36 Positionen geben einen Einblick in die Spielarten zeitgenössischen Zeichnens der letzten zehn Jahre - so fasst Kuratorin Elsy Lahner die aktuelle Ausstellung der Albertina kurz und bündig zusammen. Alle ausgestellten Künstler_innen zählen zu den Shootingstars der letzten Jahre, denn Lahner lud vor allem Vertreter_innen der in den 60er und 70er Jahren geborenen Generation ein. Schon vor der Rolltreppe in die Basteihalle hinunter lässt der Animationsfilm „Light Switch“ von David Shrigley (* 1968 Macclesfield/England) erahnen, dass die Zeichnung bewegt wird und ihre einst so streng definierten Grenzen längst aufgebrochen sind. Fritz Panzers drahtige Rolltreppe samt Becher, Lotte Lyons leiterartige Strukturen in Blau und Rot an der Decke sowie Monika Grzymalas Wände verbindende Strichexplosion bestärken diesen Eindruck gleich zu Beginn.
Österreich | Wien: Albertina
29.5. – 20.9.2015
Raumgreifend, kollaborativ, performativ, verschiedenste Medienbilder (Internet, TV, Werbung) aufgreifend sind nur einige der Adjektive, die Zeichnen heute beschreiben. Die Auseinandersetzung mit dem Raum durch Eingreifen in demselben wird von Monika Grzymala (* 1970 Zabrze/Polen), Constantin Luser (* 1976 Graz → Constantin Luser: Musik zähmt die Bestie) und Fritz Panzer (* 1945 Judenburg) vorgeführt. Luser verbindet in seiner Installation filigrane Drahtgeflechte, die mobileartig von der Decke abgehängt sind und sich leicht im Wind der vorbeigehenden Besucher_innen bewegen, mit einer ebenso filigranen Wandzeichnung. Köpfe verschmelzen mit Landschaften, geheimnisvolle Textfragmente öffnen das Tor zur Fantasie. An der gegenüberliegenden Wandecke breitet sich eine monumentale Eckzeichnung von Aleksandra Mir (* 1967) aus. Gemeinsam mit Freunden setzte sie die Arbeit vor Ort um und führte eine Art Bühnenbild mit extrem fluchtender Perspektive aus. Die Ecke mutiert zu einem Doppelbett, ein überdimensionierter Löwe samt Skulpturen-Assemblage, Strelitzie, ein Stierschädel, indisch anmutende Wandmalerei-Zitate und ein Spiegel der auch ein Bild sein kann, bilden den fantasievoll gestalteten Raum für ein - Hochzeitspaar? Zumindest die zu weißen Schwänen geformten Bettlaken lassen an diese Nutzung denken.
Dass Zeichnung auch abstrakt und von Rastern bestimmt sein kann, zeigen Silvie Bächli (* 1956 Baden/CH) und Ignacio Uriarte (* 1972 Krefeld). Die geheimnisvollen Ei- oder Steinformen Uriartes entstehen durch fast manische Kreisbewegungen. Der scharfe und dunkle Rand sowie die Aufhellung im Zentrum der unregelmäßigen Rundkörper lassen aus der Entfernung die Illusion von Dreidimensionalität entstehen, die beim Nähertreten sofort zerfällt. Tomma Abts (* 1967), Gewinnerin des Turner Prize 2006, nähert sich mit ihren spontan entstandenen Zeichnungen einer anti-konzeptuellen Haltung. Die Formationen erinnern an Faltungen und arbeiten mit Wiederholung. In ihrer Geometrie stilllebenhaft wirkt hingegen die großformatige Arbeit „Untiteled (White Windows)“ (2005/6) von Toba Khedoori (* 1964 Sydney).
Dieses Spiel mit Nähe und Entfernung, auch eine Metapher von Intimität und Repräsentation ist für viele Beteiligte eine wichtige Qualität des zeichnerischen Akts. Michaël Borremans (* 1963 Geraardsbergen/Belgien) verstört, Jorinde Voigt (* 1977 Frankfurt) philosophiert mit Linie und Worten. Den genauen Blick belohnt Mithu Sen (* Burdwan/Indien), die ihre Zeichnungen in Plexiglasboxen präsentiert, die wiederum selbst Träger von kaum sichtbaren Strichritzungen sind. Sen verdoppelt die Zeichnungen, in denen sie sich mit Mensch und Natur beschäftigt. Paul Noble (* 1963 Dilston/England) hingegen erfreut sich an Wiederholung und Formanalogie. Beide zusammen ergeben Gleichförmigkeit, die dem Künstler höchst willkommen ist und eine verstörend sterile Welt entstehen lässt. Trotz ihrer „Perfektion“ strahlt sie die Gefahr eines Gefängnisses (Vogelschau als Metapher der Überwachung?) oder den Charme von Alice’s Wunderland aus.
