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Bielefeld | Kunsthalle Bielefeld: Der böse Expressionismus

Erich Heckel, Szene am Meer, 1912, Öl auf Leinwand, 96 x 121 cm (Von der Heydt-Museum Wuppertal, © Nachlass Otto Gleichmann, Foto: © Von der Heydt-Museum Wuppertal / Foto: Antje Zeis-Loi, Medienzentrum Wuppertal)

Erich Heckel, Szene am Meer, 1912, Öl auf Leinwand, 96 x 121 cm (Von der Heydt-Museum Wuppertal, © Nachlass Otto Gleichmann, Foto: © Von der Heydt-Museum Wuppertal / Foto: Antje Zeis-Loi, Medienzentrum Wuppertal)

„Wir wollen die Bürger nicht unterhalten. Wir wollen ihnen ihr bequemes, ernst-erhabenes Weltbild tückisch demolieren“, propagiert Herwarth Waldens Sturm-Zeitschrift, eine der wichtigsten Publikationen des Expressionismus. Diese Ansage ist klar und eindeutig. Es ist die Kampfansage einer neuen Zeit an die Überzeugungen und Werte der alten; das Kampfmittel ist die Kunst.

Die Anfangsjahre des 20. Jahrhunderts waren eine Zeit größter Herausforderungen und existenzieller Verunsicherung, geprägt von Industrialisierung und proletarischem Massenelend, Landflucht, ausufernden Großstädten und Wohnungsnot. Die rückständige, an feudalen und militaristischen Idealen orientierte Gesellschaftsordnung des wilhelminischen Kaiserreiches war mit den rasanten Veränderungen heillos überfordert, der Kollaps kam mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914.

Der Expressionismus war unter solchen Vorzeichen die Kunstform, mit der sich die Rebellion im Felde der Kultur Bahn brach; nach 1919 gewann er unter den neuen politischen Vorzeichen noch einmal an Vehemenz. Die jungen Künstler*innen, Dichter*innen, Schauspieler*innen und Tänzer*innen, selbst Bürgersöhne und -töchter zumeist, erlebten Bürgerlichkeit als Trauma und probten den Aufstand gegen rigide Normen und verlogene Konventionen. Die Künstler*innen brachen Tabus, nahmen Drogen und beendeten Prüderie und Triebverzicht, um anstelle von Verdrängung und Neurose aus den Kräften des Trieblebens die Kraft für ihre Kunst zu ziehen. Sie lebten, frei nach Nietzsche und ermutigt von Sigmund Freud, die „Umwertung aller Werte“ auf der Suche nach einem selbstbestimmten Dasein in einer Gesellschaft ohne Klassenschranken, zu ihrer Zeit nichts mehr als eine Utopie.

Einst skandalträchtige Außenseiter, sind die Expressionisten heute gesellschaftsfähig, ihre Bilder Millionen wert; als Zeugnisse pittoresker Bohème, farbenfroher Idyllen und Ansichten einer vermeintlich guten alten Zeit werden sie verharmlost und je nach Möglichkeit als dekorative, verlässliche Geldanlagen gesucht. Die Brisanz der Bilder droht im Wohlgefallen zu verschwinden. Weil die Impulse, die vom Expressionismus ausgingen und die Fragen, die er in schonungsloser Offenheit gestellt hat, bis heute relevant und wichtig sind, wollen wir an die Virulenz und die Intentionen dieser „Zeiterscheinung“ erinnern: Internationalität, Individualität, gesellschaftliches Miteinander und Toleranz stehen auch ein Jahrhundert später, und gerade heute, immer noch auf der Agenda.

Ausgestellte Künstlerinnen und Künstler

Max Beckmann, Rudolf Belling, Otto Dix, Conrad Felixmüller, Otto Gleichmann, George Grosz, Erich Heckel, Jacoba van Heemskerck, Walter Jacob, Alexej von Jawlensky, Ernst Ludwig Kirchner, Emmy Klinker, Oskar Kokoschka, Else Lasker-Schüler, Wilhelm Lehmbruck, August Macke, Ludwig Meidner, Paula Modersohn-Becker, Otto Mueller, Emil Nolde, Max Pechstein, Hans Richter, Christian Rohlfs, Karl Schmidt-Rottluff, Jakob Steinhardt, Hermann Stenner, Georg Tappert, William Wauer, Marianne von Werefkin, Gert H. Wollheim

Kuratiert von Jutta Hülsewig-Johnen; kuratorische Assistenz Henrike Mund.
Quelle: Kunsthalle Bielefeld

