Im 350. Todesjahr Rembrandt van Rijns feiert das Kupferstich-Kabinett einen der kreativsten und radikalsten Künstler aller Zeiten. Die Ausstellung baut auf der bedeutenden Dresdner Sammlung an Druckgrafiken und 20 Zeichnungen des Niederländers auf, und stellt dessen freien, unverkennbaren Strich in den Mittelpunkt der Reflexion – sowohl künstlerisch wie kunsthistorisch (→ Rembrandt: Biografie). Im Ausstellungskatalog fokussieren die Beiträge auf die Kunsttheorie des „Strichs“ im Vergleich zur körperlosen Linie, der Materialität der Zeichnungen und der Deutung des berühmten „Hundertguldenblattes“ des Barock-Malerradierers.
Deutschland | Dresden: Residenzschloss, Kupferstich-Kabinett
14.6. – 15.9.2019
Die Ausstellung präsentiert die kostbaren Blätter und erweitert den Blick auf künstlerische „Antworten“ auf den außergewöhnlichen Druckgrafiker: beginnend mit Selbstporträts von Baldassare Castiglione, Francisco de Goya, Käthe Kollwitz, Max Beckmann bis zu A. R. Penck, zu Motivübernahmen bei Marlene Dumas bis zu Druckgrafik-Experimenten von Pablo Picasso. Wenn auch einige Künstlerinnen und Künstler sich ikonografisch an Rembrandt abarbeiteten oder dessen Einsatz von Licht und Schatten als vorbildhaft erachteten, so ist es dennoch immer wieder dessen freier, virtuoser und dadurch modern wirkender Strich, der viele begeisterte und noch immer in Bann zieht.
Der barocke Künstler stellte das Naturstudium scheinbar über die Wirkmacht der Tradition – Rembrandt beschäftigte sich intensiv mit Werken von Leonardo da Vinci, Michelangelo Buonarroti und Raffael –, und schilderte den Alltag aus ungewohnt realistischer Perspektive. Er ist berühmt für seine unkonventionellen Interpretationen von christlichen und profanen Themen (wie Sex im Kornfeld und urinierende Personen, Bettler) und sein Rollenspiel im ostentativ betriebenen Selbstporträt. Wie ein Kammerton begleitet die Auseinandersetzung mit dem Selbst das Werk des Amsterdamers und bot ihm reiche Gelegenheit für motivisch und technische Experimente. Mit humorvollem bis ironischem Blick analysierte er sich selbst und warf sich dabei auch in Pose.
Wie wenig er offensichtlich gewillt war, sich an Konventionen zu halten, wird seit dem 19. Jahrhunderten in der Erzählung von Aufstieg und Fall des Künstlers und Bürgers Rembrandt gerahmt. Als außergewöhnlicher und virtuoser Druckgrafiker war er schon den Zeitgenossen bekannt. Wenn auch seine Ölgemälde heute die große Gruppe an Radierungen in der öffentlichen Wahrnehmung überstrahlen, so kann man Rembrandt mit Fug und Recht als Maler-Radierer bezeichnen (vgl. auch die Ausstellung Rembrandt im Rijksmuseum).
Rembrandts Strich ist ein Teil seiner Handschrift, die oben beschrieben Zugänge bilden weitere. Gemeinsam ergeben sie eine facettenreiche Persönlichkeit, deren Strahlkraft weit über Rembrandts Schüler, ja sogar das 17. Jahrhundert hinausreicht. Daher verwenden die Kuratorinnen der Ausstellung Stephanie Buck und Mailena Mallach den „Strich“ auch als Metapher für die „Spur“, die der Künstler in der Kunstgeschichte hinterlassen hat.
Rembrandts Selbstporträts begeistern ob ihrer außergewöhnlichen, höchst direkten Ausdruckskraft. In kleinformatigen, skizzenhaften Selbstdarstellungen oder auch repräsentativen Selbstinszenierungen – beispielsweise auf der Basis von Raffaels Porträt des Baldassare Castiglione in „Selbstbildnis mit aufgelegtem Arm“ (1639) oder als orientalischer Edelmann – stellt sich der Künstler ins Rampenlicht. Hierbei scheute er auch nicht davor zurück, sich als Bettler zu zeigen, der Grimassen schneidet. Diese frühen Radierungen müssen, wie Jürgen Müller im Katalog betont, im Kontext der Historienmalerei und der Affektdarstellung verstanden werden. Besonders eindrücklich vermeint man dem Künstler Rembrandt auf die Spur zu kommen, wenn er sich in „Selbstbildnis, am Fenster zeichnend“ (1648) als bewusst aus dem Bild blickender Kreativer während des Schaffensprozesses zeigt.
