Anselm Kiefer, Für Jean Genet, 1969, Seiten 4–5, Fotograf: Charles Duprat, Paris © Anselm Kiefer.
Wenn Anselm Kiefer gesteht, „ich denke in Bildern“, dann müsste er noch ergänzen, dass Texte wichtige Quellen seiner Kunst sind. Der vorliegende Katalog gibt einen Überblick über Kiefers Malerbücher und Buchobjekte seit den späten 1960er Jahren – von „Du bist Maler“ (1969), über „Für Jean Genet“ (1969) und „Die Überschwemmung Heidelbergs I“ (1969) zu „Die Hermanns-Schlacht“ (1977), „Die Wolkensäule“ (2015) und „Der Rhein“ (1982/2013). Die Texte von Heiner Bastian, Aeneas Bastian und Hans Werner Schmidt zeugen von hoher Einfühlungskraft. Das erstmals auf Deutsch abgedruckte Gespräch zwischen Anselm Kiefer und Christoph Ransmayr erlaubt einen Einblick in beider Gedanken zu Buch und Wissen.
Deutschland / Leipzig: Museum der bildenden Künste
27.2. – 16.5.2016
Seit Beginn seiner künstlerischen Tätigkeit beschäftigt sich Kiefer mit dem Objekt Buch, nicht als Illustrator, sondern als Medium mit langer Tradition. So wie sich in seinen Gemälden Textfragmente von Sappho, Ovid, Rimbeaud, Baudelaire, Bachmann, Celan, Rilke, Chlebnikov, Heidegger, Bloch, der Bibel und der Kabbala mahnend und erklärend einfügen, so schieben sich Fotografien, Übermalungen und Materialexperimente in Kiefers Buchobjekte.
Immer wieder erklärte der 1945 in Deutschland geborene Künstler, dass die Ruinenfelder der Nachkriegszeit seine Abenteuerlandschaften gewesen wären. Aus diesen ließ er die Welt der Mythen, der untergegangenen Kulturen des Zweistromlandes, der jüdischen Mystik und der Astralmystik auferstehen. Seine Malerei und Materialbilder wandten sich früh gegen jede Verdrängung der NS-Diktatur und ihre Symbole. Schon mit einer seiner ersten Arbeiten kratzte er am Lack des Vergessens. In „Für Jean Genet“ (1969) posiert Anselm Kiefer in einem Hippie-Häckelkleid mit dem Hitlergruß, und in „Die Überschwemmung Heidelbergs I“ (1969) sollte wohl die Neckar den Dreck der Vergangenheit aus der Stadt spülen. Eine wahrlich herkulische Tat, vergleichbar nur mit dem Ausmisten der Rinderställe des Augias durch den attischen Helden. In seinen 1969 begonnen Künstlerbüchern, so Aeneas Bastian, löst Anselm Kiefer seither ein, was Verlaine, Mallarmé und Marinetti in der Literatur bereits vorgelegt hätten.1
Anselm Kiefer ist ein Künstler der Andeutung – Gott sei Dank. Wer sich in sein Universum begibt, geht schnell in der Bibliothek verloren, so mannigfaltig sind die Fäden, die er auslegt. Er inszeniere Leerstellen als Bühnen, schreibt der Direktor des Museums der bildenden Künste in Leipzig Hans Werner Schmidt über Kiefers „Mythologische Bildlandschaften“2. Das ist nur eine der klugen und überaus einfühlsam formulierten Beobachtungen in diesem Band.
Verfall, Zersetzung, Brand, also die Vergänglichkeit des Bildes, sind weitere wichtige Faktoren in Kiefers Künstlerbüchern und Buchobjekten. Allein die gewählten Materialien gehen über herkömmliche Buchprojekte hinaus: holzartige Werkdruckpapiere, Bleifolien, Blütenblätter und Pflanzen (getrocknet und daher fragil), Haare, Sand, Tonerde, Aquarelle, wissenschaftliche Reproduktionen, Holzschnitte, Stempeldrucke, Fotografien gehören zu den wichtigsten Materialien. Manchmal verarbeitet Anselm Kiefer auch zerschnittene und/oder verkohlte Leinwände zu Büchern. Sammeln, Schneiden, Kleben, Übermalen, Beschreiben – das Materielle der Bücher ist essentiell. Die Arbeit selbst ist für Anselm Kiefer ein Prozess, denn die Ideen kommen ihm während des Arbeitens. Damit verschwimmt die „Gattungsgrenze“ zwischen Buch und Objektkunst, weiter herausgefordert durch die teils enorme Größe3 der Buchobjekte. Vom „Buchkörper“ mit Betonung des Körperlichen spricht Aeneas Bastian.4 Daher sind sie singulär und auch nur schwer zu reproduzieren.
„Alles hat seinen Anfang in sich, seine Negation und damit den Anfang.“5 (Anselm Kiefer)
Anselm Kiefers Bücher sind meist unlesbar. Er selbst beschreibt seine Bleibücher im Interview mit Christoph Ransmayr als „absolute Vergeheimnisung“, als „Anspielung auf die Dialektik von Sein und Nichts“ (S. 12). Die Ruinen des zerbombten Deutschland sind gleichzeitig Endpunkt und Neuanfang. „Da ist alles möglich“, zeigt sich der Künstler überzeugt. Und auch wenn Herny Morgenthaus Utopie eines entindustrialisierten Deutschland, eines Landes voller Bauern und Schäfer, nicht umgesetzt wurde, so ließ Anselm Kiefer in seinen jüngsten Mohnblumen-Bildern diese Fiktion Realität werden.
Wenn Heiner Bastian in diesem Katalog über Stephane Mallarmé schreibt, dann meint er Anselm Kiefer. Mit dem „Würfelwurf“ (…un coup de dés) schuf der französische Poet nicht nur ein wahrhaft magisches Buch, das verschiedene Lesarten erlaubt6, sondern verband Ästhetik mit Text auf unentwirrbare Weise: Der Satz des Textes auf der Seite wurde zum Inhaltsgenerator. Seine „bewusst gewählte fremde Symbolik, die Isolierung der Dichtung jenseits der Wirklichkeit unseres Sprachgebrauch“ wird so nach Bastian zu einem Streben nach „Nichts, das er Schönheit nannte“7. Fernab von Sinn (Vernunft und Technokratie) treffen einander der Sprach- und der Bildkünstler auf dem durchscheinenden Weiß des Papiers. Bei Kiefer kann das in das undurchdringliche Schwarz von bleiernen Blättern umschlagen.
mit Beiträgen von Heiner Bastian, Aeneas Bastian, Hans Werner Schmidt und einem Gespräch zwischen Anselm Kiefer und Christoph Ransmayr
100 Seiten, ca. 100 Farbabb., 23 x 30 cm, gebunden
ISBN 978-3-8296-0755-1 (dt./engl.)
Edition Heiner Bastian, Schirmer/Mosel
Hans Werner Schmidt, Mythologische Bildlandschaften, S. 5–8.
In den Ruinen von Saïs. Das Gespräch zwischen Anselm Kiefer und Christoph Ransmayr, S. 10–19.
Heiner Bastian, Fremdheit, S. 21–24.
Aeneas Bastian, Erinnern in Bildern, S. 26–27.
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