Walter Sickert

Wer war Walter Sickert?

Walter Sickert (München 31.5.1860–22.1.1942 Barth) war ein bedeutender britischer Künstler des Impressionismus und der Klassischen Moderne. Bereits zu seinen Lebzeiten wurde Sickert für farbenfrohe, unterhaltsame Bilderzählungen bekannt. Das Mitglied der Camden Town Group wurde als kosmopolitische, komplexe und exzentrische Figur in der britischen Gesellschaft wahrgenommen und gefeiert. Seine Bedeutung für die britische Kunst wird seit den 1960er Jahren von Künstlern wie Frank Auerbach hervorgestrichen und in Publikationen wie Ausstellungen analysiert.

Kindheit

Walter Richard Sickert wurde als ältestes von sechs Kindern am 31. Mai 1860 in München als Sohn von Oswald Adalbert Sickert, ein Däne mit deutscher Staatsangehörigkeit, und der Anglo-Irin Eleanor geboren. Seine frühen Jahre verbrachte er in Deutschland, aber 1868 zog die Familie nach England. London blieb für den Rest seines Lebens sein Hauptwohnsitz, obwohl er auch für einige Zeit in Frankreich und Italien lebte. Sickert sprach fließend Englisch, Deutsch und Französisch und beherrschte gut Italienisch.

Sickerts Vater war Maler und Holzschnittillustrator für das Magazin die „Fliegenden Blätter“. Obwohl sein Sohn keine frühe formale Ausbildung erhielt, bildeten Kunst und Kultur einen integralen Bestandteil seiner Erziehung. Seine Schulzeit fand in einer Vielzahl von Einrichtungen statt, darunter die King's College School in London.

Ausbildung

Im Alter von 18 Jahren wurde Sickert von seinem Vater von einer Karriere als Künstler abgehalten. Stattdessen wandte er sich seiner anderen großen Leidenschaft, dem Theater, zu. Unter dem Pseudonym „Mr Nemo“ wurde er Schauspieler und trat in kleineren Rollen in mehreren Tourneeproduktionen auf.

Er wollte sich jedoch weiterhin mit Kunst beschäftigten und meldete sich 1881 für ein Jahr „General Course“ an der Slade School of Fine Art an. Bereits 1882 verließ Walter Sickert die Bühne, um Lehrling im Atelier seines großen Vorbild James McNeill Whistler (1834–1903) zu werden. Der amerikanische Künstler riet ihm, die Slade zu verlassen, und bemerkte mit charakteristischem scharfsinnigem Witz: „Du hast dein Geld verloren, du musst auch deine Zeit nicht verlieren.“1 Sickerts Rolle unter Whistler war größtenteils die eines Studioassistenten; er lernte viel Technisches und Praktisches zu Malerei und Druckgrafik. Durch Beobachtung erlernte er Whistlers Maltechniken und begann dadurch, selbst Werke im Stil des Meisters zu produzieren.

1883 beauftragte Whistler seinen Assistenten, sein berühmtes Porträt seiner Mutter – „Arrangement in Grey and Black No.1, Portrait of the Artist’s Mother“ (1871, Musée d’Orsay, Paris) – in den Pariser Salon zu bringen. Diese Reise brachte Sickert in Kontakt mit der Kunst von Edgar Degas (1834–1917), denn sein Lehrer gab ihm Briefe für Degas und Edouard Manet mit.2 In den folgenden fünf Jahren orientierte er sich weiter an Whistler und Degas, den beiden bedeutenden Persönlichkeiten der modernen Malerei.

Frühe Werke: Landschaften und Musikhallen

Er begann, sich einen Ruf als Maler von tonalen Landschaften zu machen. 1885 heiratete er seine erste Frau Ellen Cobden; das Paar verbrachte den Sommer damit, Europa zu bereisen, was in einem längeren Aufenthalt in Dieppe gipfelte. Dieppe wurde zu einer festen Konstante in Sickerts Leben. Er erneuerte seine Bekanntschaft mit Degas und freundete sich mit vielen anderen jungen französischen Schriftstellern und Künstlern an, darunter Jacques-Emile Blanche (1861–1942).

