Lisa Ortner-Kreil, Kuratorin des Bank Austria Kunstforum, über Man Ray als Fotografen und Filmemacher, sein Gemälde „The Rope Dancer Accompanies Herself With Her Shadows“ aus dem MoMA, sein Hinwegsetzen über Genre-Grenzen und das popkulturelle Man Ray-Zitat.
Das Gespräch für ARTinWORDS führte Alexandra Matzner.
Österreich / Wien: Bank Austria Kunstforum
14.2. – 24.6.2018
ARTinWORDS: Die von dir kuratierte Ausstellung im Bank Austria Kunstforum beginnt mit dem „klassischen“ Man Ray – nämlich mit seinen Fotografien (→ Man Ray – mehr als Fotografie). Für dich ist wichtig, dass die Sammlung der Bank Austria auch Werke von Man Ray besitzt. Du hast dich Man Ray daher zuerst als Fotografen genähert und dann die Spannweite seines Werks entdeckt. Was macht seine Kunst für dich aus?
Lisa Ortner-Kreil: Das größte Verdienst Man Rays für die Fotografie ist, dass er die kameralose Fotografie popularisiert hat. Er hat die Technik jedoch nicht entdeckt; das Fotogramm ist eine ganz alte, historische Fototechnik, mit der William Henry Fox Talbot schon in den 1830er Jahren gearbeitet hatte. Man Ray besinnt sich aber wieder darauf. Das heißt, er platziert in der Dunkelkammer Objekte aus seinem Atelier auf Fotopapier und belichtet das Arrangement. Das rückt die Alltagsgegenstände, die er auf dem Papier konturiert, in ein ganz neues, rätselhaftes Licht.
ARTinWORDS: Würdest du ihn als Dadaisten oder Surrealisten bezeichnen?
Lisa Ortner-Kreil: Weder noch. Er ist eigentlich ein Künstler, der sich nie einer Gruppierung anschloss, er war immer ein Einzelgänger.
ARTinWORDS: Man Ray beginnt in New York als Maler. Du hast für diese Ausstellung im Bank Austria Kunstforum das Gemälde „The Rope Dancer Accompanies Herself With Her Shadows“ als eine der wichtigsten Leihgaben des Museum of Modern Art in New York bekommen. Was muss man tun, um dieses Bild nach Österreich zu holen?
Lisa Ortner-Kreil: „Begging and pleading“. Es war ganz erstaunlich. Das frühe und großformatige Gemälde war eine der ersten Leihgaben, um die ich gebeten habe. Ich war in New York und habe im MoMA vorgesprochen.
ARTinWORDS: Es ist die Ikone im Frühwerk Man Rays, das zeigt, wie intensiv er sich mit der Kunst von Marcel Duchamp auseinandergesetzt hat.
Lisa Ortner-Kreil: Die Kolleginnen und Kollegen im MoMA haben sich dann in einer Sitzung dazu entschlossen, das Werk zu leihen. Das hat dazu geführt, dass wir auch von vielen anderen Institutionen Leihgaben erhalten haben. Nachdem sie gehört hatten, dass das MoMA leiht, haben sie sich auch leihbereit erklärt. „The Rope Dancer Accompanies Herself With Her Shadows“ ist insofern so wichtig, dass Man Ray 1915 Marcel Duchamp kennengelernt hat. Bis 1915 ist das Werk ein Schlingern durch die verschiedenen Kunstgeschichtsstile beziehungsweise europäische Ismen. „Rope Dancer“ entstand 1916 und plötzlich ging seine Kunst in eine sehr eigenwillige Richtung. Damit ist „Rope Dancer“ unbestritten das New Yorker Hauptwerk.
ARTinWORDS: Vor allem, wenn man bedenkt, dass Marcel Duchamp gleichzeitig an dem „Großen Glas“ arbeitet. Es gibt unglaublich tolle Verbindungslinien und Kollaborationen zwischen Man Ray, Marcel Duchamp und Francis Picabia (→ Francis Picabia: Unser Kopf ist rund). Man könnte sie das Dreigestirn des Dadaismus nennen. Wie lässt sich das in der Ausstellung nachvollziehen?
