Ist es Malerei, ist es Skulptur? Kein anderes künstlerisches Medium sprengt die Grenzen des Sehens so sehr wie das Relief. Es ist diese Unbestimmtheit, die es für die berühmtesten Künstlerinnen und Künstler seit jeher so reizvoll macht. Rodin, Matisse, Gauguin, Picasso, Hans Arp oder Yves Klein – sie alle schufen im wahrsten Sinne des Wortes herausragende Kunst: Reliefs. Das Städel Museum präsentiert 2023 eine große Überblicksausstellung über die Möglichkeiten des Reliefs von 1800 bis in die 1960er Jahre: Rund 140 Werke von knapp 100 wegweisenden Künstler:innen des 19. Jahrhunderts, der Klassischen Moderne und der internationalen Nachkriegskunst zeichnen die Entwicklung plastischen Gestaltens nach.
Deutschland | Frankfurt a. M.: Städel Museum
24.5. – 17.9.2023
Aus der Antike ist das Relief vor allem als Schmuck von Architekturen bekannt. In der Renaissance spielte es eine wichtige Rolle im Wettstreit der Maler und Bildhauer, die um die Nachahmung der Wirklichkeit konkurrierten. Als das Relief um 1800 vermehrt Eingang in kunsttheoretische Debatten fand, wurde es als Zwischengattung unter den Künsten bezeichnet. In der Zone zwischen der zweiten und der dritten Dimension blieb es aber eine überwiegend bildhauerische Aufgabe, auch wenn einige Trompe-l’œil-Gemälde auch von malerischer Seite diese Grenze infrage stellen.
Nachweisbar wuchs das künstlerische Interesse, die traditionellen Gattungsgrenzen zu überwinden. Maler schufen Skulpturen, Bildhauer näherten sich der Malerei an. Das Relief wurde dabei zu einem Spielfeld für Experimente mit neuen Formen, Materialien und Techniken. Reliefs wurden jetzt nicht mehr vorrangig aus den klassischen Werkstoffen Stein, Ton, Gips oder Bronze hergestellt. Die Künstlerinnen und Künstler griffen zu Alltagsgegenständen und Fundstücken, um die plastischen Gebilde aus der Fläche hervortreten zu lassen. Ob geklebt oder genagelt, unter Verwendung von Naturschwamm oder einer Schöpfkelle gefertigt – das Relief zeigte völlig neue Erscheinungsformen. Im Zuge der umwälzenden Veränderungen des frühen 20. Jahrhunderts erweiterte sich auch seine gesellschaftliche Bedeutung: Das Relief wurde zum Ort für Utopien und zum Spiegel des Aufbruchs in eine neue Welt.
Das Städel erzählt die Möglichkeiten des Reliefs von 1800 bis in die 1960er Jahre in 13 epochenübergreifenden Kapitel. Die Ausstellung beginnt deshalb mit der eindrücklichen Gegenüberstellung des flach gestalteten Marmor-Epitaphs für Johann-Philipp Bethmann-Hollweg von Bertel Thorvaldsen (1830, Liebieghaus Skulpturensammlung) und dem im Hochrelief gearbeiteten Entwurf für das Denkmal des Rennfahrers Émile Levassor von Jules Dalou (1898–1902, Petit Palais, Musée des Beaux-Arts de la Ville de Paris).
Herausragende Werke von Honoré Daumier, Edgar Degas, Constantin Meunier, Medardo Rosso und Henri Matisse, wie etwa seine lebensgroße Bronze „Rückenakt I“ (1909, Hamburger Kunsthalle → Henri Matisse. Der Plastiker) oder Auguste Rodins „Junge Mutter in der Grotte“ (1885, Musée Rodin, Paris) stehen beispielhaft für eine in der französischen Reliefkunst des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts lebhafte Diskussion. Wie lassen sich Mittel der Malerei auf die Skulptur übertragen – und umgekehrt? Die Werke bilden einen Gegenpol zur klassizistischen Reliefvorstellung, nach der Figur und Grund klar voneinander zu trennen sind. Stattdessen orientieren sich die besagten Künstler vielfach an der lockeren Pinselführung der impressionistischen Malerei und entwickelten auf diese Weise eine moderne Interpretation des Reliefs.