Dan Perjovschis (* 1961 Sibiu/Rumänien) ebenfalls wandfüllende Installation arbeitet mit Form- und Klangähnlichkeiten: Kunst wird zu Koons; auf WW I (Erster Weltkrieg) folgen WW II (Zweiter Weltkrieg) und WWW (World Wide Web); Sing & Sink; the National Wurst wird ohne Senf gereicht; etc. Gleich daneben schlägt Robin Rhodes in „A Spanner in the Works of Infinity“ (2012/13) eine Brücke zwischen Zeichnung und Street Art, indem er in neun Fotografien einem Kreuzschlüssel so viel Drall verleiht, dass dieser in einer schneckenhausförmigen Bewegung rund um den Künstler wirbelt. Das Prozesshafte des Zeichnens macht auch Nikolaus Gansterer (* 1974 Klosterneuburg) zum Thema, der am 3. Juni 2015 in der Performance „Drawing Matters Other Others“ die Zeichnung als Visualisierungsmedium von Denkvorgängen in Frage stellt.
Auffallend häufig sind Positionen zu finden, die sich mit Medienbildern in Kombination mit Textfragmenten beschäftigen. Markus Muntean und Adi Rosenblum (* 1962 in Graz und Haifa) führen durch Umbettung von exaltierten Werbungsposen oder kunsthistorischen Vorbildern in alltägliche Umgebung Erstere ad absurdum und ergänzen ihre Bilder durch Aphorismen, die sich jeglicher Erklärung entziehen.
Einer einfachen Narration entzieht sich auch der Niederländer Marcel van Eeden (*1965 Den Haag) mit seinen Bildcollagen. Eeden bedient sich einer Ästhetik, die an Film noir erinnert und damit auf die Zeit vor seiner Geburt verweist. „We are all Americans …“ oder „PEOPLE BEFORT PROFITS“ kann man auf den hyperrealistischen Zeichnungen von Andrea Bowers (* 1965 Wilmington/USA) lesen. Sie verarbeitet aktuelle Medienbilder von Demonstrationen, vereinzelt deren Teilnehmer_innen und setzt sie als kleine Figuren auf übermächtig weiße Blätter. Einen ähnlichen politischen Hintergrund haben auch die 2012 entstandenen Kohlezeichnungen von Olga Chernysheva (* 1962 Moskau → Olga Chernysheva: „Situationen müssen weiterentwickelt werden, um Bilder zu werden“), deren aktuellste Zeichnungen auf der Biennale von Venedig zu sehen sind. Sie zeigt das prekäre Leben von Moskowiter_innen in der Putin-Ära. Kurze Notizen, krude mit Klebeband an den Zeichnungen befestigt, klären darüber auf, womit sich die dargestellten Personen schützen: einem Buch, Rauch, Pudel, einer Zeichnung, einer Pfeife, usw.
Die Leistung von Tacita Deans (* 1965 Canterbury/England) „Berlin and the Artist (after Robert Walser, 1878–1956)“ (2012) besteht darin, die Zeichnung als persönlichste Geste von Kunstschaffenden erneut zu festigen und als Material ihrer konzeptuellen Arbeit zu verwenden. Für ihr elfteiliges Werk kombinierte sie Skizzen von Martin Stekker (1878–1962), einem wenig bekannten Zeitgenossen des Schweizer Schriftstellers Robert Walser, mit Fotografien und Postkarten von Berliner Flohmärkten. Das Interesse der Künstlerin richtet sich in diesem Fall auf einen begabten Zeichner, der zufällig im gleichen Jahr wie der Autor geboren wurde und sich auf das Festhalten des Alltäglichen konzentrierte. Die kleinen Szenen und persönlichen Beobachtungen erschließen die Atmosphäre der Stadt. Dass die Zeichnungen genau das Berlin festhielt, das Robert Walser während seines Aufenthalts in der Stadt zwischen 1905 und 1913 sah, macht sie zu Zeitkapseln. Dean umkreist mit ihren Collagen auch den künstlerischen Prozess, den Walser in seinem Text „Berlin und der Künstler“ (1910) beschrieben hat. Darin hält er fest, dass Künstler arbeiten, auch wenn sie scheinbar nichts tun. Walser bezeichnete es als „Faulpelzerei“, wenn keine sichtbaren Handlungen gesetzt werden.
Mit Hilfe von roten Gurten hat Rainer Prohaska (* 1966 Krems) die Albertina schon einmal gedanklich verpackt und damit die Zeichnung, alias Linienkunst, weithin sichtbar von ihrem Papierträger befreit. Wenn das auch keine revolutionär neue Geste mehr darstellt, so zeigt es doch die Bereitschaft von Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder das klassizistische Gebäude der zeitgenössischen Kunst mehr als nur zu öffnen.
Da alle in der Schau vereinten Künstler_innen bereits fest etablierte Größen in der aktuellen Kunstwelt darstellen, also weder große Überraschungen noch Neuentdeckungen zu machen sind, so gewährt „Drawing Now“ dennoch einen Einblick in die fast schon klassischen Herangehensweisen des Zeichnens der letzten zehn Jahre. Die Kunst der Linie hat sich Raum und Zeit erobert, tritt als feines Gespinst oder krude Notiz auf, beschreibt die Realität oder skizziert Fantastisches. „Drawing Now“ hat aber auf jeden Fall ihre dienende Funktion schon längst an den Nagel gehängt und breitet sich gerne auf wandfüllenden Formaten aus. Kurzum alles ist möglich! Die Entscheidung für die Zeichnung stellt sich als eine Frage der persönlichen Wahl der Künstler_innen dar. Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit der Werke sind in der ganzen Ausstellung spürbar.
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