Amrita Sher-Gil
Wer ist Amrita Sher-Gil?
Amrita Sher-Gil (Budapest 30.1.1913–5.12.1941 Lahore) war eine ungarisch-indische Malerin der Moderne (→ Klassische Moderne). Die in Europa kaum bekannte Malerin Sher-Gil gilt heute als eine Begründerin der modernen Malerei in Indien, verband sie doch die westliche Tradition mit der indischen Kultur. Die 1913 in Budapest geborene Künstlerin studierte bis 1933 an der École des-Beaux-Arts in Paris und errang mit ihren frühen Werken bereits beachtliche Erfolge. In den folgenden acht Jahren reiste sie zwischen Paris und Indien, wo sie das Leben der armen indischen Bevölkerung in Bildern thematisierte. Im Alter von nur 28 Jahren starb Amrita Sher-Gil wohl an den Folgen einer Abtreibung. Ihr Nachlass bildet den Grundstock für die National Gallery of Modern Art in Neu-Delhi.
„Ich kann nur in Indien malen. Europa gehört Picasso, Matisse, Braque und den anderen. Indien gehört nur mir.“1 (Amrita Sher-Gil in einem Brief an ihren Vater, 1934)
Kindheit
Amrita Sher-Gil kam am 30. Januar 1913 in Budapest, Österreich-Ungarn (heute: Ungarn), als Tochter eines aristokratischen Sikh-Inders, Umrao Singh Sher-Gil, und einer ungarisch-jüdischen Mutter, Marie Antoinette Gottesmann, zur Welt. Umrao Singh Sher-Gil war Spezialist für Sanskrit und Persisch. Er hatte die Opernsängerin Marie Antoinette Gottesmann 1912 in Lahore kennengelernt, als diese als Begleiterin von Prinzessin Bamba Sutherland, der letzten Regentin des Sikh-Reiches, nach Indien kam. Amrita hatte eine jüngere Schwester, Indira Sundaram (März 1914–?), die Mutter des bekannten indischen Künstlers Vivan Sundaram (28.5.1943–29.3.2023).
Da ihre Familie in Ungarn finanzielle Probleme hatte, zog sie 1921 nach Summer Hill, Shimla, Indien. Dort begann Sher-Gil Klavier und Geige zu lernen. Mit neun Jahren gab sie zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Indira Konzerte und spielte in Theaterstücken im Shimla's Gaiety Theatre in der Mall Road, Shimla.
Sher-Gils Tagebücher enthalten ihre frühen Schriften und Skizzen. Ihr erstes Tagebuch wurde 1920 im Alter von sieben Jahren begonnen und enthält illustrierte Märchen und Gedichte. Tagebuch zwei, begonnen im Alter von elf Jahren, ist auf Englisch und Ungarisch und wurde in Florenz, Italien, geschrieben, wo Sher-Gil bei dem italienischen Bildhauer Giulio Pasquinelli ausgebildet wurde. Tagebuch drei begann ein Jahr später, als Sher-Gil zwölf Jahre alt war und in Simla, Indien, lebte.
Ausbildung
Obwohl sie bereits seit ihrem fünften Lebensjahr malte, begann sie im Alter von acht Jahren mit dem Studium der Malerei. Sher-Gil erhielt formellen Kunstunterricht von Major Whitmarsh, der später von Beven Pateman ersetzt wurde. In Shimla lebte Sher-Gil einen relativ privilegierten Lebensstil. Als Kind wurde sie von ihrer Klosterschule verwiesen, weil sie sich zur Atheistin erklärte.
Im Jahr 1923 lernte Amritas Mutter den italienischen Bildhauer Giulio Pasquinelli kennen, der damals in Shimla lebte. Als Pasquinelli 1924 nach Italien zurückkehrte, zog sie gemeinsam mit Amrita nach Florenz und ließ ihre Tochter an der Kunstschule Santa Annunziata einschreiben. Obwohl Amrita nicht lange an dieser Schule blieb und 1924 nach Indien zurückkehrte, kam sie hier mit Werken italienischer Meister in Kontakt.
Amritas Onkel, der Indologe Ervin Baktay, bemerkte Sher-Gils künstlerisches Talent während seines Besuchs in Shimla im Jahr 1926. Er setzte sich dafür sein, dass Sher-Gil eine Kunstausbildung erhielt. Baktay leitete sie an, indem er ihre Arbeit kritisierte, und vermittelte ihr eine akademische Grundlage. Als junges Mädchen malte Amrita die Diener:innen in ihrem Haus und ließ sie für sie Modell stehen. Die Erinnerungen daran führten schließlich zu ihrer Rückkehr nach Indien.