Dem Beispiel von Degas folgend, begann Sickert, sich von Whistlers Vorbild zu entfernen und mit einer Nass-in-Nass-Technik direkt vor dem Motiv zu malen. Stattdessen entwickelte er die Praxis, im Atelier nach Zeichnungen zu malten, die er vor Ort angefertigte. Bis 1887 hatte er sein Lebensthema gefunden: die Welt der britischen Musikhallen. „Le Mammoth Comique”, heute bekannt als „The Lion Comique“ (Privatsammlung), war das erstes Gemälde zu diesem Thema, das er in der Society of British Artists ausstellte. Eine Plattform für seine Werke war der kurz zuvor gegründete New English Art Club, dem Sickert in diesem Jahr beitrat. Innerhalb des New English Art Club etablierten sich zwei Gruppen: konservativere Künstler und jene, die sich am Beispiel des französischen Impressionismus orientierten. Die abtrünnigen „Londoner Impressionisten“ traten im Dezember 1889 in einer Ausstellung in der Goupil Gallery auf. Die Gruppe umfasste neben Sickert auch Philip Wilson Steer, Frederick Brown, Theodore Roussel und Sickerts Bruder, Bernhard Sickert.

Walter Sickert konzentrierte sich in den 1890er Jahren weiterhin auf Musikhallen als Inspirationsquelle. Sowohl seine Entscheidungen in Bezug auf Komposition wie auch Themenwahl erinnert in manchen Werken entschieden an Edgar Degas und Henri de Toulouse-Lautrec. Aubrey Beardsley druckte Sickerts Zeichnungen in seinem berühmten „Yellow Book“ 1894/95 ab. Zeichnungen Daneben erarbeitete er sich auch die Gattungen Porträt, Genre, die seine Landschaften von Dieppe und Venedig ergänzten. Die Lagunenstadt hatte er 1895 zum ersten Mal besucht.

Dieppe und Venedig

Nach seiner Trennung und Scheidung von Ellen (wegen seines Ehebruchs) im Jahr 1899 und einer wachsenden Desillusionierung über den New English Art Club zog Sickert nach Dieppe, wo er bis 1906 mit gelegentlichen Aufenthalten in Venedig) blieb. Gemeinsam mit Madame „Titine“ Villain, bei der er in Dieppe lebte, hatte er den Sohn Maurice. Walter Sickert stellte weiterhin in England aus, kehrte aber dorthin nicht zurück. Erst ein zufälliges Treffen in Dieppe mit dem jungen Künstler Spencer Gore verleitete ihn dazu, sich der neuen Generation progressiver Künstler in Großbritannien anzuschließen.

Rückkehr nach London und Camden Town Group

Im Jahr 1905 kehrte der Maler nach London zurück und ließ sich in Camden Town nieder. Sickert begann am Samstagnachmittag „At Homes“-Kurse in seinem Atelier in der Fitzroy Street zu halten. Im Jahr 1911 heiratete er zum zweiten Mal, Christine.

Aus seinen regelmäßigen Besucher*innen entwickelte sich die „Fitzroy Street Group“ (ab 1907), eine unabhängige, moderne Ausstellungsgesellschaft, die sich 1910 neben der Camden Town Group entwickelte. Sickert stellte auf allen drei Ausstellungen der Gruppe aus, obwohl sich seine Beiträge sowohl vom Thema als auch vom visuellen Erscheinungsbild der anderen Mitglieder deutlich unterschieden. Die Gemälde der Serie „Camden Town Murder“ zogen das größte Interesse der Kritiker auf sich. „Camden Town Murder" zeigen eine nackte Frau auf einem eisernen Bettgestell, beobachtet von einem bekleideten Mann, der entweder neben dem Bett steht oder auf diesem sitzt. Der Maler bezog sich sowohl mit dem Sujet als auch der Betitelung der ursprünglich vermutlich vier, heute drei erhaltenen Gemälde und mehreren Zeichnungen auf einen Moder in Camden Town im Jahr 1907. Jahre später argumentierte er die Wahl damit, dass das Interesse an Gewaltverbrechen und am Film in seiner Heimat besonders groß und das Thema genauso gut wie eine literarische Vorlage wäre.3 Die Camden Town Group wandelte sich später in die London Group, aus der Sickert 1914 austrat. Im selben Jahr kehrte er zum New English Art Club zurück, wo er sein berühmtestes Gemälde, „Ennui“ (Tate), ausstellte.

Erster Weltkrieg und Envermeu

Während des Ersten Weltkriegs konnte Sickert seinen Sommerurlaub nicht wie üblich in Dieppe verbringen. Stattdessen fand er Unterkunft in Großbritannien, zuerst in Chagford in Devon, dann Brighton und später Bath.

