung ist hochkomplex, denn Gentileschi dreht sich nicht nur zur Seite, sondern lehnt sich auch nach vor und dabei an eine Steinplatte, wodurch die Pose höchst lebendig wirkt, das Gesicht aber auch stark verkürzt gezeigt wird.
Die Leinwand, die in einem leicht helleren Braunton gehalten ist als der Hintergrund, zeigt noch keine Spuren ihrer Tätigkeit, auch wenn sie ihren rechten Arm erhoben und den spitzen Pinsel bereits zur Zeichnung angesetzt hat. Der weit fallende Ärmel ihres dunkelgrünen Kleides ist am Oberarm zusammengerafft, eine Schürze soll das Gewand vor Farbspritzern schützen. Die dunklen Haare im Nacken zu einem Knödel geformt. Einige Strähnen widersetzen sich der Frisur und rahmen das helle Gesicht von Artemisia Gentileschi. Besonders auffallend ist die Goldkette, an der ein Anhänger in Maskenform hängt.
Vermutlich malte Artemisia Gentileschi diese außergewöhnliche Selbstdarstellung während ihres kurzen Aufenthalts in England, der von 1638 bis etwa 1641 dauerte. Der König hatte sie nach London gebeten, wo sie mit ihrem Vater Orazio Gentileschi (1563–1639) zusammentraf, der sich bereits seit 1626 in der Stadt aufhielt.
Die Identifikation der Malerin mit der Personifikation der Malerei basiert auf dem Emblem-Handbuch „Iconologia“ von Cesare Ripa. Darin beschreibt der italienische Gelehrte die Malerei als eine schöne Frau mit vollem, schwarzen, aber zerzaustem Haar, geschwungenen Augenbrauen. Ihr Mund sollte mit einem Tuch verbunden sein und an ihrem Hals eine Kette mit einem Masken-Anhänger hängen. Darauf wäre das Wort „Nachahmung [imitatio]“ zu lesen. Einzig die Inschrift am Anhänger und das Tuch fehlen, sonst folgte Artemisia Gentileschi Ripas Beschreibung bis ins kleinste Detail.
Das Selbstporträt ist auch eine Selbstdarstellung als Künstlerin. In diese Richtung gingen bereits Bildnisse von Lavinia Fontana aus Cremona, die auf die Rückseite eines Selbstporträts die Allegorie der Malerei malte. Die Verbindung beider Darstellungstraditionen in einer einzigen Darstellung ist jedoch das revolutionär Neue an Artemisias Werk. Ob es sich um eine authentische Beschreibung ihres Äußeren handelt, wird zwar weithin angenommen, scheint aber schwierig zu belegen zu sein, da nur wenige Selbstporträts bzw. Porträts von Artemisia Gentileschi erhalten sind. Weitere Unsicherheit bringt die Frage, in welchem Alter die weibliche Person in dem Bild dargestellt sein dürfte. Die Malerei bzw. die Malerin wirkt eher jung, während die 1593 in Rom geborene Tochter von Orazio Gentileschi Ende der 1630er Jahre bereits Mitte 40 war. Technische Untersuchungen haben gezeigt, dass das Bild mit sparsamen und wenigen Pentimenti ausgeführt wurde, was auf eine geübte Malerin hindeutet. Auch die komplexe und herausfordernde Pose scheint ihr wenige Probleme bereitet zu haben, auch wenn es schwierig ist sich vorzustellen, wie sie mit zwei Spiegeln im Atelier dieses Bild vor Augen zu bekommen.
Aktuell ist das Gemälde in der Ausstellung „Charles I. King and Collector“ in der Royal Academy of Arts, London, zu sehen: XX