Franz Gertsch
Wer ist Franz Gertsch?
Franz Gertsch (Mörigen 8.3.1930–21.12.2022 Riggisberg) war ein Schweizer Maler und Druckgrafiker der Moderne, ein Hauptvertreter des Fotorealismus. Seit 1969 überzeugte Gertsch mit fotorealistischen Gemälden und Holzschnitten in monumentalem Format. Während in den 70er und 80er Jahren Franz Gertschs Malerei dem Momenthaften und dem Zeitgeist verhaftet gewesen war, sind es später Zeitlosigkeit (z.B. in den Mädchenköpfen wie „Silvia“, 1998–2004) und Vergänglichkeit der Zeit gleichermaßen. Franz Gertsch sah sein Werk als ein Ergebnis eines handwerklichen Prozesses, der sich schlussendlich auch in den gemalten Zyklen als Ablauf der Zeit wiederfinden lässt. Natur und Dinge werden als geheimnisvolle Wesen empfunden, deren Eigenschaften nicht zu ergründen sind, und die deshalb gleichberechtigt auf der Leinwand ihren Platz nebeneinander finden.
Ausbildung
Der am 8. März 1930 in Mörigen im Schweizer Kanton Bern geborene Maler und Druckgrafiker Franz Gertsch begann 1942, im Alter von zwölf Jahren, zu malen, um die Landschaft seiner Kindertage einzufangen. Von 1947 bis 1950 ließ er sich in der Malschule Max von Mühlenen, Bern, ausbilden. Im Anschluss, 1950 bis 1952, unternahm er handwerkliche Studien bei Hans Schwarzenbach in Bern.
Werk
Das Œuvre von Franz Gertsch ist zugegebenermaßen überschaubar – zumindest die Anzahl der monumentalen Bilder. Von 1976 bis 2013 schuf er insgesamt 28 Gemälde und 15 monochrome Holzschnitte, denn der Schweizer Fotorealist arbeitet bis zu einem Jahr an einer Komposition. Die Wahl der richtigen Leinwände, Farben und Papiere stellt für Gertsch eine genauso lebenslange Beschäftigung dar wie die Entscheidung für eine bestimmte Fotovorlage: In New York entdeckte er beispielsweise Cotton Duck No. 10 als Leinwand, in Kyoto wird er die riesigen handgeschöpften Papiere für seine Holzschnitte herstellen lassen und auch Mineralfarben einkaufen.
Das Frühwerk von Franz Gertsch setzt sich zusammen aus Holzschnittzyklen der späten 1950er und frühen 1960erJahre sowie Collagebilder der 1960er Jahre, die er bewusst in eine Gegenrichtung der Abstraktion und Stilisierung führte. Doch erst 1969 entdeckte er das Malen nach einer selbst schossenen Dias, durch deren mediale Vermittlung ihm die Realität als bewältig- und interpretierbar erschien.
Mit dem ersten großformatigen und fotorealistisch gemalten Bild „Huaa…!“ (1969) verarbeitete Franz Gertsch einen Filmstill aus dem Streifen „The Charge of the Light Brigade“ von Tony Richardson (1968). Der Maler entdeckte das Foto vom tödlich getroffenen Captain Louis Edward Nolan im Magazin „Salut les copains“. Reiter und Pferd werden im vollen Galopp gestoppt, die unnatürliche Haltung vor allem des Capitain macht stutzig. Bis auf wenige Ausnahmen wählte Franz Gertsch in der Folge die Motive seiner Bilder aus selbstgeschossenen Aufnahmen.