Der böse Expressionismus: ausgestellte Werke

  • Emmy Klinker, Interieur, o.J., Öl auf Leinwand, 39 x 49 cm (Von der Heydt-Museum Wuppertal)
  • Hans Richter, Visionäres Porträt. Ekstase durch Verzweiflung gefährdet, 1917, Öl auf Leinwand, 53 x 38 cm (Galerie Berinson)
  • Max Pechstein, Frauen am Waldrand, 1911, Öl auf Leinwand, 70 x 79 cm (Kunstmuseum Gelsenkirchen, © 2017 Pechstein Hamburg / Tökendorf)
  • Christian Rohlfs, Tänzerinnen, 1920, Aquarell und Gouache, 67 x 50 cm (Bielefelder Privatbesitz)
  • Erich Heckel, Stehendes Kind (Fränzi stehend), 1911, Farbholzschnitt, in Schwarz, Grün und Rot, 54,2 x 40 cm (Blatt), 37,5 x 27,8 cm (Platte) (Kunsthalle Bremen – Der Kunstverein in Bremen – Kupferstichkabinett)
  • Erich Heckel, Szene am Meer, 1912, Öl auf Leinwand, 96 x 121 cm (Von der Heydt-Museum Wuppertal, © Nachlass Otto Gleichmann)
  • Ernst Ludwig Kirchner, Drei Akte auf schwarzem Sofa (verso) / Bergwald (recto), 1910, Öl auf Leinwand, 85 x 94 cm (Bündener Kunstmuseum Chur, Ankauf mit Beiträgen aus einer Sammlung der Kantonschüler Chur und des Bündener Kunstvereins (1969/70))
  • Ernst Ludwig Kirchner, Fränzi neben geschnitztem Stuhl (Mädchenakt), um 1910, Aquarell, 45 x 35 cm (Museum Biberach, Dauerleihgabe aus Privatbesitz, Foto: Museum Biberach)
  • Ernst Ludwig Kirchner, Selbstbildnis im Morphiumrausch, 1917, Rohrfeder, Tinte auf Kreidegrundpapier, 50 x 38 cm (Brücke-Museum Berlin)
  • Ernst Ludwig Kirchner, Selbstbildnis mit Mädchen, 1914/15, Öl auf Leinwand, 60 x 49 cm (Staatliche Museen zu Berlin. 1949 erworben durch die Stadt Berlin)
  • Ernst Ludwig Kirchner, Totentanz der Mary Wigman, 1926/1928, Öl auf Leinwand, 110 x 149 cm )Galerie Henze & Ketterer, Wichtrach/Bern)
  • Ernst Ludwig Kirchner, Zwei Akte auf blauem Sofa, 1910-1920, Öl auf Leinwand, 50,2 x 70,5 cm (Merzbacher Kunststiftung)

Weitere Beiträge zum Expressionismus

27. Februar 2023
Walter Gramatté, Die große Angst, Detail, Radierung, 1918

Washington | National Gallery of Art: Deutscher Expressionismus und sein Erbe Das ängstliche Auge | 2024

Die Ausstellung bietet Einblicke in die Arbeit der innovativen Künstler:innen des frühen 20. Jahrhunderts und ihre anhaltende Wirkung ein Jahrhundert später. Mit Werken von Heckel, Kirchner, Nolde, Dix, Kollwitz, Schiele, Schmidt-Rottluff und Grammatté; ergänzt um Leonard Baskin, Nicole Eisenman, Orit Hofshi, Rashid Johnson, Matthias Mansen.
26. Februar 2023
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Wien | Leopold Museum: Max Oppenheimer Expressionist der ersten Stunde | 2023/24

Das Leopold Museum widmet im Herbst/Winter 2023/24 dem Pionier des Wiener Expressionismus eine große Einzelausstellung, die erste seit fast 30 Jahren, um auf die Leistungen des in Wien und Prag ausgebildeten Malers aufmerksam zu machen.
2. Dezember 2022
Ruth Baumgarte, African Vision, 1998, Öl auf Leinwand (© Kunststiftung Ruth Baumgarte)

Wien | Albertina: Ruth Baumgarte Afrika, Industrie und Porträts | 2022

Über vierzig Mal reiste die Malerin Ruth Baumgarte nach Afrika, wo sie Motive ihrer expressiven Gemälde fand.

Aktuelle Ausstellungen

8. März 2023
Rosalba Carriera, Selbstbildnis der Künstlerin, Detail, 1707–1708, Rötel auf beigefarbenem Papier (© Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett / Jörg P. Anders)

Berlin | Kupferstichkabinett: Frauen in der italienischen Kunstwelt 1400–1800 Muse oder Macherin? | 2023

Die Ausstellung beleuchtet Künstlerinnen aber auch Kunstsammlerinnen und thematisiert die vielfältigen, aktiven Rollen zahlreicher Frauen in der italienischen Kunst vor 1800 anhand von Zeichnungen und Druckgrafiken.
7. März 2023
Heinrich Kühn, Stillleben, um 1908/09 (Städel Museum, Frankfurt)

Frankfurt | Städel Museum: Heinrich Kühn Vom Wesen der bildmäßigen Fotografie | 2022/23

Heinrich Kühn zählt zu den profiliertesten Fotokünstlern um 1900. Das Städel Museum widmet dem in Innsbruck lebenden, aber international ausstellenden Pionier der "bildmäßigen Fotografie" eine Kabinettausstellung.
6. März 2023
Georg Baselitz, Fingermalerei – Weiblicher Akt, Detail, 1972, Öl auf Leinwand, 250 × 180 cm (Humlebaek, Louisiana Museum of Modern Art. Schenkung: Georg Baselitz © Georg Baselitz 2023, Louisiana Museum of Modern Art, Foto: Finn Brøndum)

Wien | KHM: Georg Baselitz Nackte Meister | 2023

Baselitz selbst traf die Auswahl der Werke – etwa 80 Arbeiten aus dem eigenen Schaffen, 40 aus der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums –, wobei er sich vollkommen auf den Akt konzentrierte.
Alexandra Matzner
Gründerin von ARTinWORDS * 1974 in Linz, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Romanistik in Wien und Rom. Seit 1999 Kunstvermittlerin in Wien, seit 2004 Autorin für verschiedene Kunstzeitschriften. Jüngste Publiktionen entstanden für das Kunsthaus Zürich, Schirn Kunsthalle Frankfurt, Albertina und Belvedere in Wien.