Eines der Hauptwerke der Ausstellung ist das Relief von Paul Gauguin „Seid geheimnisvoll“ (1890, Musée d’Orsay, Paris), das in das Thema Farbigkeit im Relief einführt. Von der klassischen Bemalung über die Verwendung verschiedenfarbiger Materialien bis hin zum gezielten Einfärben der Werkstoffe hatten Künstler mehrere Möglichkeiten, Reliefs farbig zu gestalten. Zu sehen sind u. a. stark kolorierte Arbeiten von Malern wie Arnold Böcklin, Maurice Denis und Ernst Ludwig Kirchner, aber auch von Bildhauern wie Adolf von Hildebrand, Artur Volkmann oder Albert Marque, die sich im Gegensatz dazu eines reduzierten Farbspektrums oder der natürlichen Farbigkeit des gewählten Materials bedienten.
Die bedeutenden Reliefs des Parthenontempels der Athener Akropolis (5. Jh. vor Chr.) dienten zahlreichen Künstler des 19. Jahrhunderts, darunter Johann Gottfried Schadow und Edgar Degas, formal als Vorbild für die Gestaltung eigener Arbeiten. Die Ausstellung präsentiert Werke, in denen sich diese Faszination und die Auseinandersetzung mit der historischen Vorlage bis ins 20. Jahrhundert hinein wie beispielsweise bei Bernhard Hoetger, eindrücklich widerspiegelt. Dabei unterscheidet sich die Art und Weise der Aneignung immens – die Spanne reicht vom getreuen Kopieren über das leicht variierende Anverwandeln bis hin zum freien Zitieren.
Mit seinen Erhebungen und Vertiefungen erinnert das Relief an die Erdoberfläche und die Höhen und Tiefen ihrer Landschaften. Künstler wie Yves Klein mit seinem „Relief éponge bleu [Kleine Nachtmusik]“ (1960, Städel Museum), Max Ernst, Paul Klee oder William Turnbull näherten sich in ihren Arbeiten durch intensive Strukturierung der Oberflächen, den Einsatz von Naturmaterialien wie Sand und Schwämmen oder das Einbeziehen ungewöhnlicher Perspektiven dem Thema der Landschaft. Das Relief wird dabei zu einem Medium für die künstlerische Neuschöpfung von Naturräumen, die zum Eintauchen in verschiedenste Welten – vom Wald bis zum Meeresgrund – einladen.
Am Übergang von der zweiten zur dritten Dimension können Relief-Darstellungen bisweilen die Wahrnehmung auf die Probe stellen. Bereits in der Frühen Neuzeit konkurrierten Maler und Bildhauer im Wettstreit der Künste, dem sogenannten Paragone, um die gelungenere Naturnachahmung und Wiedergabe von Körperlichkeit. Philipp Otto Runges Gemälde „Triumph des Amor“ (1802, Hamburger Kunsthalle) erzeugt mit den Mitteln der Malerei ein scheinbar haptisches Relief.
Ebenso eignen sich täuschend echt gestaltete Stillleben für künstlerische Illusionen verschiedenster Materialien. Zugespitzt spiegelt sich die Auseinandersetzung mit diesen Traditionen in Restaurant Spoerri von Daniel Spoerri (1968, Kunsthalle Mannheim) oder Gerhard Richters „Großer Vorhang“ (1967, Städel Museum → Gerhard Richter: Über Malen / frühe Bilder) – als Bildmotiv war der Vorhang schon in der Antike der Inbegriff für vollkommene Täuschung.
