Sheila Hicks (* 1934, Hastings, Nebraska) ist international seit mehr als 50 Jahren als eine Protagonistin der textilen Kunst bekannt. Ihre Arbeiten in Wolle und Leinen, Baumwolle und Seide stellen ästhetische Fragen, die bisher allzu oft übersehen wurden. Leuchtende Farbe, Material und Raum sind Hicks‘ zentrale Themen – dazu gesellt sich noch die komplexe technische Ausführung und Experimentierfreude. Die großartige Einzelausstellung der Textilkünstlerin, die seit 1964 in Paris lebt, präsentiert 145 Werke von 1957 bis heute. Dabei vereint die Schau monumentale Arbeiten mit mehr als 100 „Minimes“, das sind in der Größe von etwa A4 gearbeitete Webstücke oder Kompositionen, die eine Art von Laboratorium für Hicks‘ Werk darstellen, verschiedenste technische Experimente durchexerzieren und ihre überbordende Kreativität unter Beweis stellen.
Frankreich | Paris: Centre Pompidou, Stock 1, Galerie 3
7.2. – 30.4.2018
#ExpoSheilaHicks
Gemeinsam mit der Künstlerin entwickelt und aufgestellt, reagieren die Werke auf den transparenten Bau des Centre Pompidou. Die Kunstwerke bilden farbige „Kuschelecken“ aus oder streng geometrische Farbfelder, wirken wie abstrahierte Architekturelemente (vgl. Josef Albers!) oder erinnern an Säulen. Ästhetisch absolut überzeugend!
„Meine Arbeit basiert auf Linien, die Skulpturen im Raum formen.“ (Sheila Hicks)
Sheila Hicks begann ihr Studium an der Yale University 1954 und schloss es 1959 ab (→ Sheila Hicks: Biografie). Zu ihren Lehrern gehörte Josef Albers, in ihrer Freizeit fokussierte sie sich auf freies Textilgestalten mit Anni Albers (→ Anni Albers. Textilkünstlerin mit Folgen). Bereits während ihres Studiums entdeckte Sheila Hicks präkolumbianische Textilkunst, vermittelt durch Professor George Kubler und Raoul d’Harcourts Publikation „Les textiles anciens du Pérou et leurs techniques“ (1934). Über ihren Lehrer Josef Albers partizipierte Sheila Hicks an den Konzepten und Ideen des Bauhaus. Das Textil als ihr Medium zu entdecken, bedeutete für die Malereistudentin ihrer Faszination am Handwerk in der Freizeit nachzugehen. Bereits als Studentin reiste Sheila Hicks nach Südamerika und Mexiko – später dann in die ganze Welt. Auf fünf Kontinenten bewegt sie sich wie eine Ethnografin durch Webwerkstätten und sammelte Webtechniken und -ideen für ihre Kreationen. Mit ihren Werken bewegt sich Sheila Hicks seither im Grenzbereich zwischen hoher Kunst, Design und Dekoration. Tief beeindruckt von der Farbtheorie ihres Lehrers Albers und später des mexikanischen Architekten Luis Barragan, entwickelte Hicks Kompositionen in leuchtenden Farben.
Während der 1960er Jahre konzipierte Sheila Hicks ihre Werke als Wandbilder, als teils bestickte Flachreliefs, als Schlitz-Gewebe. Die Kenntnis der europäischen Avantgarde-Kunst der frühen 1960er ermutigte sie zu Experimenten: Lucio Fontanas Schnitte („tagli“) waren Hicks zu aggressiv, weshalb sie eine Schlitz-Webtechnik anwandte. Julius Bissiers Aquarelle faszinierten sie aufgrund ihrer Feinheit, Kleinheit und differenzierten Farbigkeit. Alexander Calder und Isamu Noguchi schufen – wie Hicks – sowohl Großformate wie auch kleinteilige Objekte. Piero Dorazios feine Streifenbilder inspirierten sie zu ähnlich subtilen Farbexperimenten und Designs für Florence Knoll. Begehbare Installationen von Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely schlussendlich brachten sie auf die Idee, ihre Gewebe auch als dreidimensionale, weiche Skulpturen in den Raum zu hängen. Damit griff Sheila Hicks Konzepte des zeitgenössischen Kunstdiskurses auf, vornehmlich das der Anti-Form.
„Was ich mache? […] Ich habe Malerei, Bildhauerei, Fotografie und Zeichnen studiert, aber fühle mich am stärksten zu Textilien hingezogen. Ich mache eine Art von Textilkunst. Ich entwickele Environments, fertige Schnurobjekte, webe Textilien, baue weiche Skulpturen, Flachreliefs, aber ich entwerfe und mache auch funktionale Dinge aus dem Faden.“ (Sheila Hicks)
Im Centre Pompidou ergänzen einander Arbeiten aus verschiedenen Perioden zu einer farbenfrohen, weitläufigen Installation. Die Werke werden nicht chronologisch angeordnet. Sheila Hicks feiert wahrlich Farbe, Material und Form. Im Gegensatz zu den großformatigen Werken stehen einige Duzend „Minimes“, sehr kleinformatige Gewebe, durch die man einen Einblick in die Recherchen der Künstlerin erhält. Fotografien und Video-Dokumentationen zeigen, wie Hicks arbeitet, ihre Reisen und Kontakte.
Der Schwerpunkt der Ausstellung im Centre Pompidou liegt auf der einzigartigen Verbindung von nicht westlichen Traditionen und modernistischen Formen durch Sheila Hicks. Einige Objekte türmen sich in Raumecken („La sentinelle de safran“, 2017), andere wirken wie Farbtafeln („North-South-East-West“, 2018) oder wie Gebetsteppiche („Moroccan Prayer Rug, Nejjal“, 1972), viele hängen von der Decke. „Trapèze de Cristobal“ (1971), „Lianes nantaises” (1973) oder „Pillar of Inquiry” (2014/15) stellen immer deutlicher das Material an sich, seine farbigen, stofflichen Qualitäten in den Vordergrund. Aus der Weberin wurde in den 1970ern eine Gestalterin von raumgreifenden Objekten, deren Inspiration sich, wie oben bereits angedeutet, sowohl aus der ungegenständlichen Malerei wie aus dem aktuellen Diskurs über den Skulpturenbegriff speiste. In diesem gattungsübergreifenden Arbeiten ist Sheila Hicks Bedeutung zu finden: der gesponnene Faden birgt unzählige Möglichkeiten der Gestaltung und der Funktion. Hicks‘ beeindruckend vielfältiges, textiles Werk in dieser sehenswerten Retrospektive zu entdecken, heißt, über Materialgerechtigkeit, die Auflösung der Gattungsgrenzen, das Negieren von Hierarchien im Kunstbetrieb nachzudenken.
Kuratiert von Michel Gauthier.