Lisa Ortner-Kreil: Das sieht man, wenn man sich den „Rope Dancer“ genauer ansieht: der Rock der titelgebenden Seiltänzerin wirkt wie aus Glassplittern zusammengesetzt. Das ist vermutlich ein Verweis auf Marcel Duchamp, der schon 1915 angefangen hat an seinem „Großen Glas“ zu arbeiten. Auch der Bildtitel wird von Man Ray in den „Rope Dancer“ integriert. Das ist etwas, das auch Duchamp bei seinen Gemälden oft gemacht hat, beispielsweise bei „Akt, einer Treppe herabsteigend Nr. 2.“ Marcel Duchamp und Man Ray haben sich gegenseitig wie bei einem Tennismatch den Ball zugespielt und ihre Kunst so weiter vorangetrieben – angeblich haben die beiden bei ihrer ersten Begegnung in der Künstlerkolonie Ridgefield wirklich Tennis gespielt.
ARTinWORDS: Diese enge Zusammenarbeit führte schlussendlich zu den fotografischen Dokumenten und Neuinterpretationen Man Rays.
Lisa Ortner-Kreil: Man Ray hat viele Ideen Duchamps, die performativer Natur waren, fotografiert. Als Dokumentarist hat er uns heute viele dieser unglaublich originellen Duchamp-Ideen auf Basis der Fotografie erhalten.
ARTinWORDS: Die Technik, in der Man Ray seine Experimentierfreude dann weitertreibt, ist der Film: Seine Filmexperimente, die man mit dem performativen Aspekt verbinden kann, dürften wohl zum Teil auch spontan entstanden sein. Das direkt belichtete Filmmaterial spielt dabei anfangs eine große Rolle. Ihr habt ein riesiges, fast surrealistisches Theater in das Bank Austria Kunstforum hineingebaut und spielt die Filme wie im Kino ab. Welche Auswahl habt ihr getroffen?
Lisa Ortner-Kreil: Es gibt von Man Ray nur vier Kurzfilme, die wir alle zeigen. Der erste Film heißt „Le Retour à la raison“ von 1923. Es gibt auch noch weitere filmische Dokumente von Man Ray, aber eigentlich nur diese vier deklarierten Kunstfilme – und die zeigen wir alle im Loop.
ARTinWORDS: Es ist erstaunlich, was in den 1920er Jahren schon alles möglich war, zumindest zu denken – auch wenn es zunächst weder ökonomisch noch künstlerisch angenommen worden ist.
Lisa Ortner-Kreil: Das stimmt. Ich finde es auch insofern bemerkenswert, gerade weil wir hier in Wien sind. Wenn man sich einen Film der 1970er-Jahre ansieht, nimmt Man Ray schon einiges vorweg, indem er direkt mit dem Filmmaterial arbeitet. Für „Le Retour à la raison“ gibt er zu Papier, dass er das Filmmaterial gesalzen und gepfeffert hat wie ein Koch. Das ist etwas, das im „expanded cinema“ in den 1970er Jahren ein großes Thema ist. Das beweist die Originalität und das medienreflexive Arbeiten von Man Ray.
ARTinWORDS: Was mich immer wieder überrascht ist, dass die Surrealisten in den 1930er Jahren höchst erfolgreich sind. Vor allem auch in der Modebranche werden sie rezipiert, und Man Ray wird einer der führenden Modefotografen. Wie interpretiert er die Modefotografie in den 1930er Jahren?
Lisa Ortner-Kreil: Man Ray hat in seinen Modefotografien sehr künstlerisch gearbeitet. Er hat oft auch Objekte oder Kunstgegenstände in die Fotografie integriert. Die Posen der Models sind natürlich anders als die, welche wir heute aus der Modefotografie kennen. Es war aber sicher auch Man Rays Gespür für den Bildaufbau, der ganz wichtig war. In den 1930er-Jahren sind die Modezeitschriften noch am Reißbrett entstanden. Er hat wiederholt mit dem legendären Art Director von Harper’s Bazaar, Alexei Brodowitsch zusammengearbeitet. Sie haben gemeinsam die Modestrecken designt. Man Ray hat fotografiert, aber er hat auch die Doppelseiten der Hefte mitgestaltet. Außerdem hat er für Vanity Fair und Vogue gearbeitet. Immer wieder waren seine Bilder am Cover abgedruckt. Einige Beispiele zeigen wir auch in der Ausstellung.