Im Alter von 16 Jahren segelte Sher-Gil mit ihrer Mutter erneut nach Europa, um sich in Paris als Malerin ausbilden zu lassen, zunächst an der Académie de la Grande Chaumière bei Pierre Vaillent und Lucien Simon (wo sie Boris Taslitzky kennenlernte) und später an der École des Beaux-Arts (1930–1934). Sie ließ sich von europäischen Malern wie Paul Cézanne, Paul Gauguin und Amedeo Modigliani inspirieren, während sie unter dem Einfluss ihres Lehrers Lucien Simon und durch die Gesellschaft von Künstlerfreunden und Liebhabern wie Taslitzky arbeitete. 1931 war Sher-Gil kurzzeitig mit Yusuf Ali Khan verlobt, aber Gerüchte verbreiteten sich, dass sie auch eine Affäre mit ihrem Cousin ersten Grades und späteren Ehemann Viktor Egan hatte. Ihre Briefe enthüllen gleichgeschlechtliche Affären.
Die angehende Künstlerin besuchte die europäischen Hauptstädte und war besonders fasziniert, als sie 1933 Werke von Paul Gauguin in der National Gallery in London sah. Gaugins postimpressionistischer Stil beeinflusste sie stark und das Wissen, dass er zu den pazifischen Inseln gereist war, um neue Farben und Texturen zu entdecken, verstärkten die Anziehungskraft Indiens.2 Während ihres Aufenthalts in Paris soll sie mit einer Überzeugung und Reife gemalt haben, die man bei einer 16-Jährigen nur selten findet. Amrita Sher-Gil gewann eine Goldmedaille im Grand Salon in Paris und wurde 1933 zum Mitglied gewählt - als jüngstes Mitglied aller Zeiten.
Sher-Gild in Indien
„Damals erkannte ich meine künstlerische Mission: das Leben der Inder:innen, vor allem der armen Inder:innen, bildlich umzusetzen, in stillen Bildern.“3 (Amrita Sher-Gil)
Amrita Sher-Gil lebte zu verschiedenen Zeiten ihres Lebens in Indien: als Kind zwischen 1921 und 1926 und dann wieder als Erwachsene von 1934 bis zu ihrem frühen Tod 1941. Nachdem ihre Familie aus Ungarn ausgewandert war, lebte sie in Shimla (bis 1972 Simla), einer Stadt am Fuße des Himalaya-Gebirges.
Im Jahr 1915 kehrte Mahatma Gandhi aus Südafrika nach Indien zurück.4 Er setzte diese Arbeit in seiner Heimat fort und bekämpfte das ungerechte Kastensystem. 1920 startete er eine Nichtkooperationsbewegung gegen die britische Herrschaft, die jedoch nach zwei Jahren an Schwung verlor, als gewalttätige Ereignisse die pazifistischen Aktivisten abschreckten. Schließlich wurde Jawaharlal Nehru 1929 zum Präsidenten des Indian National Congress (INC) ernannt und die Complete Independence Campaign zur Emanzipation von der britischen Kolonialherrschaft begann. Sher-Gil freundete sich Mitte der 1930er Jahre mit Nehru an.
Nach verschiedenen politischen Bewegungen wie der Quit India Campaign endete 1947 offiziell die britische Kolonialherrschaft und der Subkontinent wurde in das heutige Indien und Pakistan geteilt. Das Parlament des Vereinigten Königreichs verabschiedete den Indian Independence Act und Jawaharlal Nehru wurde der erste Premierminister von Indien.
Werke
Als Sher-Gil volljährig wurde, gab es „in Indien mehrere gleichzeitige Bemühungen, eine alternative, historisch gültige Moderne zu etablieren. Obwohl die Malerin davon nichts wusste, leistete Sher-Gil ihren entscheidenden Beitrag, indem sie das Problem der Repräsentation des ‚Anderen' in Bezug auf Ethnizität, Klasse und Geschlecht und damit in einen nationalen Kontext stellte.“5 Sher-Gil mischte europäische und indische Traditionen, indem sie neue Aspekte in die indische Moderne einführte und das Persönliche und Intime in den Vordergrund stellte.
