Die jungen Jahre von Georg Baselitz, Gerhard Richter, Sigmar Polke und Anselm Kiefer bezeugen die Kritikfähigkeit deutscher Maler während des Wirtschaftswunders der 1960er Jahre und bis in die 1970er Jahre hinein. 112 frühe Hauptwerke zeigen, wie alle vier Künstler mit ihrem Frühwerk die Grundlage für ihren nationalen wie internationalen Erfolg legten. Obschon sich alle vier als unpolitisch sehen, können, ja müssen ihre Werke als Kommentare auf die sie umgebende Gesellschaft, die deutsche Geschichte und der Umgang damit gelesen werden. Unpolitisch kann in diesem Zusammenhang nur eine Unabhängigkeit von parteipolitischen Dogmen bedeuten. Götz Adriani, der die vier Maler aus Deutschland, schon seit Jahrzehnten begleitet, kuratiert die umfassende Schau, die zuerst in der Staatsgalerie Stuttgart und ab 13. September in den Deichtorhallen in Hamburg zu sehen ist.
Deutschland / Stuttgart: Staatsgalerie
12.4. – 11.8.2019
verängert bis 18.8.2019
Deutschland / Hamburg: Deichtorhallen
13.9.2019 – 5.1.2020
Die vier Maler Baselitz, Richter, Polke und der etwas jüngere Kiefer stehen prototypisch für die Generation der während des Zweiten Weltkriegs geborenen Deutschen. Sie erlebten in ihrer Kindheit und Jugend die Kriegs- und Nachkriegszeit. In ihren Gemälden verarbeiteten sie Erlebtes und reagierten auf die deutsche Geschichte. Ihre Suche nach einer neuen (west-)deutschen Identität ließ sie gegen die Prüderie auflehnen, den Konsum als Sucht diffamieren. Sie enttarnten Verdrängung, Verleugnung, Schweigen als Quellen des Unheils, fragten nach missbrauchten Texten oder stellten mit Hilfe von Meta-Malerei die Möglichkeiten des Malens auf den Kopf.
Dass Georg Baselitz diesen Schritt machte und seit „Der Wald auf dem Kopf“ (1969) konsequent seine Motive auf den Kopf stellt, ist bereits legendär. Gerhard Richters romantisches „Schloss Neuschwanstein“ (1963) tifft auf „Onkel Rudi“, auf das zerbombte Dresden, auf den die Treppen herabsteigenden Akt, auf uminterpretierte Bilder aus Zeitschriften und Zeitungen. Während Richter den Malprozess per se sowie die Reduktion des Kolorits auf subtile Grauwerte als Ausdrucksträger einsetzte, arbeitete Sigmar Polke mit Witz und Ironie, mit Materialimitation (Druckgrafik, Rasterdruck), mit humorvollen Kommentaren auf berühmte Werke der Kunstgeschichte (Dürer-Hase) oder führte das Konzept des Informel in „Moderne Kunst“ (1968) ad absurdum. Die Auseinandersetzung mit den Überresten des Nazismus und des Kriegs (Stichwort: Hitlergruß, germanische Mythologie und Bunker) stellt in den 1960er Jahren den wichtigsten Aspekt in Anselm Kiefers Werk dar.
Offensichtlich wurde und wird das Werk der vier berühmten deutschen Maler als eine Form der Aufarbeitung sowohl der Schuld, der Traumata aber auch als Symbol für das Wiedererstarken einer Nation international anerkannt. Seit Jahren sind die vier Künstler auf den Listen der führenden lebenden Maler und schon längst in alle historische Überblicksdarstellungen zur Kunst des 20. Jahrhunderts eingespeist.
Für Götz Adriani, Kunsthistoriker und Kurator der Ausstellung, sind es große Ausstellungsprojekte, welche die Karrieren der Künstler – und schlussendlich deren internationalen Erfolg – ausmachen.1 Hier macht er aus, dass den erfolgreichen Präsentationen auf der Biennale von Venedig großangelegte Ausstellungstourneen der Maler in den USA folgten. Gerhard Richter war schon 1972, Georg Baselitz und Anselm Kiefer 1980 sowie Sigmar Polke 1986 auf der wichtigsten Kunstbiennale der Welt vertreten. Der internationale Durchbruch gelang ihnen ab 1987, als eine Einzelausstellung von Anselm Kiefer durch die USA tourte2 Ein Jahr danach folgte eine Ausstellungstournee von Gerhard Richter3 Im Jahr 1990/91 folgte Sigmar Polke4. Georg Baselitz konnte schlussendlich 1995/96 eine große Ausstellung eröffnen.5
Abgesehen von Sigmar Polke, der 2010 verstorben ist, unterstützen Richter, Baselitz und Kiefer mit singulären Leihgaben aus ihrem Besitz die Ausstellung. Die intensive Auseinandersetzung der vier Künstler mit ihrer Zeit und deren unmittelbaren Vergangenheit wird in der Schau durch ein Zeitpanorama der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Ereignisse – vom Wirtschaftswunder und dem geforderten Wohlstand für alle, bis zu den Studentenunruhen und der außerparlamentarischen Opposition ergänzt.
Gastkurator: Prof. Dr. Götz Adriani
Begleitet wird die Ausstellung von einer umfassenden Publikation Götz Adrianis, die ausführliche Gespräche mit den Künstlern über ihr Frühwerk und dessen besonderen Stellenwert beinhaltet, sowie zahlreiche Abbildungen und eine zeitgeschichtliche Dokumentation der 1960er Jahre.
Staatsgalerie Stuttgart, Deichtorhallen Hamburg (Hg.)
Text von Gotz Adriani
342 Seiten, 360 Abb., farbig und S/W
30,5 x 23,5 cm, Festeinband
ISBN 978-3-95498-472-5 (DT / Buchhandel)
ISBN 978-3-95498-473-2 (E / Buchhandel)
Sandstein Verlag