ARTinWORDS: Eine weitere wichtige Persönlichkeit in Leben und Werk von Man Ray ist Lee Miller, für die kurze Zeit von 1929 bis 1932. Für mich stellt sich das so dar, dass Man Ray ein Künstler ist, der immer wieder diese Gegenspielerinnen oder Mitspieler braucht, um wirklich kreativ etwas zu bewegen.
Lisa Ortner-Kreil: Das hat sicher etwas Wahres.
ARTinWORDS: Nach dem 2. Weltkrieg fehlt ihm das offenbar. Er beginnt seine Objekte aus den 1920er, 1930er Jahren in Editionen aufzulegen.
Lisa Ortner-Kreil: Ja. Die Phase mit Lee Miller ist zwar relativ kurz, aber sehr produktiv und körperlich. Es gibt aus dieser Zeit das Werk „Objet à detruire“, ein Metronom, das Man Ray nach dem Verlassenwerden von Lee Miller mit dem Foto ihres Auges versehen hat. Er hat ihr auch einen Abzug dieses Fotos geschickt, das wir in der Ausstellung auch zeigen. Auf der Rückseite hat er notiert: „I am always in reserve“. Er lässt dabei offen, ob sie das Auge für das Metronom in Reserve hat, oder ist er als Mann für sie stets in Reserve?
ARTinWORDS: Die Flucht war für ihn als amerikanischer Staatsbürger eigentlich ein Nachhauskommen – sollte man meinen. Stattdessen fühlt er sich fremd in New York und zieht nach Los Angeles.
Lisa Ortner-Kreil: Genau. Man weiß, dass das Spiel im Surrealismus wichtig ist. Das Hin und Her ist sicher ein wichtiger Grund für die gute Freundschaft mit Duchamp und dieser unglaublich produktiven Phase mit Lee Miller. Es ist natürlich auch so, dass er durch die Ortswechsel seine Werke zurücklassen musste und wieder eine Art Reprise von seinen eigenen Arbeiten macht. Er greift wiederholt Motive auf und variiert diese, aber eigentlich – und das ist auch der Grund, warum die Ausstellung das Spätwerk nicht mehr so zentral beleuchtet – ist es ab Hollywood schon ein „Sampling“ seiner selbst. Es kam nicht mehr so viel Neues.
ARTinWORDS: Der Endpunkt der Schau ist der popkulturellen Rezeption von Man Rays Werken gewidmet: von der Mode bis hin zur Kosmetikindustrie. Was würdest du meinen, ist künstlerisch von Man Ray noch immer interessant? Mir fallen zu den Filmexperimenten Man Rays etwa Brion Gysin und William S. Burroughs in den 1970er Jahren ein (→ Die Kunst des William S. Burroughs). Kannst du noch aus deiner Erfahrung heraus noch etwas ergänzen?
Lisa Ortner-Kreil: Man Ray ist für viele Künstlerinnen und Künstler ein Vorbild. Er ist nicht kopflastig, was „artists’ artist“ oft an sich haben, aber zum Beispiel Sherrie Levine hat gesagt, dass Duchamp sie schon fasziniert hat, aber noch mehr fasziniert ist sie von Man Ray. Sie hat eine Arbeit gemacht, wo sie riesige Billard-Tische in den Ausstellungsraum gestellt hat in Antwort auf La Fortune aus dem Whitney Museum – das wir auch in der Ausstellung zeigen. Im Ausstellungskatalog gibt es drei Statements von Künstlern: Hans Kupelwieser, James Welling und Bruce Nauman, die sich über die Bedeutung von Man Ray für ihr eigenes Arbeiten äußern. Alle drei Künstler sagen unisono, dass er sich über Genre-Grenzen hinwegsetzt und den Stilpluralismus, der in der Postmoderne „anything goes anywhere“ ist, vorbereitet hat. Insofern kann man schon sagen, dass er ein „artists’ artist“ ist.