„Situations“-Porträts
Ab 1970 stellte Franz Gertsch Familien- und Gruppenstzenen, so genannte „Situations“-Porträts, dar. In den Gemälden der 1970er Jahre finden sich Menschen aus Gertschs Bekanntenkreis, wie z.B. sein Lieblingsmodell Luciano Castelli in „At Luciano’s House “ und „Gaby und Luciano“ (beide 1973). Der Maler fotografierte seine Mitmenschen ab und verewigte sie (hyper-)realistisch in ihrem zeittypischen Habitus. Er hielt Familienszenen und das Verhalten von jungen Erwachsenen, Freunde aus der Schweizer Kunstszene, in nahsichtigen Schnappschüssen fest. Daraus wählte er unbekümmerte, ruhige Szenen, die er mit schneller Malweise auf ungrundierte Leinwand mit Dispersionsfarbe ausführte. Die deutlich sichtbare malerische Umsetzung und die überlebensgroßen Formate heben die Darstellungen ab von der Vorstellung einer Nachahmung der fotografischen Bilder. Sie erzählen von Menschen, die Gertsch entdeckte und/oder gut kannte. Seien es die Mädchen im Wallfahrtsort Saint Marie de la Mer von 1971 und 1972 oder die Freunde aus dem Künstlermilieu wie Jean-Christophe Ammann, Konservator des Kunstmuseums Luzern, und das Multitalent Luciano Castelli. Das Gruppenbild mit Castelli und seinen Freunden ging aufgrund der Aufschrift auf einer Holzlatte im Bild unter dem Titel „Medici“ (1971/ 72) in die Kunstgeschichte ein. Mit diesem Werk nahm Gertsch an der documenta 5 in Kassel teil, wo er seinen internationalen Durchbruch erlebte.
Zu den bestimmenden Faktoren in Gertschs Malweise zählt seither auch die eingesetzte Zeit, benötigt er doch für die Ausführung seiner monumentalen Drucke und Bilder manchmal mehr als ein Jahr. Diese Form der Entschleunigung, die dem aktuellen Drang nach Geschwindigkeit diametral gegenübersteht, drückt sich auch in Gertschs bisherigem Interesse an der heimischen Natur aus. „Bilder“, so der Künstler, „sind meine Biografie“.
Ein DAAD-Stipendium in Berlin (19747/75) und die erste Teilnahme an der Biennale in Venedig 1978 bestätigten den seit 1976 wieder in Rüschegg wohnenden Künstler auf seinem Weg.
1980 begann Franz Gertsch seine Porträt-Serie mit einem Selbstbildnis, dem „Irène“, „Tabea“, „Verena“, „Christina“ und „Johanna“ folgten. Sechs Jahre später gab er die Malerei auf, um sich großformatigen Holzschnitten zuzuwenden. Erst 1994 wandte er sich wieder dem Malen zu.
„Bilder sind meine Biografie“
Die zwischen 1986 und 1995 entstandenen monumentalen Holzschnitte zeigen die Umgebung seines Hauses in Rüschegg, wohin die Familie 1976 umgezogen ist. Der Holzschnitt „Rüschegg“ (1988–1989) markiert den Übergang zum aktuellen Werk, in dem einerseits noch die traditionelle Landschaftsmalerei über das Motiv des Weges, der in die Tiefe führt (und gleich dort auch wieder abgestoppt wird), und andererseits die Natur einen neuen Stellenwert in der Bildwelt Gertschs erhält. Nie interessierte sich der Künstler für Weite, sondern für die Steine, Wege, Bäche und Pflanzen seines direkten Lebensumfelds.
Mitte der 1980er Jahre verschob sich Interesse des Künstlers zugunsten der „Lichtmalerei“ und gleichsam folgerichtig brachte er eine sehr spezielle Technik des Holzschnittes hervor: Mit Hilfe von hunderttausenden kleinen Lichtpunkten werden die Objekte in ihrer Form und Dreidimensionalität, als nah oder fern beschrieben. Diese Arbeit lässt keine Korrekturen zu. Die sechs frühen Mädchen – Bildnisse von Irène, Tabea, Verena, Christina, Johanna I (1983–1984) und Johanna II –und die monochromen Holzschnitte wie „Natascha IV“ (1987–1988) führen als „ruhige Gesichtslandschaften junger Frauen“ zu Naturschilderungen wie „Schwarzwasser I“ (1990–1991) oder „Pestwurz“ (1993). Für den „Peintre-graveur“ ist daher wenig Unterschied zwischen der Erfahrung, ein Porträt zu malen, dessen Körperteile zu Landschaftsformationen werden (z.B. das Auge als See, die Haut und die Haare als Wälder), und Pflanzen zu schneiden.