An die Reihe von knapp über 20 gedruckten Selbstporträts Rembrandts schließt das Kupferstich-Kabinett in Dresden die erste Gruppe an Schülern, Nachfolgern, Zeitgenossen aber auch Rembrandt-Verehrerinnen an. Slawomir Elsner und Gerhard Altenbourg setzten sich beide mit Selbstporträts Rembrandts auseinander und übertrugen sie in die Zeichnung. Das ikonische Selbstporträt des jungen Künstlers aus dem Jahr 1629 im Rijksmuseum strahlt sogar noch unter dem abstrahierenden Zugriff Elsners. Die Vergrößerung briefmarkengroßer Radierungen des Niederländers durch Altenbourg offenbaren die hohe Qualität der barocken Schöpfungen, die an informativer Dichte und zupackender Strichführung zu den herausragenden Werken Rembrandts zählt. Danach kommen Schüler wie Samuel van Hoogstraten und Barent Fabritius zu Wort, die um ihrer Individualität Willen, sich bald nach ihrer Lehrzeit von Rembrandts Strich lösen mussten. Der Italiener Giovanni Benedetto Castiglione ließ sich direkt von Rembrandts weit gereisten Erzeugnissen inspirieren – ein Hinweis auf die große geografische Wirkmacht der Radierungen.
Mit Francisco de Goya fand Rembrandt einen wirkmächtigen Verehrer, während der Spanier an seinen „Capriccios“ arbeitete. Die Rembrandt-Verehrung des 19. Jahrhunderts führte zur Wiederbelebung der Künstler-Radierung. Vor allem in der Künstlerin Käthe Kollwitz fand der Niederländer eine selbstkritische Nachfolgerin, die sich in ihren druckgrafischen Werken deutlich inspirieren ließ. Die Reihe in Dresden führt über Lovis Corinth, Anders Zorn und Max Beckmann zu Arnulf Rainer, A. R. Penck und Horst Janssen.
Saskia van Uylenburgh (1612–1642), Rembrandts Ehefrau, verstarb im Alter von 29 Jahren. Mit 14 Zeichnungen und Radierungen wie auch den beiden in der Dresdner Gemäldegalerie verwahrten Ölgemälden zeigt die Schau, wie viele Rollen Saskia spielte: Künstlergattin, Modell, von Krankheit und Ermattung gezeichnete Mutter. Das berühmte mit feinem Silberstift ausgeführte Verlobungsbildnis vom 3. Juni 1633, „Bildnis Saskias als Braut“ (Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin), leitet die höchst direkten Schilderungen der 21-jährigen Frau ein. Zu den außergewöhnlich privat wirkenden Kompositionen zählt die Dresdner Pinselstudie von „Saskia im Bett“ (um 1635), die durch Leihgaben aus München, Paris und London zu einer Gruppe erweitert wird. Ergänzend hängen die etwa zeitgleich entstandenen Ölgemälde der lachenden Saskia aus der Gemäldegalerie Alte Meister: „Saskia van Uylenburgh als Mädchen“ (1633) und das imposante „Rembrandt und Saskia im Gleichnis vom verlorenen Sohn“ (um 1635). Nur wenig später (1638) verklagte Rembrandt die Verwandten Saskias wegen Ehrbeleidigung, weil diese dem Paar Verschwendung und Prunksucht unterstellt hätten. Rembrandt verlor den Prozess. 1642 starb Saskia und hinterließ ihrem Mann ein folgenschweres Testament und einen einjährigen Sohn.
Rembrandt begann bereits vor seiner Übersiedelung nach Amsterdam zu unterrichten. Heute sind etwa 50 Künstler bekannt, die im Laufe seiner langen Karriere bei Rembrandt ein- und ausgingen, darunter so wichtige Maler wie Samuel van Hoogstraten oder Gerard Dou. Bis heute gibt das Konvolut an erhaltenen Zeichnungen der Rembrandt-Forschung einige Fragen auf hinsichtlich der Zuschreibung und der Funktion der Zeichnungen. Im Sinne Rembrandts war es offensichtlich, direkt nach der Natur und vor Aktmodellen zu arbeiten – vielleicht hatte er von der Akademie der Carracci gehört. Anstelle das antike Schönheitsideal als Lehrmeisterin zu akzeptieren, bediente sich Rembrandt im calvinistisch-strengen Umfeld einer Methode, die leicht als sittlich bedenklich eingestuft wurde.