Von der Medaille bis zum Materialbild bietet das Relief vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten, um Gesichter in ihrer Einzigartigkeit festzuhalten. Seit der Antike hat sich für Porträts im Relief vor allem die Profilansicht etabliert. Davon losgelöst nutzten Künstlerinnen und Künstler wie Käthe Kollwitz oder Pablo Picasso die frontal zu betrachtende Hohlform der Maske, um die Wiedergabe von Emotionen zu erproben. Alberto Giacometti und Constantin Brâncuși skizzierten die Gesichter ihrer Skulpturen mittels Ritzungen und Schraffuren, während etwa Eugène Leroy sein Selbstbildnis auf der Fläche der Leinwand aus dicker Farbpaste formte.
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bezogen die Künstlerinnen und Künstler verstärkt den Raum in die Gestaltung ihrer Arbeiten mit ein. Das Relief dehnt sich über die Trägerfläche in alle Richtungen aus: So geben Schnitte und Leerstellen den Blick auf das Dahinter frei und erweitern damit das plane Werk um eine zusätzliche, rückwärtige Ebene. Oder die Konstruktionen ragen so sehr aus der Fläche hervor, dass sie den Raum vor sich umgreifen und in sich einschließen – wie etwa Antoine Pevsners „Dynamische Konstruktion“ (1947, Centre Pompidou, Paris) oder die Werke von Lee Bontecou eindrücklich zeigen.
Vor allem Bontecous monumentale Wandarbeit beeindruckt durch die größtmögliche Öffnung und Erweiterung in den Raum. Daz positionieren die Kurator:innen des Städel ein kleinformatiges Werk Hermann Glöckners, eines erst spät gewürdigten Künstlers der Klassischen Moderne. Indem er in seiner Collage die aufgeklebten Streifen aus Seidenpapier übermalte, band er die plastischen Elemente in die Fläche des Bildträgers ein. Glöckner drängte so das ursprüngliche Relief in eine in sich geschlossene Zweidimensionalität zurück.
Regelmäßig strukturierte Oberflächen, seriell angeordnete Alltagsobjekte und eine überwiegend reduzierte Farbigkeit bis hin zur Monochromie kennzeichnen zahlreiche Werke von Piero Manzoni und Adolf Luther über Peter Roehr bis hin zu Jan Schoonhoven. Die Strukturen ließen sich nahtlos über den Rand der Darstellung hinaus weiterführen und verbinden die Reliefs so mit der Wand. Häufig ist erst auf den zweiten Blick das feine Zusammenspiel von nuancierter räumlicher Beschaffenheit und subtilem Lichtspiel zu entdecken. Gerade in den 1950er und 1960er Jahren wurden die Auswirkungen von reduziertem Farb- und Materialeinsatz – oftmals in Gestalt sich wiederholender Muster und Formen – auf die Wahrnehmung des Betrachters ausgelotet. Die Idee eines „All-over“, also einer flächendeckenden Struktur ohne Hauptmotiv, ist bereits in den 1920er Jahren von Hans Arp in seinem „Eierbrett (1922, Privatsammlung) vorgedacht worden.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zielten Künstlerinnen und Künstler in ganz Europa darauf, mit ihren Werken an der Gestaltung einer neuen Gesellschaft mitzuwirken oder diese kritisch zu hinterfragen. Länderübergreifend lässt sich dabei eine Hinwendung zum Relief beobachten, das sowohl in den Werken der russischen Konstruktivisten Wladimir Tatlin und Iwan Puni als auch der Dadaismus um Hans Arp, Christian Schad und Kurt Schwitters einen wichtigen Stellenwert innehatte. Es überwiegt eine geometrische Formensprache. Vielfach wurde auch mit vorgefundenen Materialien gearbeitet, die zu Objektassemblagen kombiniert wurden. Reliefkunst und Malerei standen dabei in einem fruchtbaren Wechselspiel. So wurden einerseits die Oberflächen der Reliefs farbig bemalt, andererseits fanden sich reliefhafte Strukturen oder eingeklebte Objekte auf den Gemälden wieder.