Franz Gertsch und die Natur
Die Darstellungen von Pflanzen inspirierten Franz Gertsch zu seinen späten Naturgemälden, die sich über die detailgenaue Schilderung von Waldwegen in „Gräser I“ (1995–1996) über „Gräser II“ (1996–1997), „Gräser III“ (1997) und „Gräser IV“ (1998–1999) zu den größeren Ausschnitten der „Vier Jahreszeiten“ und von „Guadeloupe“ bis heute weiterentwickelten. Laut Tagebuch von Maria Gertsch arbeitete Franz Gertsch am Vier Jahreszeiten-Zyklus von 2007 bis 2011:
- „Herbst“: 1. Februar 2007 bis 12. Februar 2008,
- „Sommer“: 4. April 2008 bis 18. Januar 2009,
- „Winter“: 26. Februar 2009 bis 24. Juli 2009,
- „Frühling“: 24. November 2009 bis 22. Februar 2011;
am Triptychon „Guadeloupe“:
- „Maria“: 28. April 2011 bis 13. Januar 2012,
- „Bromelia“: 7. Februar 2012 bis 10. Oktober 2012,
- „Soufrière“: 19. November 2012 bis 15. Mai 2013, 11.50 Uhr
In den über den Zeitraum von zwölf Jahren aufgenommenen Dias, die als Vorlagen für den Jahreszeiten-Zyklus dienten, steckt die Veränderung des Landschaftsausschnitts wie auch der Jahresablauf. Der Wechsel zwischen Nähe und Ferne, Schärfe und Unschärfe ist hier auf eine neue Spitze getrieben, indem der Fotorealismus der Betrachtung aus der Ferne mit der malerischen Auflösung einer Detailbetrachtung korreliert. Diese Herangehensweise hat Franz Gertsch für das Triptychon „Guadeloupe“ (2011–2013) noch verstärkt. Detailaufnahmen von den Spätwerken im Katalog führen diese technische Veränderung vor. der Lauf der Zeit ist sowohl in der Abfolge der Jahreszeiten als auch der langen Zeitspanne zwischen den Fotovorlagen inhärent. Im Triptychon wächst und verdorrt die Vegetation in einem Bild. Man könnte auch einfach sagen: Grün und Orangeocker stehen in der Karibik gleichberechtigt nebeneinander.
Das Motto des Fotorealisten ist: „Die Kunst liegt in der Natur. Wer sie herausreißen kann, der hat sie.“ Dieses Zitat aus Albrecht Dürers „Ästhetischen Exkurs zur Proportionslehre“ (1528) prägt das Schaffen von Franz Gertsch, seitdem er als Jugendlicher in der Bibliothek seines Vaters die Biografie des Renaissancekünstlers von Moritz Thausing entdeckte.1
„Aber das Leben in der Natur giebt zu erkennen die Wahrheit dieser Dinge; darum sieh` sie fleißig ab, richte dich darnach und geh` nicht von der Natur ab in deinem Gutdünken, daß du wollest meinen, das Bessere von dir selbst zu finden, denn du würdest verführt. Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur; wer sie heraus kann reißen, der hat sie. Überkommst du sie, so wird sie dir viel Fehls nehmen in deinem Werk. … Aber je genauer dein Werk dem Leben gemäß ist in seiner Gestalt, desto besser erscheint dein Werk. Und dies ist wahr; darum nimm dir nimmermehr vor, daß du etwas besser mögest oder wollest machen, als Gott es seiner erschaffenen Creatur zu wirken Kraft gegeben hat, denn dein Vermögen ist kraftlos gegen Gotte Schaffen. Daraus ist beschlossen, daß kein Mensch aus eigenen Sinnen nimmermehr kein schönes Bild machen könne, es sei denn, daß er davon durch vieles Nachbilden sein Gemüth voll gefaßt habe, das ist dann (aber) nicht mehr Eigenes genannt, sondern überkommene und gelernte Kunst geworden, die sich besamet, erwächst und ihres Geschlechtes Früchte bringt.“2 (Albrecht Dürer, Proportionslehre III, fol. T IIIb)
Bis heute ist das Schaffen von Franz Gertsch tief mit der Natur verbunden. Er malt und schneidet dicht wachsende „Gräser“, verschiedene Pflanzen wie „Enzian“ oder „Pestwurz“, findet Gefallen am komplexen Wellenspiel des „Schwarzwassers“ und der Abfolge der vier Jahreszeiten in einem Waldeinblick oder bringt wie in den neuesten Arbeiten alles zusammen. Aber auch das Malmaterial mit Bienenwachs oder Dammarharz vermischte Mineralpigmente entstammen Gertschs Verbundenheit mit der Natur.