Die Radierung „Der Zeichner und sein Modell“ (um 1639) zeigt eine ebensolche Ateliersituation, wobei das nackte Modell als „Fama“ gedeutet werden kann. Die Deutung des Blattes changiert zwischen unvollendet, bewusstes non-finito und bedeutungsvolle Leerstelle im Sinne des Disgeno-Gedankens. Mailena Mallach führt im Katalog einen besonders affirmativen Gedanken aus, wenn sie festhält, dass der unvollendete Zustand zeige, „dass die bloße Linie es vermag, allein durch Aussparung und Andeutung die Bilderzählung vorwegzunehmen.“1 Wenn die Linie ein Strich von Rembrandt ist, mag man hier ergänzen, dann steigert sich die Suggestionskraft ins Unermessliche. Dann wird sogar der Darmstädter „Skelettreiter“ (um 1656) auf seinem knöchernen Tier lebendig. Die nachfolgenden beiden Zeichnungen nach männlichen Aktfiguren der Rembrandt-Schule geben mit ihrer Haptik und dem Versuch, das Gesehene festzuschreiben, eine deutliche Folie, vor der der vibrierende Strich Rembrandts und dessen Fähigkeit der Andeutung zweifelsfrei als „kunstvoller“ erscheinen. Akte in der Druckgrafik von Eugène Delacroix (Lithografie) und Edouard Manet (Radierung) beschließen dieses Kapitel. Die als antiakademisch verstandene Bildsprache des Niederländers ließen ihn als Referenz für die Avantgarde erscheinen. Das Etching Revival, die Etablierung von Peintre-graveurs [Maler-Radierer], die Experimentierfreude etwa eines Edgar Degas wäre wohl ohne Rembrandts Leistungen nicht in der Form initiiert worden. Denn erst Rembrandt machte die Malerradierung berühmt!
Wie erarbeitete sich Rembrandt Bildfindung in Zeichnung und Druckgrafik? Wie ähnlich die Medien Zeichnung und Druckgrafik für Rembrandt gewesen sein müssen, verraten seine kleinen gedruckten Skizzen, die keineswegs den Charakter eines authentischen Kunstwerks für sich beanspruchen. Nur partiell ausgeführte Stellen lassen stattdessen den Eindruck des Momenthaften entstehen, des Noch-Nicht-Abgeschlossenen. In diesen Bereich fällt auch die geistige Beweglichkeit des Künstlers, der einige seiner berühmtesten Kompositionen immer wieder einer Revision unterzog und sie ständig veränderte. Der Prozess der Werkgenese wird deutlich nachvollziehbar, während in Rembrandts Malerei diese nicht als darstellungswürdig erachtet wurde. Die künstlerische Druckgrafik etablierte sich offensichtlich im Werk und durch das Werk Rembrandts als Medium, das es erlaubt, dem Künstler während der Arbeit über die Schultern zu schauen.
Allerdings erlaubte sich Rembrandt auch die Druckplatte von Hercules Segers‘ „Tobias und der Engel“ (um 1630–1633) um 1652 radikal zu einer „Flucht nach Ägypten“ zu überarbeiten. Mit seinen eigenen Kompositionen ging er ähnlich radikal um, wenn er ihren Ausdruck verändern wollte. Vermutlich arbeitete Rembrandt direkt auf die Druckplatten, manchmal Zeichnungen nutzend, die aber nie als „Vorlagen“ gewertet werden können. Für „Die drei Kreuze“ (1653) und „Ecce Homo“ (1655, 3 Zustände) scheint er gänzlich ohne Vorzeichnungen ausgekommen zu sein. Die in Dresden versammelte Gruppe rund um das „Hundertguldenblatt“ bildet hier die Ausnahme. Vermutlich war die komplexe Komposition, in der etwa 40 Figuren versammelt sind, die Rembrandt zu diesem Schritt bewog. In ihnen offenbart sich der freie Strich Rembrandts aber auch schon das Arbeiten mit Licht und Schatten mithilfe von Lavierungen.
Unklar ist, wo Rembrandt das Radieren erlernte. Er „erfand“ die Malerradierung, ließ doch beispielsweise Raffael seine Kompositionen von Marcantonio Raimondi stechen. Als Pionier kann man sicherlich noch Albrecht Dürer mit seinen Meisterstichen ergänzen. Stilistisch und ästhetisch unterscheiden sich Dürer und Rembrandt allerdings durch ihre gänzlich anderen Zugänge zur Radierung bzw. dem Kupferstich. Letzterer garantiert eine präzise Linienführung im Druck, während die Radierung vor allem wegen des Ätzvorgangs größere malerische Wirkungen entfaltet und ihr Ergebnis weniger vorhersehbar ist. Rembrandt zählt zu den Meistern der Radierung, weil er die technisch-ästhetischen Möglichkeiten des Verfahrens – vom Plattenton bis zum Auspolieren von Stellen – in noch nie gesehener Weise ausreizte. So behandelte er jeden Abzug unikal, was dem Reproduktionscharakter der Druckgrafik zuwiderlief aber zu einzigartigen Versionen führte. Rembrandts Sammlern muss es größtes Vergnügen bereitet haben, sich auf die Jagd nach den besten und überzeugendsten Abzügen zu machen.
