James Ensor (1860–1949) gilt als einer der Väter der Moderne. Da das Königliche Museum für Schöne Künste Antwerpen (KMSKA) aufgrund von Renovierungsarbeiten bis Ende 2017 geschlossen ist, darf die weltgrößte Ensor-Sammlung auf Reisen nach Dänemark und in die Schweiz reisen. Die Schweizer Ausstellung wird durch Werke aus Schweizer Sammlungen v.a. im Bereich der Grafik und des malerischen Spätwerks deutlich erweitert. Im Ausstellungskatalog von Hatje Cantz führt der Kurator am KMSKA und Ensor-Experte Herwig Todts in die Kunst von Ensor ein, und Nina Zimmer vom Kunstmuseum Basel beschäftigt sich erstmals mit der spezifischen Ausprägung des Japonismus in Ensors Werk (→ Monet, Gauguin, van Gogh …. Inspiration Japan).
Dänemark | Charlottenlund: Ordrupgaard
6.9.2013 – 19.1.2014
Schweiz | Basel: Kunstmuseum Basel
16.2. – 25.5.2014
Das Königliche Museum für Schöne Künste Antwerpen begann bereits Anfang des 20. Jahrhunderts Werke von James Ensor zu kaufen (→ James Ensor: Biografie). So konnte die für ihre barocken Meister so berühmte Stadt die größte Sammlung des Malers aus Ostende noch zu dessen Lebzeiten erwerben. Sie beinhaltet Werke aus allen Schaffensperioden, von Ensors Beschäftigung mit Licht und Farbe während seiner Pleinair-Phase (1876/1880–1884/1885), den symbolistisch-fantastisch-grotesken Bildschöpfungen der Jahren zwischen 1885 und 1893/1900 bis zum früh einsetzenden so genannten „Spätwerk“ ab 1900. Eine erste große Retrospektive 1905 und eine weitere 1921 informierten die Antwerpener Sammler über Ensors Werk, die in der Folge auch fleißig kauften. In Summe gewähren heute 37 Gemälde und mehr als 500 Zeichnungen im Königlichen Museum für Schöne Künste Antwerpen Einblick in die künstlerische Entwicklung des Belgiers.
Während Ensor lange den Status eines „artist's artist“, also eines Künstlers für Künstler, hatte, gilt er heute als einer der Väter der Moderne, dessen Faszination für das Groteske Künstlerkollegen wie Alfred Kubin, Paul Klee, Emil Nolde und Ernst Ludwig Kirchner inspirierte. Wenn auch Sammlung und Katalog verlässlich in das Werk von James Ensor einführen, so belassen die Autoren es dennoch bei der Aufzählung der Künstlernamen, für die Ensors Werk fruchtbar wurde. Hier zeigt sich eine Weggabelung, die zugunsten des monografischen Charakters der Wanderausstellung nicht weiter beschritten wurde.
Der Badeort Ostende, als „Königin der belgischen Seebäder“ Ende des 19. Jahrhunderts apostrophiert, war James Ensors Lebens- und Arbeitsort. Herwig Todts beschreibt Ensor als „Teilzeitkünstler“, verdiente er sich doch seinen ganzen Lebensunterhalt als Ladenbesitzer und war von Verkäufen seiner Kunst nicht abhängig. Nachdem er an der königlichen Akademie in Brüssel in den Jahren von 1877 bis 1880 zu einem realistischen Maler ausgebildet worden war, widmete er sich ganz der Freiluft- oder Pleinairmalerei. Die ausgestellten Werke zeigen unscheinbare Motive wie einen „Badewagen“, den der Sechzehnjährige präzise mit Nachmittag des 29. Juli 1876 datierte, oder Seestücke in leicht abgestuften grau-blau-ockernen Tönen, in denen Himmel und Meer miteinander verschmelzen. Ensors dunkle Figurenbilder ab 1879 sind von einem pastosen Farbauftrag in skizzenhafter Manier geprägt. Manchmal trägt er die Farbe mit der Spachtel auf. Sein Strich lässt die Formen kaum hervortreten, der erste Eindruck ist der von flüchtigen Szenen, zerfallenden Momenten.