In den Kriegsjahren konzentrierte sich Sickert in einem Atelier am Red Lion Square, London, auf die Radierung. Nach dem Krieg kehrte Sickert sofort wieder nach Frankreich zurück und ließ sich mit seiner Frau in Envermeu nieder. Als 1920 Christine nach langer Krankheit starb und zog Sickert 1922 erneut nach London, diesmal nach Islington in der Nähe von Camden Town. 1926 heiratete Walter Sickert zum dritten Mal: seine Freundin und Künstlerkollegin Thérèse Lessore.

Walter Sickert als Lehrer und Autor

Sickert übte auch als Schriftsteller und Lehrer erheblichen Einfluss in der britischen Kunstszene aus. Er war Mitglied zahlreicher Vereinigungen und Gruppen und spielte eine wichtige Rolle bei der Verbreitung neuer Ideen und Konzepte von Frankreich nach England. Zudem unterrichtete der Maler sein ganzes Leben lang, sowohl in etablierten Kunstinstitutionen wie der Slade, der Westminster School of Art und den Royal Academy Schools als auch in seinen eigenen Privatschulen, die er mit Optimismus eröffnete und auch wieder schloss. Walter Sickert wurde weithin als begabter und inspirierender Lehrer gelobt. Zu seinen Schülern gehörten unter anderem David Bomberg, Winston Churchill und Lord Methuen.

Im Lauf von fast 50 Jahren schrieb er regelmäßig für eine Reihe von Publikationen, darunter das Burlington Magazine, New Age, Art News und Speaker. Weiters war er, wie sein ehemaliger Mentor Whistler, ein eingefleischter Briefschreiber an die Presse, ja er bombardierte die Zeitungen mit Kommentaren. Sickerts Bedeutung als Kunstkritiker wurde etwas übersehen, überschattet von der Vorherrschaft von Zeitgenossen wie Clive Bell und Roger Fry. Im Gegensatz zu seinen Bloomsbury-Kollegen schätzte Sickert das Werk der Postimpressionisten Henri Matisse oder Pablo Picasso nicht hoch ein, weshalb der progressive Charakter seiner Schriften unterschätzt wurde. Die Herausgabe seiner gesammelten Schriften im Jahr 2000, editiert von Anna Gruetzner Robins, machte erstmals seinen umfangreichen Beitrag zur britischen Kunstrezeption und Kunsttheorie zugänglich und seine Bedeutung nachvollziehbar.4

Späte Werke

In den späteren Jahren seines Lebens erfand sich Walter Sickert persönlich, beruflich und künstlerisch neu. Ab 1927 ließ er sich als Richard Sickert ansprechen (statt Walter Sickert, allerdings ist er heute als Walter berühmt). Seine Gemälde zeigen immer noch die vertraute Palette von Themen, darunter häusliche Innenräume, Porträts, Stadtansichten und Motive aus dem Theater. Der Maler änderte jedoch seine Malpraxis, indem er sich zunehmend auf Fotografien stützte, anstelle Zeichnungen als Grundlage für seine Kompositionen zu nutzen.

Sickerts Werke wurden in der Öffentlichkeit sowohl kontroversiell als auch respektvoll besprochen. Der britische Maler erzielte einige beachtliche Erfolge und erreichte ein Niveau etablierter Seriosität. In den 1930er Jahren wurde er in die Royal Academy gewählt und erhielt Ehrendoktorwürden von den Universitäten Manchester und Reading.

Trotz dieser Erfolge brachte ihn sein schlechtes Finanzmanagement in Schwierigkeiten. 1934 zog Sickert nach St. Peter's-in-Thanet, in der Nähe von Broadstairs in Kent. Vier Jahre später, 1938, zog er erneut in sein letztes Haus in Bathampton, Somerset.

Die erste Retrospektive von Sickerts Werk wurde von Lillian Browse organisiert und fand 1941 in der National Gallery statt.5 Im selben Jahr erschien die erste Biografie des Künstlers, geschrieben von einem Freund und Schüler, Robert Emmons.6

Tod

Mit Hilfe von Thérèse und seiner langjährigen Unterstützerin Sylvia Gosse malte Walter Sickert bis kurz vor seinem Tod am 22. Januar 1942.

Nachruhm

Nach seinem Tod blieb Sickert ein bemerkenswerter, aber unterschätzter Maler. Seine Arbeit war in den öffentlichen Galerien Großbritanniens gut vertreten, aber er wurde als Einzelposition und unabhängig von den wichtigsten Bewegungen in der britischen Kunst wahrgenommen.

Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es zu einer Neubewertung seines Werks. Künstler wie Frank Auerbach und die Euston Road School erkannten eine direkte Verbindung zu Sickerts Interieurs. Die Forschung von Lillian Browse und Wendy Baron in den 1960er und 1970er Jahren bildet bis heute die Grundlage für alle Sickert-Studien.7 Richard Morphet verglich 1975 Sickerts Verwendung von Fotografien als Quellen mit der Entwicklung der Pop Art,8, und eine Ausstellung in der Hayward Gallery 1981/82 stellte die Bedeutung seiner zuvor kaum beachteten späten Gemälde für die britische Moderne fest.9 Im Jahr 1992 kuratierten Wendy Baron und Richard Shone eine große Ausstellung an der Royal Academy, die den ersten großen Überblick über sein gesamtes Werk lieferte.10 Anna Gruetzner Robins 1996 erschienene Publikation „Walter Sickert: Drawings“ stärkte seinen wachsenden Ruf mit einem Überblick über seine Arbeit als Zeichner,11 während Ruth Bromberg im Jahr 2000 ein Werkverzeichnis seiner Druckgrafiken erstellte.12 Die nächste Veröffentlichung zu einem Werkverzeichnis von Gemälden und Zeichnungen ist Wendy Barons umfassendes Buch „Sickert: Paintings and Drawings“ aus dem Jahr 2006.13

Aufbauend auf diesen Erkenntnissen konnte der Ruf Walter Sickerts als einer der bedeutendsten britischen Künstler der Moderne im frühen 21. Jahrhundert weiter gefestigt werden. Die Krimiautorin Patricia Cornwell vermutete 2002, dass Sickert Jack the Ripper gewesen wäre. Ihre Behauptung wurde anfangs kontrovers diskutiert und schlussendlich als unwahrscheinlich und unbegründet zurückgewiesen. Die Argumente, die Cornwell in „Portrait of a Killer: Jack the Ripper – Case Closed“ vorgebracht hatte, widerlegte Matthew Sturgis im letzten Kapitel seiner umfangreichen Biografie „Walter Sickert: A Life“ (2005) systematisch.14

  1. Hubert Wellington, Walter Sickert 1860–1942: Sketch for a Portrait, 10.2.1961, BBC Home Service recording, LP 26656, Side 2.
  2. Zur Beziehung von Walter Sickert zu Edgar Degas siehe: Anna Gruetzner Robins, Degas and Sickert. Notes on their friendship, in: The Burlington Magazine,Jg. 130, Nr. 1020 (März 1988), S. 198–229, hier S. 198.
  3. Walter Sickert am 16. November 1934, siehe: Sickert and Thanet: Paintings and Drawings by W.R. Sickert 1860–1942 (Ausst.-Kat. Ramsgate Library Gallery 1986).
  4. Anna Gruetzner Robins, Walter Sickert: The Complete Writings on Art, Oxford 2000.
  5. Sickert, mit einer Einführung von Lord Methuen (Ausst.-Kat. National Gallery, London, August–Dezember 1941), London 1941.
  6. Robert Emmons, The Life and Opinions of Walter Richard Sickert, London 1941.
  7. Lillian Browse, Sickert, London 1960; Wendy Baron, Sickert, London 1973.
  8. Richard Morphet, The Modernity of Lake Sickert, in: Studio International, Jg. 190, Nr. 976 (Juli–August 1975), S.35–38.
  9. Late Sickert: Paintings 1927 to 1942, Arts Council tour, Hayward Gallery, London, November 1981–Januar 1982, Sainsbury Centre for the Visual Arts, University of East Anglia, Norwich, März–April 1982, Wolverhampton Art Gallery, April–Mai 1982. Ausstellungskatalog mit Texten von Frank Auerbach, Richard Morphet, Helen Lessore und Denton Welsh; Katalog von Wendy Baron.
  10. Sickert: Paintings, hg. v. Wendy Baron und Richard Shone (Ausst.-Kat. Royal Academy), London 1992.
  11. Anna Gruetzner Robins, Walter Sickert: Drawings, Aldershot/Vermont 1996.
  12. Ruth Bromberg, Walter Sickert Prints: A Catalogue Raisonné, New Haven/London 2000.
  13. Wendy Baron, Sickert: Paintings and Drawings, New Haven/London 2006.
  14. Matthew Sturgis, Walter Sickert: A Life, London 2005.