Das Kapitel „Licht und Schatten“ verbindet im Dresdner Kupferstich-Kabinett die faktische Hell-Dunkel-Manier des Niederländers mit dessen Interesse an allen Aspekten des menschlichen Lebens wie körperlichen Vorgängen, Sexualität, Alter. Das sonst schamvoll Versteckte wird durch Rembrandt gleichsam ans Licht geholt. Das Tenebroso der Utrechter Caravaggisten begeisterte ihn für Darstellungen von Gelehrten im Studiolo („Faust“, um 1652) und der Grablegung bei Kerzenschein, oder wenn er den „Heiligen Hieronymus im dunklen Zimmer ('Het Wenteltrapje‘)“ (1642) nahezu verschwinden lässt.
Marlene Dumas‘ „Homage to Rembrandt's Pissing Woman“ (1996), die seit über 40 Jahren in Amsterdam lebt, setzt sich mit einem grundlegenden Bedürfnis des Menschseins auseinander. Das Amsterdamer Museum Het Rembrandthuis hatte 1996 Dumas zur druckgrafischen Auseinandersetzung mit Rembrandts Kunst eingeladen. In Auseinandersetzung mit der Radierung „Die pissende Frau“ entwickelte sie vier Tuschezeichnungen, die die Protagonistin und ihre Notdurft vor weißem Hintergrund isolieren. Zwei Arbeiten aus dieser Serie zeigt das Dresdner Kupferstich-Kabinett die hellerleuchtete Szene. Dieser steht die Nacht in William Kentridges Werken am Ende gegenüber.
Die Sammlung des Dresdner Kupferstich-Kabinetts bildet die Grundlage für die Ausstellung mit besonderem Augenmerk auf Rembrandts erzählerische Kompositionen, seinen radierten Selbstbildnissen und den Studien von seiner Ehefrau Saskia van Uylenburgh. Die Präsentation umfasst dabei rund 100 Werke aus allen Schaffensperioden des niederländischen Barockkünstlers und etwa 50 Radierungen und Zeichnungen von Schülern seiner Werkstatt sowie Werke von späteren Künstlerinnen und Künstlern, die Rembrandt als Autorität und kreative Inspirationsquelle verstanden. Die Schau soll den Blick auf einen der innovativsten und unkonventionellsten Künstler aller Zeiten öffnen – und tut dies auch.
Rembrandts herausragende Rolle als „Künstler von Künstlern“ wird anhand von Werken seiner unmittelbaren Nachfolger vorgestellt, von Meistern des 18. Jahrhunderts bis in die heutige Zeit – von Francisco de Goya und Lovis Corinth über Käthe Kollwitz und Pablo Picasso bis hin zu den Zeitgenossen William Kentridge und Marlene Dumas. Das Werk des niederländischen Barockkünstlers entwickelte eine Strahlkraft, wie es nur wenigen vergönnt ist.
In direkter Auseinandersetzung mit „Rembrandts Strich“ hat sich die in Prag arbeitende Künstlerin Adéla Součková (* 1985) mit dem Kernthema „Selbst“ auseinandergesetzt und im Foyer des Kupferstich-Kabinetts eine raumgreifende Installation geschaffen, die nach der Relevanz Rembrandts in der Gegenwart fragt.
Im Studiolo, das im Renaissanceflügel des Residenzschlosses beheimatet ist, öffnet die Präsentation einer Videoarbeit mit dem Titel „Junks“ der niederländischen Künstler Jeroen de Rijke (1970–2006) und Willem de Rooij (* 1969) den Blick in die Gegenwart. In Gegenüberstellung mit einer Gruppe von Gemälden aus Rembrandts Kreis wird deutlich, dass Fragen über den Habitus und die Individualität bis in die heutige Zeit in Bildern gestellt werden.
Rembrandt van Rijn, Benedetto Castiglione (1609–1664), Jonathan Richardson (1667–1745), Christian W. E. Dietrich (1712–1774), Francisco de Goya (1746–1828), Lovis Corinth (1858–1925), Käthe Kollwitz (1867–1945), Max Beckmann (1884–1950), Pablo Picasso (1881–1973), A.R. Penck (1929–2017), Gerhard Altenbourg (1926–1989) sowie Marlene Dumas (* 1953) und William Kentridge (* 1955).
Die Ausstellung wird von einem vollständig illustrierten wissenschaftlichen Katalog in deutscher und englischer Sprache, publiziert von Paul Holberton Publishing, begleitet.