Das in der Zwischenzeit berühmte Bild „Die Austeresserin (Im Land der Farben)“, das in seinem Entstehungsjahr 1882 sowohl vom Salon in Brüssel als auch von der Künstlervereinigung „L`Essor“ abgelehnt wurde, erstaunt ob der Menge an durchsichtigen, teils farbigen Gläsern und Flaschen, die die Hauptdarstellerin am Tisch versammelt hat. Es ist Ensors erstes Bild im helleren Kolorit. Zugegeben, es scheint in einigen Bereichen nicht ausreichend gelöst (v.a. die rechte untere Ecke), und die Objekte sind auch nicht hundertprozentig einer homogenen Perspektivkonstruktion unterworfen. Daher warfen Ensors Kritiker ihm Fähigkeiten in der Zeichnung vor. Dass aber gerade ein solches Bild zum Rückzug des Künstlers nach Ostende geführt hat, wirft ein beredtes Licht auf die traditionellen Verhältnisse in Belgiens Kunstestablishment.
Nina Zimmer schließt mit ihrem Beitrag zum Japonismus in James Ensors Werk interessanterweise eine Lücke der Forschung.1 Dass das Thema von Bedeutung ist, zeigen nicht nur die Werke, sondern hat auch mit der Profession seiner Familie als Souvenir- und Kuriositätenhändler zu tun. Zudem fällt die künstlerische Formation Ensors in die Hochphase des europäischen Japonismus, der ab den 1850er Jahren, von James McNeill Whistler beginnend über die französischen Impressionisten, immer mehr Künstler_innen, Sammler_innen und Ausstellungsbesucher_innen in seinen Bann zog.
In den Bildern „Chinoiserien, Fächer und Stoffe“ und „Die Dame auf dem Wellenbrecher“ (beide 1880) zeigt sich die Begeisterung von Ensor an allem Fernöstlichen. Der Belgier hatte über die Kuriositätenläden seiner Familie Zugang zu den billigen Waren aus Japan und China (S. 21), die er neben Tuschezeichnungen und ukiyo-e-Holzschnitten – wie Hokusais „Manga“ ab 1885 – kopierte. Ensor widmete sich nie den ganzen Kompositionen, sondern wählte mit Bedacht einzelne Figuren oder bestimmte Aspekte (S. 22). Hier zeigt sich Ensors Japonismus anfangs noch als ein Aufnehmen exotischer Motive in seine Bildwelt, um vor allem in den Interieurbildern Atmosphäre zu erzeugen und „ein bestimmtes kultiviert-bürgerliches Milieu aufzurufen“ (S. 21). Der Kontakt zu chinesisch-japanischen Objekten und Darstellungen kam über den Souvenirladen von Ensors Mutter und Tante zustande. Vor allem Tante Mimi bestellte ihre Ware bei Samuel Bing (1838–1905), der seinerseits 1878 seine Japan-Sammlung auf der Pariser Weltausstellung präsentiert hatte und als Sammler wie als Kunsthändler viel für zur Popularisierung der japanischen Kunst beitrug.2
Erst mit der Hinwendung Ensors zu skurrilen, phantastischen Sujets in grell leuchtenden, bunten Farben sollte sich auch sein Japonismus verwandeln. Ab 1887/1888 nutzte er japanische Kompositionsmethoden, die sich u.a. in der neuen Farbwahl wie auch im Einsatz von großen Farbflächen nachweisen lassen (S. 23). Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen James Tissot und Alfred Émile Léopold Stevens, die Ensor immer wieder heftig angriff (S. 24), interessierte er sich nicht für modische Damen in exotischen Interieurs oder in seidenen Kimonos, die vor goldenen Wandschirmen Grafikalben durchblättern. Ensors Suche nach Ursprünglichkeit führte ihn auch zu japanischen Theatermasken, Gespenster- und Skelettdarstellungen. Ensors Verlebendigung der Masken steht daher nicht nur in einer europäischen (Karnevals-)Tradition und einer Neubewertung des Hässlichen – Zimmer verweist auf Karl Rosekranz' „Ästhetik des Hässlichen“ und Friedrich Theodor Vischers „Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen“ – , sondern geht auch auf die Entdeckung japanischen Formenguts zurück, wie schlüssig nachgewiesen werden konnte.