„Dürers Credo: ‚Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur, wer sie heraus kann reissen, der hat sie‘, von meinem Vater, als ich noch ein Kind war gepredigt, erhielt wieder Bedeutung. Bei mir hieß das Herausreissen in erster Linie das Finden geeigneter Motive aus der unermesslichen Vielfalt der Natur. Ich fand sie rund um’s Haus und im Tal am wilden Schwarzwasser.“ (Franz Gertsch)
Das Triptychon „Guadeloupe“ wurde erst im Sommer 2013 fertiggestellt und entstand nach Dias aus dem Jahr 1985. Mit ihm verbindet er, einem dreiflügeligen Altar nicht unähnlich, das Bild seiner Ehefrau Maria mit den Landschafts- und Naturschilderungen „Bromelia“ und „Soufrière“ an den „Flügeln“.
Von 2018 bis 2020 arbeitete Franz Gertsch an weiteren vier Gemälden der Serie „Gräser“ (V-VIII).
1997 erhielt Franz Gertsch den Goslarer Kaiserring, und zwei Jahre später stellte er sein Werk auf einer Einzelpräsentation auf der Biennale in Venedig vor.
Tod
Franz Gertsch starb am 21. Dezember 2022 in Riggisburg, Schweiz, im Alter von 92 Jahren.
Franz Gertsch Museum
2002 entstand das Franz Gertsch Museum im Schweizerischen Burgdorf, für das er seither bedeutende Werkzyklen geschaffen hat.
Sein 10-jähriges Bestehen feierte das Franz Gertsch Museum 2012 mit einer Serie von Sonderbriefmarken mit Holzschnitt-Motiven von Franz Gertsch. Gleichzeitig bildete sein Werk „Frühling“ (2010/11) den Hintergrund der offiziellen Fotografie der Schweizer Landesregierung.
Der Holzschnitt „Saintes Maries de la Mer“ (2013) wurde 2014 im Museum Franz Gertsch präsentiert. Im folgenden Jahr stellte er das Gemälde „Pestwurz“ (2014/15) und 2017 „Meer“ (2016/17) sowie die Holzschnitte „Winter“ (2016) und „Sommer“ (2016/17). Der 2017/18 entstandene Holzschnitt „Maria II“ wurde 2018 im Museum Franz Gertsch ausgestellt. Dem folgten die Gemälde „Grosse Pestwurz“ und „Gräser V“ (beide 2018).
Ehefrauen
- Denise Kohler: 1. ⚭ 1955-1963
- Maria Meer: 2. ⚭ 1963
Kinder
- Renate Suna Gertsch (* 1959), Tochter von Denise und Franz Gertsch
- Silvia Maria (* 1963)
- Hanne-Lore (* 1965)
- Hans Albrecht Gertsch (* 1966)
- Benedicht Mattia Gertsch (* 1968)
Literatur zu Franz Gertsch
- Franz Gertsch. Geheimnis Natur, hg. v. Stiftung Frieder Burda und Götz Adriani (Ausst.-Kat. Museum Frieder Burda, Baden-Baden, 26.10.2013–16.2.2014) Baden-Baden 2013.
- Franz Gertsch - Die Holzschnitte (Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bern, Kunsthalle Baden-Baden 1994-1995) Basel 1994.
- Moritz Thausing: Dürer. Geschichte seines Lebens und seiner Kunst, Leipzig 1876.