Wie im oben angeführten Zitat deutlich wird, fühlte sie sich den männlichen Heroen der frühen 1930er Jahre – Pablo Picasso, Henri Matisse, Georges Braque – nicht gewachsen. Was, so mag man ergänzen, könnte sie der langen europäischen Moderne noch geben? Nun Paris bot ihr mit den vielen internationalen Kunststudent:innen, von denen stellvertretend die Brasilianerin Tarsila do Amaral genannt werden soll, eine Lösung. Nach einer langen Reise durch Indien besann sich Sher-Gil darauf, dass ihre „künstlerische Mission“ darin bestand, „das Leben der Inder und insbesondere der armen Inder bildhaft zu interpretieren, diese stillen Bilder unendlicher Unterwerfung und Geduld zu malen.“6 Damit wandte sich die Künstlerin einer sozialpolitischen Fragestellung zu, die bis heute die vom Kastenwesen geprägte indische Lebenswelt prägt.
Ihr berühmtes Gemälde „Drei Mädchen“ (1935) zeigt ihre Nichten im Haus ihrer Großeltern in Amritsar: Beant, Narwair und Gurbhajan Kaur. In einem Zeitraum von zwei bis drei Wochen schuf Sher-Gil ein Bild von scheinbar nachdenklichen, bescheidenen jungen Frauen. Doch zeigt uns die Malerin ihre Verwandten in einer sozial erwünschten Pose. Wie Amrita Sher-Gil selbst betonte, sollen Linien, Farben und Komposition die Gefühlsebene unterstreichen.7 Seither werden ihre Bilder als ambivalent gedeutet, Sher-Gils Modelle können gleichzeitig nebeneinander sitzen und dennoch voneinander isoliert sein.8 Häufig wird betont, dass die Malerin ihre eigene Melancholie in die Bilder gelegt hätte.
1937 reiste Amrita Sher-Gil durch Westindien, wo sie von den Wandmalereien der Ajanta-Höhlen beeinflusst wurde. 1938 besuchte sie Südindien und entdeckte die Rajasthani-Miniaturen aus dem 17. Jahrhundert, die ihre südindische Trilogie inspirierten: Brahmacharis (1937), South Indian Villagers Going to Market (1937) und Bride’s Toilet (1937).
„In einem 1937 in Allahabad veröffentlichten Ausstellungskatalog erklärte der Kritiker und Sammler Karl Khandalavala Sher-Gils Werk als ‚Übersetzung‘ indischer Malerei. Auch andere Kritiker erkannten in Sher-Gils Gemälden eine Qualität, die gleichzeitig radikal neu und zutiefst vertraut war.“ (Sonal Khullar, 2022)
Sher-Gil kehrte nach Indien zurück, wo sie an einer Ausstellung in der Simla Fine Arts Society teilnahm und einen Preis für eines von fünf Gemälden in der Ausstellung erhielt. Die Malerin erhielt zudem einen Preis für ein in Delhi ausgestelltes Gemälde und veranstaltete eine Einzelausstellung in Delhi im Jahr 1937.
Tod
Amrita Sher-Gil starb am 5. Dezember 1941 in Lahore vermutlich an einer Bauchfellentzündung. Es ist auch denkbar, dass ihr Ehemann, der Arzt Victor Egan, eine Abtreibung vorgenommen hat, die tödlich endete. Die Künstlerin war erst 28 Jahre alt.
- Zitiert nach: Charlie Connelly, Amrita Sher-Gil: The Painter Whose Greatest Critic Was Herself, in: The New European (2.12.2021), (letzter Aufruf 21.1.2023).
- Connelly.
- Zit. n. Radikal! Künstlerinnen*und Moderne 1910–1950, hg. v. Stella Rollig, Stephanie Auer, Andrea Jahn und Kathrin Elvers Švamberk (Ausst.-Kat. Museum Arnhem, 7.9.2024–5.1.2025; Saarlandmuseum – Moderne Galerie, Saarbrücken, 8.2.–18.5.2025; Belvedere, Wien, 17.6.–12.10.2025), S. 236.
- Gandhi hatte sich für die Rechte des indischen Volkes eingesetzt.
- Geeta Kapur, When Was Modernism, New Delhi 2000, S. 3.
- Zitiert nach: Charlie Connelly.
- Siehe: Conelly
- Siehe Yashodhara Dalmia, Amrita Sher-Gil, A Life. Gurgaon 2013, S. 60.