Die ab 1888 auftauchenden Masken und Skelette wurden bald zum Markenzeichen des belgischen Künstlers – und dennoch gibt es zum Leidwesen vieler Kuratoren von 1883 bis 1900 nur etwa 50 Werke, in denen die so charakteristischen Masken auftauchen. Die später entstandenen Masken-Bilder sind Reprisen früherer Werke, meist in helleren Farben gehalten und gelten als weniger einfallsreich als die Erstfassungen. Ensor sah sie als sein Instrument der Demaskierung, sie enthüllen mit ihren grotesken Gesichtszügen die wahren Naturen der Menschen dahinter. In diesem Sinne baut Ensor auf der traditionellen Ikonografie von Trug und Falschheit auf, die beispielsweise in barocken Deckengemälden von strahlenden Helden vertrieben werden und dabei ihre Masken bildlich fallen lassen. Entgegen der alten Auffassung werden die Masken-Fantasien Ensors jedoch nicht bekämpft, keine Heroen retten die Welt, sondern die Masken sind überall. Jede spielt ihre Rolle, sie sind dabei brutal und fratzenhaft, gleichzeitig bleibt alles im Verborgenen und rätselhaft.
Herwig Todts wichtigster Beitrag in diesem Katalog ist die Infragestellung der klassischen Dreiteilung von Ensors Werk sowie der Abwertung des so genannten „Spätwerks“. Den stilistischen und ikonografischen Veränderungen folgend, wird es in drei Phasen geteilt:
Todts widerspricht dieser Einteilung und weist darauf hin, dass Ensor auch nach 1900 neue Projekte in Angriff genommen hätte. Vor allem „Die Opaliniden“, zwischen 1905 und 1910 entstandene Zeichnungen und Aquarelle über misslungenen Radierungen, sowie das Ballett „La Gamme d`amour“ (1911), für das er Musik, Dramaturgie, Bühnenbilder und Kostüme schuf, sind für Todts gattungsübergreifende und neuartige Formen eines völlig frei verstandenen Kunstschaffens. Nichtsdestotrotz konzentriert sich die Ausstellung auf das Hauptwerk Ensors und versucht nicht explizit eine Neubewertung des Spätwerks zu unternehmen. Nur zwei überarbeitete Drucke, eine „Ballettszene“ (1905–1915) sowie ein „Von Köpfen umringtes Selbstporträt“ (1900–1910), verweisen auf die recycelten Blätter, und vor allem die Schweizer Leihgaben bringen den späten Ensor in die Ausstellung.
Nina Zimmer, Anne-Birgitte Fonsmark (Hg.)
Vorwort von B. Mendes Bürgi, A.-B. Fonsmark
Texte von H. Todts, N. Zimmer
Gestaltung von Buero 146, Zürich
136 Seiten, 151 Abb., 21,80 x 32,70 cm
Leinen mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-7757-3721-0 (dt.)
Hatje Cantz
Die Ausstellung bringt eine hohe Anzahl von qualitativ hochwertigen Bildern wie „Die Verwunderung der Maske Wouse“ (1889) oder „Skelette im Streit um einen Gehängten“ (1891), d.h. aus der symbolistisch, fantastisch, grotesken Phase zwischen 1885 und 1900, zusammen. Ergänzt wird die Sammlung des KMSKA durch Kupferradierungen aus dem Kunstmuseum Basel sowie 14 Gemälde, die zusätzlich und ausschließlich in der Schweiz ausgestellt werden und die aus der Spätzeit des Künstlers stammen.
Die Zeichnungen der 1880er Jahre weisen Ensor als einen Mittler zwischen Realismus und Japonismus aus, der mit den Grotesken ab Mitte des Jahrzehnts einen völlig eigenständigen Weg gefunden hat. Wie es zu dieser Veränderung kam, wird von Nina Zimmer mit dem kurzen Hinweis auf die Kenntnis von Odilon Redons (1840–1916) Werk beantwortet. Im Februar 1886 wurde der französische Symbolist bei „Les XX“ ausgestellt. Beiden Künstlern gemein ist ihre Faszination für Goya und Poe, in deren Werke das Visionäre, Skurrile und Gespenstische bereits angelegt ist.
Auch die Wiederbelebung des religiösen Historienbildes fernab von möglichst realistischen Rekonstruktionsversuchen in der Historienmalerei (vgl. etwa Mihály Munkácsys riesige Trilogie zur Passion Christi; 1882, 1884, 1896) lässt ihn als Einzelgänger erscheinen. Kein Wunder, dass ein ebensolcher Solipsist wie Emil Nolde im April 1911 extra einen Abstecher zu dem von ihm verehrten Künstler machte. Die Katalogtexte führen prägnant in das Werk Ensors ein, wobei ein kurzer Beitrag zu den in der Ausstellung und im Buch reich vorhandenen Druckgrafiken noch wünschenswert gewesen wäre.