In der Nachkriegsmoderne erlebte das Relief als Bauaufgabe einen wesentlichen Aufschwung. Die Ausstellung zeigt u. a. Entwürfe monumentaler Wandreliefs von Barbara Hepworth, Henry Moore und Ben Nicholson, die durch ihre Teilnahme an den ersten documenta-Ausstellungen die Kunstszene in der Bundesrepublik Deutschland.
Dass der Rahmen als wesentlicher Bestandteil des Reliefs eine wichtige Rolle spielen kann, verdeutlicht die Ausstellung in den Werken u. a. von Aristide Maillol „Verlangen“ (1907, Collection Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam), von Jenny Wiegmann-Mucchi und Erich Buchholz. Der Rahmen als gestalterische Einfassung und Schutz eines Kunstwerks betont seine Autonomie, da er das Bildfeld nach innen umschließt und nach außen abgrenzt. Indem Künstlerinnen und Künstler das Motivfeld und die Umfassung ihrer Reliefs aus dem gleichen Material fertigen, wird der von Anfang an mitkonzipierte und mitgearbeitete Rahmen dabei ebenso zum essenziellen Teil des Werkes.
Den Schlusspunkt des Rundgangs setzt die Mehransichtigkeit von Reliefs mit vollplastischen Arbeiten, die sich in ihrer Gestaltung dem Relief annähern. Im frühen 20. Jahrhundert entstanden freistehend konzipierte Werke, die Merkmale von Rundplastiken mit einer eigentlich dem Relief vorbehaltenen, flächenbetonten Sicht verknüpfen, wie die „Badende“ von Alexander Archipenko (1915, Städel Museum) zeigt. Der wichtigste Auslöser für diese Entwicklung war der Kubismus – eindrücklich erfahrbar durch herausragende Werke von Pablo Picasso, etwa die „Violine“ (1915, Musée national Picasso-Paris). Der Kubismus brach den Bildraum und die Formen auf und zeigte Gegenstände oder Personen gleichzeitig aus verschiedenen Perspektiven. Der Betrachter ist aufgefordert, seinen Blickwinkel immer wieder zu ändern und die vielfältigen Sinneswahrnehmungen zu einem Gesamteindruck zu vereinen.
Bertel Thorvaldsen, Hermann Blumenthal, Jules Dalou, Christian Daniel Rauch, Philipp Otto Runge, Honoré Daumier, Edgar Degas, Constantin Meunier, Auguste Rodin, Medardo Rosso, Paul Gauguin, Henri Matisse, Pablo Picasso, Bernhard Hoetger, Arnold Böcklin, Maurice Denis, Ernst Ludwig Kirchner, Adolf von Hildebrand, Artur Volkmann, Albert Marque, Alexander Archipenko, Hans Arp, Kurt Schwitters, Käthe Kollwitz, Sophie Taeuber-Arp, Wladimir Tatlin, Iwan Puni, Antoine Pevsner, Max Ernst, Paul Klee, William Turnbull, Yves Klein, Louise Nevelson, Lee Bontecou, Barbara Hepworth, Henry Moore, Ben Nicholson, Aristide Maillol, Jenny Wiegmann-Mucchi, Erich Buchholz, Gerhard Richter, Daniel Spoerri, Piero Manzoni, Adolf Luther, Peter Roehr, Jan Schoonhoven.
Dafür vereint das Städel Museum – in Kooperation mit der Hamburger Kunsthalle – bedeutende Kunstwerke aus europäischen Museen in Frankfurt, etwa aus dem Petit Palais und dem Centre Pompidou in Paris, dem Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam, dem Kunstmuseum Basel oder dem Musée des Beaux-Arts Lyon, sowie selten zu sehende Arbeiten aus Privatsammlungen.
Die Ausstellung entsteht in Kooperation mit der Hamburger Kunsthalle.
Kuratiert von Alexander Eiling (Sammlungsleiter Kunst der Moderne), Eva Mongi-Vollmer (Kuratorin für Sonderprojekte) und Karin Schick (Sammlungsleiterin Klassische Moderne Hamburger Kunsthalle).
Quelle: Städel Museum